ECLI:DE:BFH:2020:B.091220.XIB22.20.0
BFH XI. Senat
UStG § 4 Nr 16, AO § 53, EGRL 112/2006 Art 132 Abs 1 Buchst g, UStG VZ 2015 , AEAO § 53 Nr 4
vorgehend FG Münster, 24. Februar 2020, Az: 15 K 2427/17 U
Leitsätze
NV: Die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 UStG setzt Leistungen an hilfsbedürftige Personen voraus (empfängerbezogene Auslegung).
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25.02.2020 - 15 K 2427/17 U wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betreibt in X ein Unternehmen, das die Erbringung von Haushaltshilfeleistungen zum Gegenstand hat. Mit Bescheid vom 03.04.2013 erkannte die Bezirksregierung Y diese Tätigkeit als "niedrigschwelliges Hilfe- und Betreuungsangebot" nach § 45b Abs. 1 Satz 6 Nr. 4 des Elften Buches Sozialgesetzbuch a.F. unbefristet an. Des Weiteren schloss die Klägerin Verträge über Haushaltshilfeleistungen gemäß §§ 38, 24h und 132 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) mit verschiedenen Verbänden und Einrichtungen ab. Insoweit werden Leistungen für Haushaltshilfen vergütet, wenn wegen einer Krankenhausbehandlung, einer Leistung nach §§ 23 Abs. 2 oder Abs. 4, 24, 37, 40 oder 41 SGB V, einer Schwangerschaft oder Entbindung die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist. Die Klägerin erbrachte darüber hinaus Haushaltshilfeleistungen an Privatpersonen, die unmittelbar nicht unter die Befreiungsvorschrift des § 4 Nr. 16 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) fielen.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) erließ nach einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung am 03.02.2017 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid 2015, in dem die Haushaltshilfeleistungen an Privathaushalte, die unmittelbar nicht unter die Befreiungsvorschrift fielen, der Umsatzsteuer unterworfen wurden. Der dagegen eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 24.07.2017 als unbegründet zurückgewiesen.
Das Finanzgericht (FG) Münster wies die von der Klägerin erhobene Klage mit Urteil vom 25.02.2020 - 15 K 2427/17 U als unbegründet zurück (veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 811).
Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Des Weiteren sei die Revision zur Fortbildung des Rechts zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO).
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Zulassungsgründe liegen jedenfalls nicht vor.
1. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.
a) Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärbar sein (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 13.03.2019 - XI B 97/18, BFH/NV 2019, 711, Rz 3; vom 29.04.2020 - XI B 113/19, BFHE 268, 480, BStBl II 2020, 476, Rz 18). An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es u.a., wenn die Rechtsfrage anhand der gesetzlichen Grundlagen und der bereits vorliegenden Rechtsprechung beantwortet werden kann und keine neuen Gesichtspunkte erkennbar sind, die eine erneute Prüfung und Entscheidung der Rechtsfrage durch den BFH geboten erscheinen lassen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 19.09.2016 - X B 159/15, BFH/NV 2017, 54, Rz 20, m.w.N.; vom 09.02.2017 - II B 38/15, BFH/NV 2017, 617, Rz 13; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 115 FGO Rz 106, m.w.N.). Ebenso fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit dann, wenn die Rechtsfrage offensichtlich so zu beantworten ist, wie es das FG getan hat, die Rechtslage also eindeutig ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21.09.2009 - VI B 31/09, BFHE 226, 329, BStBl II 2011, 382, unter II., m.w.N.; vom 14.04.2011 - X B 104/10, BFH/NV 2011, 1343, unter b).
b) Die von der Klägerin aufgeworfene Rechtsfrage, ob die Tatbestandsmerkmale des § 4 Nr. 16 UStG sowie der Art. 132 ff. der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) zum Zwecke der Einheitlichkeit der Besteuerung anerkannter Einrichtungen einrichtungsbezogen auszulegen oder ‑‑unter Einbeziehung von Einzelnachweisen über die Hilfsbedürftigkeit des jeweiligen Leistungsempfängers‑‑ empfängerbezogen sind, ist nicht klärungsbedürftig (s. zu aa). Des Weiteren ist nicht klärungsbedürftig, nach welchen Maßstäben sich eine etwaig erforderliche Hilfsbedürftigkeit des jeweiligen Leistungsempfängers ergibt (s. zu bb). Die Rechtsfrage, ob im Hinblick auf die Wettbewerbsklausel des Art. 134 Buchst. b MwStSystRL die auf zusätzliche Einnahmenerzielung gerichteten Umsätze überwiegen müssen, um im Wesentlichen zur zusätzlichen Einnahmenerzielung bestimmt zu sein, ist nicht klärbar (zu cc, dd). Die Rechtsfragen lassen sich im Übrigen bereits anhand der gesetzlichen Grundlagen klären und sind offensichtlich so zu beantworten, wie es die Vorinstanz getan hat.
