ECLI:DE:BFH:2021:U.270721.VR27.20.0
BFH V. Senat
AO § 37 Abs 2, AO § 169 Abs 1, AO § 169 Abs 2 S 1 Nr 2, AO § 171 Abs 10, AO § 171 Abs 14, AO § 175, UStG § 13b, UStG § 27 Abs 19 S 1, UStG VZ 2009 , UStG VZ 2010 , UStG VZ 2011 , UStG VZ 2012 , AO § 47
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 22. Juli 2020, Az: 12 K 2945/19
Leitsätze
NV: In den sog. Bauträgerfällen (§ 27 Abs. 19 Satz 1 UStG) führt der Erstattungsanspruch des Leistungsempfängers (Bauträger) nicht zu einer Ablaufhemmung für die Steuerfestsetzung des Bauleistenden nach § 171 Abs. 14 AO, wenn im Zeitpunkt der Festsetzung des Erstattungsanspruchs gegenüber dem Leistungsempfänger (Bauträger) bereits Festsetzungsverjährung beim Leistenden eingetreten war (Parallelentscheidung zum BFH-Urteil vom 27.07.2021 - V R 3/20, BFHE 273, 398).
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 23.07.2020 - 12 K 2945/19 und die Umsatzsteuer-Änderungsbescheide 2009 bis 2012 vom 25.10.2019 aufgehoben.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Umsatzsteuer-Änderungsbescheide 2009 bis 2012 (Streitjahre) vom 25.10.2019 erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist erlassen wurden.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine juristische Person in der Rechtsform einer GmbH. In den Streitjahren führte sie Bauleistungen an ein Bauträgerunternehmen (Z-GmbH) aus. Die Vertragsparteien behandelten die Umsätze nach der damaligen Rechtsauffassung der Finanzverwaltung (§ 13b Abs. 2 Nr. 4 des Umsatzsteuergesetzes ‑‑UStG‑‑ in der in den Streitjahren geltenden Fassung ‑‑a.F.‑‑) mit der Folge, dass die Klägerin ihre Bauleistungen ohne Umsatzsteuer abrechnete und die Z-GmbH die Umsatzsteuer als Leistungsempfängerin anmeldete und an das zuständige Finanzamt abführte. Diese Umsätze aus den Bauleistungen waren daher in den Umsatzsteuer-Jahreserklärungen der Klägerin vom 16.08.2010 (2009), vom 24.08.2011 (2010), vom 22.10.2012 (2011) und vom 05.09.2013 (2012) nicht enthalten.
Nach einer Außenprüfung bei der Klägerin ging der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) davon aus, dass die Klägerin nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22.08.2013 - V R 37/10 (BFHE 243, 20, BStBl II 2014, 128) Steuerschuldnerin der ausgeführten Bauleistungen sei. Da die Leistungsempfängerin die Erstattung der entrichteten Umsatzsteuer beantragt habe, wurde die Klägerin gebeten, bis zum 10.10.2019 berichtigte Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre einzureichen.
Mit Schreiben vom 11.10.2019 teilte das FA der Klägerin mit, dass das ‑‑sich aus dem Antrag der Z-GmbH vom 13.12.2013 ergebende‑‑ Guthaben im Januar 2019 erstattet worden sei (Bescheide vom 10.01.2019).
Nachdem die Klägerin die Forderung des FA unter Hinweis auf eine bereits eingetretene Festsetzungsverjährung zurückgewiesen hatte, änderte das FA am 25.10.2019 gemäß § 27 Abs. 19 Satz 1 UStG entsprechend den Ausführungen im Prüfungsbericht die Umsatzsteuerfestsetzungen der Streitjahre nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO).
Die Klägerin legte gegen die geänderten Umsatzsteuerbescheide Einspruch ein und bat um Mitteilung, ob das FA einer Sprungklage zustimme. Anschließend sandte es dem FA die Sprungklage mit der Bitte, diese zusammen mit der Zustimmung an das Finanzgericht (FG) weiterzuleiten. Das FA übersandte die Klageschrift an das FG und erklärte seine Zustimmung zur Sprungklage.
