ECLI:DE:BFH:2021:U.180221.IIIR2.20.0
BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 32, EGV 883/2004 Art 68 Abs 1, EGV 883/2004 Art 68 Abs 2 S 3, EGV 883/2004 Art 67, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EStG VZ 2017
vorgehend FG Nürnberg, 18. März 2019, Az: 6 K 508/18
Leitsätze
1. NV: Der Anspruch auf Kindergeld im nachrangigen Staat ist nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt werden.
2. NV: Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.
3. NV: Wird daher in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat für einzelne Kinder keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil die nationalen Rechtsvorschriften keinen Anspruch für das Kind vorsehen, müssen die allein durch den Wohnort einer berechtigten Person ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat lebende Kinder erfüllt werden.
4. NV: Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die im EU-Ausland wohnen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld nicht dem in Deutschland lebenden Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil (vgl. schon Senatsurteil vom 27.07.2017 - III R 17/16, BFH/NV 2018, 201).
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 19.03.2019 - 6 K 508/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, ob die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für das im April 2005 geborene Kind E rechtmäßig ist.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist italienische Staatsangehörige und wohnt zusammen mit E in Italien. Sie ist nicht erwerbstätig und bezieht keine Rente.
Der Kindsvater, ebenfalls italienischer Staatsangehöriger, wohnt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland), ist nicht erwerbstätig und erhält Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
In Italien besteht für E nach den von der Beklagten und Revisionsklägerin (Familienkasse) unwidersprochenen Feststellungen des Finanzgerichts (FG) kein Anspruch auf Familienleistungen.
Mit Bescheid vom 30.12.2014 setzte die Familienkasse zugunsten der Klägerin Kindergeld für E ab Mai 2010 bis April 2023 fest.
Mit Bescheid vom 05.12.2017 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung vom 30.12.2014 für E ab Juli 2017 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf. Zur Begründung gab sie an, dass sich die für den Anspruch auf Kindergeld wesentlichen Verhältnisse geändert hätten. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 b iii der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 ‑‑Grundverordnung‑‑) sei Italien vorrangig für die Gewährung von Familienleistungen zuständig, weil konkurrierende Ansprüche auf Kindergeld nach deutschem Recht und auf italienische Familienleistungen bestünden, die beide durch den Wohnsitz ausgelöst würden und die Kinder in Italien wohnhaft seien. Differenzkindergeld i.S. des Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 sei gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
Gegen den Aufhebungsbescheid vom 05.12.2017 legte die Klägerin Einspruch ein, der mit Einspruchsentscheidung vom 19.03.2018 zurückgewiesen wurde.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG vertrat die Ansicht, dass ein Ausschluss des unstreitig bestehenden inländischen Kindergeldanspruchs nicht von Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 gedeckt sei.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Nürnberg vom 19.03.2019 - 6 K 508/18 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit es das Kind E betrifft.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet. Sie war daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Anspruch auf deutsches Kindergeld nicht durch Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen ist und die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung rechtswidrig war.
1. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
a) Diese Voraussetzungen lagen nach den Feststellungen des FG bei der in Italien lebenden Klägerin zwar nicht vor. Das FG hat aber zu Recht einen inländischen Wohnsitz der Klägerin nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ fingiert.
aa) Im Streitfall ist der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet.
Die Klägerin ist Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist (Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 13).
bb) Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
(1) Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Trapkowski vom 22.10.2015 - C-378/14 (EU:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41) ergibt sich aus der in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Fiktion, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann daher dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Voraussetzung der Wohnsitzfiktion ist daher nach der Rechtsprechung des EuGH, dass der Mitgliedstaat, in dem der Wohnsitz des in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen fingiert wird, für die Erbringung der Familienleistungen zuständig ist. Rechtsfolge der Wohnsitzfiktion ist, dass ein Anspruch, der im für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat begründet wurde, einer Person zustehen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt (vgl. Senatsurteil vom 27.07.2017 - III R 17/16, BFH/NV 2018, 201, Rz 10 ff.).
(2) Dabei ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nach dem EuGH-Urteil Moser vom 18.09.2019 - C-32/18 (EU:C:2019:752, Leitsatz 1 und Rz 45 ff.) dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird (Senatsurteil vom 01.07.2020 - III R 39/18, Rz 14, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2021, 389).
b) Die in Italien lebende Klägerin erfüllt daher die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 62 ff. i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 EStG für ihr in Italien lebendes Kind, da der Kindsvater in Deutschland seinen Wohnsitz hat.
2. Dieser Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld wird nicht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 ‑‑wie vorliegend‑‑ eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (Senatsurteil vom 04.02.2016 - III R 9/15, BFHE 253, 139, BStBl II 2017, 121, Rz 17, m.w.N.).
a) Das FG ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass der Kindsvater gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland unterliegt, da er nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der VO Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der VO Nr. 883/2004) erhalten hat. Die Klägerin unterlag nach den Feststellungen des FG jedenfalls aufgrund ihres Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Italien, da sie im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging. Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat ‑‑wie im Streitfall der Mitgliedstaat Italien‑‑ zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in Deutschland nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der VO Nr. 883/2004 nachrangig.
Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.).
b) Entgegen der Ansicht der Familienkasse bedeutet dies aber nicht, dass der Anspruch im nachrangigen Staat nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 auch dann ausgeschlossen ist, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt sind. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen.
Im Streitfall haben die Klägerin bzw. der Kindsvater nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) jedoch keinen Anspruch auf italienische Familienleistungen.
aa) Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 werden beim Zusammentreffen von Ansprüchen die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 Vorrang haben. Für die Frage, ob ein Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen vorliegt, ist erforderlich, dass die jeweiligen Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats dem Familienangehörigen einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Gewährung entsprechender Familienleistung verleiht. Der Betroffene muss folglich alle in den internen Rechtsvorschriften dieses Staats aufgestellten Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich erfüllen.
bb) Nichts anderes ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 68 Abs. 2 Sätze 1 und 3 der VO Nr. 883/2004.
Nach dem Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 gelten die Prioritätsregeln nur, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten "zu gewähren sind". Auch die Überschrift zu Art. 68 der VO Nr. 883/2004 spricht von "Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen". Entgegen der Ansicht der Familienkasse genügt es dafür nicht, wenn Familienleistungen überhaupt in zwei Mitgliedstaaten vorgesehen sind. "Zu gewähren sind" die Familienleistungen nur dann, wenn der Anspruchsberechtigte die nach den nationalen Vorschriften entsprechenden materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Sind in einem Mitgliedstaat für ein Kind keine Leistungen vorgesehen, weil beispielsweise die Altersgrenze oder bestimmte Einkommensgrenzen überschritten sind, so ist für diese Fallgestaltungen eine Anwendung der Prioritätsregelung nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 generell ausgeschlossen (Helmke/Bauer in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 68 VO Nr. 883/2004 Rz 36 f.). Diese Auslegung wird auch durch Art. 68 Abs. 2 Sätze 2 und 3 der VO Nr. 883/2004 bestätigt. Grundsätzlich ist nach Satz 2 ein Unterschiedsbetrag dann zu zahlen, wenn Ansprüche nach den Rechtsvorschriften beider Mitgliedstaaten bestehen, der Anspruch des vorrangigen Mitgliedstaats aber geringer ist als der des nachrangigen. Die Verpflichtung zur Zahlung eines "derartigen Unterschiedsbetrags" ist nach Satz 3 nur dann ausgeschlossen, für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird. Die Formulierung in Satz 3 "derartiger Unterschiedsbetrag" setzt demnach eine Anspruchskumulierung voraus.
Wird daher in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat für einzelne Kinder keine dem Kindergeld vergleichbare Leistung erbracht, weil die nationalen Rechtsvorschriften keinen Anspruch für das Kind vorsehen, müssen die allein durch den Wohnort einer berechtigten Person ausgelösten Ansprüche auf Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat lebende Kinder erfüllt werden (Helmke/Bauer in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 68 VO Nr. 883/2004 Rz 37).
cc) Zwar mutet das Ergebnis ‑‑worauf die Familienkasse hinweist‑‑ merkwürdig an, wenn Deutschland bei einer nur geringen ausländischen Familienleistung keinen Unterschiedsbetrag leisten muss, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ‑‑wie im Streitfall‑‑ allein durch den Wohnort ausgelöst wird und das Kind in dem anderen Mitgliedstaat wohnt, hingegen der inländische Kindergeldanspruch in voller Höhe zu zahlen ist, wenn im vorrangigen Mitgliedstaat überhaupt kein Anspruch besteht. Das Ergebnis entspricht aber den europarechtlichen Vorgaben.
Vor Inkrafttreten der VO Nr. 883/2004 galt die VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABlEU Nr. L 28, S. 1), die in Art. 73 lediglich einen Export von Familienleistungen für Kinder von Arbeitnehmern und Selbständigen und in Art. 74 für arbeitslose Arbeitnehmer vorsah. In anderen Fällen war der Mitgliedstaat, der einen Anspruch vermittelte, generell nicht zur Zahlung von Familienleistungen für in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Familienangehörige (Kinder) verpflichtet. In der nunmehr geltenden VO Nr. 883/2004 macht Art. 67 den Export von Familienleistungen nicht mehr von diesen Voraussetzungen (Erwerbstätigkeit oder Arbeitslosigkeit) abhängig, sondern regelt, dass jede Person für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Lediglich wenn für das Kind im Wohnsitzstaat ein Anspruch auf eine Familienleistung besteht, soll der (höhere) Anspruch im anderen Mitgliedstaat, der ebenfalls einen Anspruch für dasselbe Kind vermittelt, unter bestimmten Voraussetzungen nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 entfallen. Damit wird grundsätzlich sichergestellt, dass für ein Kind zumindest in einem Land der Anspruch auf Familienleistungen bestehen bleibt, wenn nur ein Mitgliedstaat einen solchen verleiht.
dd) Auch aus dem Erwägungsgrund (35) zur VO Nr. 883/2004 ergibt sich, dass die Prioritätsregelungen geschaffen wurden, um "ungerechtfertigte Doppelleistungen" bei Zusammentreffen von mehreren Ansprüchen zu vermeiden, nicht aber um erworbene Ansprüche ganz auszuschließen, soweit ein solcher nur in einem Mitgliedstaat besteht.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.