ECLI:DE:BFH:2021:U.020921.VIR25.19.0
BFH VI. Senat
EStG § 9 Abs 4, EStG § 9 Abs 4a, EStG VZ 2016
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 22. Mai 2019, Az: 4 K 4259/17
Leitsätze
NV: Der Betriebshof ist keine erste Tätigkeitsstätte eines Müllwerkers, wenn er dort lediglich die Ansage der Tourenleitung abhört, das Tourenbuch, Fahrzeugpapiere und -schlüssel abholt sowie die Fahrzeugbeleuchtung kontrolliert.
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 23.05.2019 - 4 K 4259/17 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Der in X wohnende Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezog im Streitjahr (2016) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er ist seit dem 01.12.2015 als Müllwerker (sog. Läufer) für die X-Betriebe (XB) tätig und seit diesem Zeitpunkt im Betriebshof der XB in der Y-straße in X eingesetzt.
Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) gestaltete sich der Beginn eines Arbeitstags des Klägers im Streitjahr wie folgt: Der Kläger kleidete sich morgens auf dem Betriebshof der XB in der Y-straße zunächst um und hörte sich die Ansage der Einsatzleitung an. Danach ging er in den sog. Tourenraum und holte das Tourenbuch, die Fahrzeugpapiere und die Fahrzeugschlüssel ab. Anschließend ging der Kläger zum Fahrzeug und kontrollierte mit zwei anderen Kollegen die Beleuchtung des Müllfahrzeugs. Der Fahrer saß dabei zumeist im Fahrzeug und betätigte die Blinker, während der Kläger bzw. sein Kollege schauten, ob diese funktionierten. Außerdem gingen sie um das Fahrzeug herum und kontrollierten die Beleuchtung.
Nach den Angaben des Klägers hatte sein Arbeitstag folgenden Zeitablauf:
Abfahrt von der Wohnung
05:00 Uhr
Ankunft Betriebshof - Umkleiden, Fahrzeugkontrolle
05:30 Uhr
Abfahrt vom Betriebshof
06:15 Uhr
Rückkehr zum Betriebshof
14:00 Uhr
Abfahrt zur Wohnung
14:30 Uhr
Ankunft in der Wohnung
15:00 Uhr
In seiner für das Streitjahr eingereichten Einkommensteuererklärung machte der Kläger als Werbungskosten u.a. Pauschbeträge für Verpflegungsmehraufwendungen aufgrund einer Abwesenheit von mehr als acht Stunden an 225 Tagen in Höhe von insgesamt 2.700 € geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) vertrat insoweit die Auffassung, dass keine beruflich veranlasste Auswärtstätigkeit von mindestens acht Stunden täglich gegeben sei, und erließ dementsprechend den Einkommensteuerbescheid ohne Ansatz der geltend gemachten Verpflegungsmehraufwendungen.
Den Einspruch des Klägers wies das FA als unbegründet zurück. Das FG wies die hiergegen erhobene Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2019, 1442 veröffentlichten Gründen ab.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG Berlin-Brandenburg vom 23.05.2019 - 4 K 4259/17 sowie die Einspruchsentscheidung vom 16.08.2017 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 11.04.2017 dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit Verpflegungsmehraufwendungen in Höhe von 2.700 € als Werbungskosten anerkannt werden.Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Das Bundesministerium der Finanzen ist dem Rechtsstreit beigetreten. Einen Antrag hat es nicht gestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die tatsächlichen Feststellungen des FG tragen nicht die Schlussfolgerung, dass der Kläger am Betriebshof in der Y-straße seine erste Tätigkeitsstätte hatte. Zudem fehlt es an ausreichenden Feststellungen zur Dauer der Abwesenheit des Klägers von der Wohnung bzw. der ersten Tätigkeitstätte.
1. Wird der Arbeitnehmer außerhalb seiner Wohnung und ersten Tätigkeitsstätte beruflich tätig (auswärtige berufliche Tätigkeit), ist gemäß § 9 Abs. 4a Sätze 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zur Abgeltung der ihm tatsächlich entstandenen, beruflich veranlassten Mehraufwendungen eine Verpflegungspauschale nach Maßgabe des Satzes 3 anzusetzen.
2. Erste Tätigkeitsstätte ist nach der Legaldefinition in § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG die ortsfeste betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, eines verbundenen Unternehmens (§ 15 des Aktiengesetzes) oder eines vom Arbeitgeber bestimmten Dritten, der der Arbeitnehmer dauerhaft zugeordnet ist. Der durch das Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts vom 20.02.2013 (BGBl I 2013, 285) neu eingeführte und in § 9 Abs. 4 Satz 1 EStG definierte Begriff der "ersten Tätigkeitsstätte" tritt an die Stelle des bisherigen unbestimmten Rechtsbegriffs der "regelmäßigen Arbeitsstätte" (Senatsurteil vom 04.04.2019 - VI R 27/17, BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536 - ausführlich zu den entsprechenden Voraussetzungen in Rz 13 ff.).