Das FG wies die Sprungklage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 698 veröffentlichten Urteil ab. In den sog. Bauträgerfällen führe der Steuererstattungsanspruch des Bauträgers (Leistungsempfänger) zur Hemmung der Festsetzungsverjährung beim leistenden Unternehmer nach § 171 Abs. 14 AO. Trotz fehlender Personenidentität bestehe ein Zusammenhang im Sinne dieser Norm zwischen dem Erstattungsanspruch des Bauträgers und der Umsatzsteuerfestsetzung beim Bauleistenden. Voraussetzung des § 171 Abs. 14 AO sei zwar darüber hinaus, dass der Erstattungsanspruch vor Ablauf der ungehemmten Festsetzungsfrist entstanden ist. Dies sei hier der Fall, weil der Erstattungsanspruch bereits mit Zahlung der Umsatzsteuer der Z-GmbH als vermeintliche Steuerschuldnerin an das für sie zuständige FA entstanden sei.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts und bringt im Wesentlichen vor, das FG habe § 171 Abs. 14 AO zu Unrecht angewandt. Aus der Gesetzgebungsgeschichte und dem Zweck der Norm ergebe sich, dass die Voraussetzungen des § 171 Abs. 14 AO im Streitfall nicht vorlägen. Eine Anwendung dieser Norm auf alle Fälle, in denen ein Erstattungsanspruch und eine Steuerfestsetzung "in irgendeiner Beziehung" stünden, führe zur Verfassungswidrigkeit. In den von der Rechtsprechung bislang entschiedenen Fällen sei die nachgeholte Festsetzung immer gegenüber dem Steuersubjekt erfolgt, dem der Erstattungsanspruch selbst unmittelbar zugestanden habe. Wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen einem Erstattungsanspruch und einer Steuerfestsetzung bereits dann bejaht werde, wenn beide mindestens einen identischen Umsatz beträfen, sei dies weder mit dem Gesetzeswortlaut noch der Systematik des Steuerrechts vereinbar. Vielmehr handele es sich um den Versuch, § 171 Abs. 14 AO zu einer "Geheimwaffe für mangelhaftes Verwaltungshandeln" umzudeuten (Hinweis auf Haumann, Deutsches Steuerrecht 2019, 1849).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des FG vom 23.07.2020 - 12 K 2945/19 hinsichtlich der Feststellungen zur Umsatzsteuer aufzuheben,
hilfsweise,
den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Das FA schließt sich der Auffassung des FG vollumfänglich an. Für die Entstehung des Erstattungsanspruchs komme es nicht darauf an, ob der Anspruch festgesetzt worden sei oder nicht. Er entstehe vielmehr auch dann mit der Zahlung der nicht geschuldeten Steuer, wenn diese durch Bescheid falsch festgesetzt und der Bescheid noch nicht geändert worden sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat unter Verstoß gegen § 171 Abs. 14 AO entschieden, dass der Steuererstattungsanspruch der Leistungsempfängerin zur Hemmung der Festsetzungsverjährung bei der Klägerin führte. Eine Befugnis des FA zur Änderung der streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheide ergibt sich auch nicht aus anderen Rechtsnormen.
1. Eine Steuerfestsetzung sowie ihre Änderung sind nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO). Zutreffend hat das FG entschieden, dass bei Erlass der streitgegenständlichen Umsatzsteuer-Änderungsbescheide die reguläre Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war.
a) Die Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO vier Jahre und beginnt gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Steuerpflichtige seine Jahressteuererklärung beim FA eingereicht hat.
b) Nach den Feststellungen des FG hat die Klägerin ihre Umsatzsteuer-Jahreserklärungen am 16.08.2010 (2009), 24.08.2011 (2010), 22.10.2012 (2011) und am 05.09.2013 (2012) beim FA eingereicht. Die regulären Festsetzungsfristen endeten damit bereits mit Ablauf des 31.12.2014 (Umsatzsteuer 2009) bis 31.12.2017 (Umsatzsteuer 2012).
2. Die Voraussetzungen für eine Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 14 AO, wonach die Festsetzungsfrist für einen Steueranspruch nicht endet, soweit ein damit zusammenhängender Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO noch nicht verjährt ist (§ 228 AO), liegen nicht vor.
a) § 171 AO hemmt nur den Ablauf einer offenen Festsetzungsfrist, kann diese aber nach einmal eingetretener Festsetzungsverjährung nicht erneut anlaufen lassen. Denn nach § 47 AO erlöschen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis insbesondere durch Verjährung (§§ 169 bis 171, §§ 228 bis 232 AO). Das Erlöschen ist endgültig, sodass ein erloschener Anspruch nicht wieder aufleben kann. Ereignisse, die eine Hemmung der Verjährung bewirken könnten, gehen daher nach Eintritt der Festsetzungsverjährung ins Leere. Die verjährungshemmenden Tatbestände des § 171 AO schieben den Eintritt der Verjährung über den regulären Zeitpunkt hinaus (BFH-Beschluss vom 14.09.2007 - VIII B 20/07, BFH/NV 2008, 25), eröffnen aber nicht eine einmal abgelaufene Festsetzungsfrist erneut (Drüen in Tipke/Kruse, § 171 AO Rz 1). Die Vorschrift enthält somit keine Rechtsgrundlage für ein erneutes Anlaufen der Festsetzungsfrist (BFH-Urteil vom 25.11.2020 - II R 3/18, BFHE 272, 1, Rz 37).