aa) Nach § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG sind die Leistungen der in § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG näher beschriebenen Einrichtungen von der Umsatzsteuer befreit, soweit es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, auf die sich die Anerkennung, der Vertrag oder die Vereinbarung nach Sozialrecht oder die Vergütung jeweils bezieht. Somit muss jeweils der Empfänger der Leistungen eine hilfsbedürftige Person i.S. des § 4 Nr. 16 UStG sein. Dies bestätigen auch die Gesetzesmaterialien. Die Regelung in § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG wurde in das UStG aufgenommen, damit Unternehmer, die ‑‑wie die Klägerin‑‑ neben dem Betreiber einer zugelassenen Einrichtung andere Leistungen in weiteren Bereichen erbringen, auch für diese Bereiche die Voraussetzungen nach § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG erfüllen müssen (vgl. Bericht des Finanzausschusses zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2009, BTDrucks 16/11108, 38). Es ist daher nachzuweisen, dass die Leistungen an hilfsbedürftige Personen erbracht wurden, und zwar für jede betreute oder gepflegte Person (vgl. BTDrucks 16/11108, 38). Aus diesem Grund verweisen die Gesetzesmaterialien in diesem Zusammenhang auch zu Einrichtungen, die ‑‑wie die Klägerin‑‑ u.a. nur mit einem bestimmten Tätigkeitsbereich die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 UStG erfüllen (vgl. § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG), darauf, dass sie mit ihren übrigen Leistungen unter die Kleinunternehmerregelung des § 19 UStG fallen können (vgl. BTDrucks 16/11108, 39). Eines solchen Verweises hätte es nicht bedurft, wenn alle Umsätze der unter § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG fallenden Einrichtung steuerfreie Umsätze wären.
Auch die Literatur und die Finanzverwaltung gehen davon aus, dass für alle Leistungen der Einrichtung i.S. des § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG jeweils die Voraussetzungen der Steuerbefreiung erfüllt sein müssen. Es kommt somit eine Steuerbefreiung für einrichtungsfremde Leistungen nicht in Betracht (vgl. Abschn. 4.16.1 Abs. 8 Beispiel 1 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses in der seit dem 02.01.2019 geltenden Fassung ‑‑s.a. die Klarstellung durch das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 13.12.2017 - III C 3-S 7015/16/10003, 2017/1017217, BStBl I 2017, 1667; s. z.B. auch Wüst in Wäger, UStG, § 4 Nr. 16 Rz 132; Hölzer in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 16 Rz 551 ff.; Janzen in Lippross/Seibel, Basiskommentar Steuerrecht, § 4 Nr. 16 UStG Rz 16; Sterzinger in Birkenfeld/Wäger, Umsatzsteuer-Handbuch, § 4 Nr. 16, Rz 10; Stadie, UStG, 3. Aufl., § 4 Nr. 16 Rz 21; Teufel in Küffner/Zugmaier, Umsatzsteuer, Kommentar, § 4 Nr. 16 Rz 60; Weber in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG, § 4 Nr. 16 Rz 73 i.V.m. Rz 16).
bb) Die damit zusammenhängende Rechtsfrage, welche Voraussetzungen für die Bejahung der Hilfsbedürftigkeit i.S. von § 4 Nr. 16 UStG erfüllt sein müssen, ist offensichtlich so zu beantworten, wie es das FG getan hat. Denn das FG weist in Rz 62 der Urteilsgründe (juris-Nachweis) unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien zutreffend darauf hin, dass sich die Voraussetzungen nach den Einzeltatbeständen des § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG richten und nicht nach Nr. 4 des Anwendungserlasses zur Abgabenordnung zu § 53 AO.
cc) Soweit sich die Klägerin unmittelbar auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL beruft (zu diesem Recht des Steuerpflichtigen s. BFH-Urteile vom 25.04.2013 - V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, Rz 21; vom 18.02.2016 - V R 46/14, BFHE 253, 421, Rz 27; vom 07.12.2016 - XI R 5/15, BFHE 256, 550, Rz 29; vom 28.06.2017 - XI R 23/14, BFHE 258, 517, Rz 36), ist die Rechtsfrage ebenfalls offensichtlich so zu beantworten, wie es die Vorinstanz getan hat. Spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ (Urteil Finanzamt D vom 08.10.2020 - C-657/19, EU:C:2020:811, Rz 36 und 39) ist geklärt, dass die Leistungen dann eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind, wenn die fraglichen Dienstleistungen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit als solche unerlässlich sind. Dies ist der Fall, sofern ihre Belastung mit Mehrwertsteuer zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der genannten Umsätze zu erhöhen. Die Besteuerung der einrichtungsfremden Haushaltshilfeleistungen der Klägerin führen aber nicht zur Erhöhung der Kosten für die originären einrichtungsbezogenen Leistungen i.S. des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL. Das FG weist zu Recht darauf hin, dass die Regelung zur Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL eng auszulegen ist und damit Leistungen, die als solche nicht unerlässlich sind, nicht steuerbefreit sind (EuGH-Urteil Finanzamt D, EU:C:2020:811, Rz 28, m.w.N.). Gleiches gilt zu den Ausführungen der Vorinstanz zu Art. 134 MwStSystRL (s. Rz 82 f. der Urteilsgründe im juris-Nachweis).
dd) Soweit die Klägerin die Rechtsfrage aufwirft, ob die zusätzlichen Einnahmen die nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL erzielten Einnahmen überwiegen müssen, ist die Frage bereits in einem künftigen Revisionsverfahren nicht klärbar, da die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, dass sich die Klägerin schon aus anderen Gründen nicht mit Erfolg auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen kann (zur Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage s. z.B. BFH-Beschluss vom 02.11.2016 - VIII B 7/16, BFH/NV 2017, 290, Rz 7).
2. Da das Erfordernis einer Entscheidung des BFH zur Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO) ein Unterfall des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung ist (vgl. BFH-Beschluss vom 22.07.2014 - XI B 29/14, BFH/NV 2014, 1780, m.w.N.), kommt die Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts aus denselben Gründen nicht in Frage.
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO).
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.