Ist der Arbeitnehmer einer bestimmten Tätigkeitsstätte arbeitsrechtlich zugeordnet, kommt es aufgrund des Direktionsrechts des Arbeitgebers für das Auffinden der ersten Tätigkeitsstätte auf den qualitativen Schwerpunkt der Tätigkeit, die der Arbeitnehmer dort ausübt oder ausüben soll, entgegen der bis 2013 geltenden Rechtslage nicht mehr an (Senatsurteil in BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536, Rz 18).
Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass der Arbeitnehmer am Ort der ersten Tätigkeitsstätte zumindest in geringem Umfang Tätigkeiten zu erbringen hat, die er arbeitsvertraglich oder dienstrechtlich schuldet und die zu dem von ihm ausgeübten Berufsbild gehören. Nur dann kann die "erste Tätigkeitsstätte" als Anknüpfungspunkt für den Ansatz von Wegekosten nach Maßgabe der Entfernungspauschale und als Abgrenzungsmerkmal gegenüber einer auswärtigen beruflichen Tätigkeit dienen. Dies folgt nach Auffassung des erkennenden Senats insbesondere aus § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG, der zumindest für den Regelfall davon ausgeht, dass der Arbeitnehmer an diesem Ort auch tätig werden soll. Darüber hinaus ist das Erfordernis einer arbeitsvertraglich oder dienstrechtlich geschuldeten Betätigung an diesem Ort nicht zuletzt dem Wortsinn des Tatbestandsmerkmals "erste Tätigkeitsstätte" geschuldet. Denn ein Ort, an dem der Steuerpflichtige nicht tätig wird (oder für den Regelfall nicht tätig werden soll), kann nicht als Tätigkeitsstätte angesehen werden. Schließlich zwingt auch das objektive Nettoprinzip, den Begriff der ersten Tätigkeitsstätte dahingehend auszulegen. Denn anderenfalls bestimmt sich die Steuerlast nicht ‑‑gleichheitsrechtlich geboten‑‑ nach der individuellen Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen, sondern nach dem Belieben seines Arbeitgebers (Senatsurteil in BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536, Rz 19).
3. Nach diesen Maßstäben ist das FG zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger dem Betriebshof in der Y-straße und damit einer ortsfesten betrieblichen Einrichtung seines Arbeitgebers im Streitjahr dauerhaft zugeordnet war. Dies steht zwischen den Beteiligten auch nicht in Streit, so dass der Senat insoweit von weiteren Ausführungen absieht.
4. Gleichwohl kann die Entscheidung des FG keinen Bestand haben. Denn der Senat kann aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz nicht beurteilen, ob der Kläger auf dem Betriebshof in der Y-straße in dem erforderlichen Umfang tätig geworden ist, um den Betriebshof als erste Tätigkeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 4 EStG einzuordnen. Das FG hat insoweit lediglich festgestellt, dass er sich dort umkleidete, sich die Ansage der Einsatzleitung anhörte, das Tourenbuch, die Fahrzeugpapiere und die Fahrzeugschlüssel abholte und danach mit seinen Kollegen die Blinker sowie die Beleuchtung des Müllfahrzeugs kontrollierte. Diese geringfügigen Tätigkeiten allein reichen nicht aus, um den Betriebshof als erste Tätigkeitsstätte anzusehen. Allerdings hat der Kläger angegeben, für die vorbereitenden Tätigkeiten auf dem Betriebshof 45 Minuten (von 05:30 Uhr bis 06:15 Uhr) aufgewandt zu haben. Dieser Zeitaufwand erschließt sich dem Senat aufgrund der Geringfügigkeit der vorgenannten Tätigkeiten nicht, zumal vorgetragen wurde, die Fahrzeugprüfung dauere nur wenige Minuten. Das FG hat bislang auch keine Feststellungen dazu getroffen, welche Tätigkeiten der Kläger nach Rückkehr zum Betriebshof ausgeübt hat, wo er nach seinen Angaben weitere 30 Minuten verbracht hat. Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Im zweiten Rechtsgang hat das FG belastbar festzustellen, welche Tätigkeiten der Kläger in den von ihm angegebenen Zeiträumen auf dem Betriebshof tatsächlich ausgeführt hat und ob er diese arbeitsrechtlich schuldete, sowie zu prüfen, ob sie zum Berufsbild des Klägers gehören.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.