Auch bei Anwendung von § 171 Abs. 14 AO kommt es somit, neben dem Vorliegen eines mit dem Steueranspruch "zusammenhängenden Erstattungsanspruchs" darauf an, dass dieser Erstattungsanspruch bereits vor Ablauf der Festsetzungsfrist entstanden ist (BFH-Urteil vom 04.08.2020 - VIII R 39/18, BFHE 270, 81, Rz 23, mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung ‑‑BTDrucks 10/1636, S. 44‑‑ sowie im Anschluss hieran auch BFH-Urteil in BFHE 272, 1, Leitsatz 2, Rz 37; vgl. auch FG Schleswig-Holstein vom 03.08.2000 - V 788/98, EFG 2001, 56, sowie FG Köln vom 02.04.2009 - 15 K 2546/07, EFG 2009, 1430).
b) Der Erstattungsanspruch i.S. des § 37 Abs. 2 AO setzt u.a. voraus, dass eine Steuer oder steuerliche Nebenleistung ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist oder der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt. Für die Frage, ob ein Rechtsgrund für eine Steuerzahlung besteht, ist § 171 Abs. 14 AO nach der Rechtsprechung des VIII. und des II. Senates des BFH nicht im Sinne der sog. materiellen Rechtsgrundtheorie, sondern der formellen Rechtsgrundtheorie auszulegen. Maßgeblich ist demnach, dass es für die Zahlung des Steuerpflichtigen an einem formalen Rechtsgrund in Gestalt eines wirksamen Steuerbescheids fehlt (BFH-Urteil in BFHE 270, 81 sowie im Anschluss BFH-Urteil in BFHE 272, 1, Rz 38, m.w.N.). Der BFH hat hierfür insbesondere die Gesetzesbegründung (BTDrucks 10/1636, S. 44) angeführt, nach der gerade eine Zahlung, die zwar einem materiellen Steueranspruch entspricht, jedoch auf einen unwirksam bekanntgegebenen Steuerbescheid erfolgt ist, als rechtsgrundlose Zahlung angesehen wurde. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
c) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG rechtsfehlerhaft entschieden, dass die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 14 AO gehemmt war. Der Umsatzsteuer-Erstattungsanspruch der Z-GmbH als Leistungsempfängerin entstand nicht ‑‑wie das FG entschieden hat‑‑ bereits zum Zeitpunkt der Umsatzsteuerzahlung an das FA, sondern nach Maßgabe der formellen Rechtsgrundtheorie erst mit Festsetzung des entsprechenden Erstattungsanspruchs durch die Steuerbescheide vom 10.01.2019.
aa) Ausweislich des Tatbestandes des FG-Urteils beantragte die Leistungs-empfängerin (Z-GmbH) zwar bereits mit Schreiben vom 13.12.2013 die Erstattung der seinerzeit als Steuerschuldnerin zu Unrecht gezahlten Umsatzsteuer. Diese Erstattung erfolgte aber erst nach der Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen vom 10.01.2019 im Januar 2019. Da der Umsatzsteuer-Erstattungsanspruch der Leistungsempfängerin unter Berücksichtigung der im Rahmen des § 171 Abs. 14 AO maßgebenden formellen Rechtsgrundtheorie somit erst am 10.01.2019 entstand, ist eine Hemmung der Verjährung gemäß § 171 Abs. 14 AO ausgeschlossen. Denn zu diesem Zeitpunkt war die reguläre Festsetzungsverjährung ‑‑spätestens mit Ablauf des 31.12.2017 für die Umsatzsteuer 2012‑‑ schon eingetreten.
bb) Im Hinblick darauf, dass eine Hemmung der Verjährung bereits daran scheitert, dass der Erstattungsanspruch der Leistungsempfängerin erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist bei der Klägerin entstanden ist, kann der Senat offen lassen, ob für die Anwendung des § 171 Abs. 14 AO auch eine personelle Identität zwischen dem Steuersubjekt, dem der Erstattungsanspruch zusteht und demjenigen, gegen den sich der nach § 171 Abs. 14 AO festzusetzende Steueranspruch richtet, erforderlich ist oder ob insoweit bereits ein "sachlicher Zusammenhang" genügt (Drüen in Tipke/Kruse, § 171 AO Rz 105; Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 242a; Paetsch in Gosch, AO § 171 Rz 194).
3. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen und seine Entscheidung deshalb aufzuheben. Die Sache ist im Sinne einer Klagestattgabe spruchreif, da sich eine Änderungsbefugnis des FA auch nicht aus anderen Rechtsnormen ergibt. § 27 Abs. 19 UStG beinhaltet keine Ablaufhemmung für die Umsatzsteuerfestsetzung gegenüber dem leistenden Unternehmer und die Rechtsprechung des BFH zur (fehlenden) Steuerschuldnerschaft von Bauträgern als Leistungsempfänger von Bauleistungen stellt kein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar (BFH-Beschluss vom 08.10.2019 - V R 15/18, BFHE 266, 28, Rz 29; FG Berlin-Brandenburg vom 28.03.2018 - 7 K 7243/16, EFG 2018, 989), das die Änderung eines Steuerbescheids rechtfertigt. Die Änderung der Steuerfestsetzung gegenüber der Leistungsempfängerin (Z-GmbH) ist wegen fehlender Bindungswirkung auch kein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO) für die Änderung der Steuerfestsetzung gegenüber der Klägerin nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.