ECLI:DE:BFH:2020:U.090920.IIIR15.20.0
BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst b, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst c, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst d, EStG § 33a, EStG § 62 Abs 1, EStG § 63 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 3, EStG VZ 2018
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 28. Januar 2020, Az: 9 K 182/19
Leitsätze
1. NV: Der krankheitsbedingte Abbruch eines Freiwilligendienstes führt zum Verlust des Kindergeldanspruchs.
2. NV: Die Grundsätze zum Fortbestehen eines Kindergeldanspruchs bei einer Unterbrechung der Berufsausbildung wegen Krankheit sind auf die vorzeitige Beendigung eines Freiwilligendienstes wegen Krankheit nicht entsprechend anwendbar.
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 29.01.2020 - 9 K 182/19 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum Juni 2018 bis Dezember 2018.
Die Tochter (T) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) begann nach dem Abitur im September 2017 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. T leidet seit 2016 an Bulimie und Anorexie. Im Mai 2018 verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Kindes derart, dass es das FSJ zum Ende des Monats kündigte. Ab dem Juli 2018 befand sich T praktisch durchgängig bis Dezember 2018 in stationärer Behandlung in einer Klinik. Ab dem 15.01.2019 war T wieder im Rahmen eines FSJ in einer Behindertenwerkstatt eines anderen Trägers eingesetzt.
Im Hinblick auf das FSJ erhielt der Kläger zunächst Kindergeld ab August 2017. Da die Dauer dieses FSJ bis August 2018 geplant war, hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 31.07.2018 das Kindergeld ab September 2018 auf. Daraufhin teilte der Kläger der Familienkasse mit, dass T krankheitsbedingt das FSJ am 31.05.2018 habe abbrechen müssen. Nach ihrer Genesung sei beabsichtigt, dass T die restlichen drei Monate des FSJ noch ableisten werde. Der Kläger legte eine Bescheinigung der Klinik vom 12.11.2018 vor, nachdem ein Ende der Erkrankung derzeit nicht absehbar war.
Die Familienkasse hob mit Bescheid vom 04.12.2018 die Festsetzung des Kindergeldes für T ab Juni 2018 auf.
Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 09.01.2019). Im anschließenden Klageverfahren trug der Kläger vor, die Kündigung bei der Johanniter-Unfall-Hilfe sei erfolgt, weil T zuvor im Rahmen des FSJ gesetzlich und nach der Kündigung wieder privat versichert gewesen sei, mit der Folge, dass die Wartezeit auf einen Klinikplatz sich verkürzt habe. Eine Fortführung des FSJ bei der Johanniter-Unfall-Hilfe sei nach der Genesung nicht möglich gewesen, da T dort an einer Schule beschäftigt gewesen sei und das Schuljahr im Zeitpunkt der Genesung schon wieder begonnen habe. Die Klage hatte Erfolg. Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) mit Hinweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15.07.2003 - VIII R 47/02 (BFHE 203, 106, BStBl II 2003, 848, Rz 22) aus, dass die Erkrankung eines Kindes während der Ausbildung unschädlich sei. Die Ansicht, dass die Erkrankung eines Kindes während seiner Ausbildung den Kindergeldbezug nicht unterbreche, könne auf den Fall der Erkrankung während des Freiwilligendienstes übertragen werden.
Mit der Revision macht die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑) geltend.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des Hessischen FG vom 29.01.2020 - 9 K 182/19 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
Dem Kläger steht kein Kindergeld für seine Tochter für den Zeitraum Juni 2018 bis Dezember 2018 zu, da T nicht die Voraussetzungen eines kindergeldrechtlichen Berücksichtigungstatbestandes gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG erfüllt.
1. a) Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG besteht Anspruch auf Kindergeld für ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat, wenn es ein im Gesetz genanntes freiwilliges soziales oder ein freiwilliges ökologisches Jahr leistet.
b) Die Tochter des Klägers erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG, da sie im Streitzeitraum Juni 2018 bis Dezember 2018 aufgrund ihrer Erkrankung keinen Freiwilligendienst bei einem anerkannten Träger leistete. Der Freiwilligendienst bei der Johanniter-Unfall-Hilfe wurde zum 31.05.2018 gekündigt und damit beendet. Mangels rechtlicher Bindung zu dem Träger (Johanniter-Unfall-Hilfe) liegt auch keine möglicherweise unschädliche krankheitsbedingte zeitweise Unterbrechung, sondern eine Beendigung des Freiwilligendienstes vor.
2. Es liegt auch kein Berücksichtigungstatbestand nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG vor.
a) Hiernach wird ein Kind berücksichtigt, das sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten oder zwischen einem Ausbildungsabschnitt und der Ableistung eines freiwilligen Dienstes i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG befindet.
b) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG entgegen dem Wortlaut unter besonderen Umständen auch Zeiten zwischen zwei freiwilligen Diensten erfasst werden können, da bei einer Fristüberschreitung ‑‑wie im Streitfall‑‑ die Berücksichtigung vollständig entfällt (Senatsurteil vom 16.04.2015 - III R 54/13, BFHE 249, 507, BStBl II 2016, 25, Rz 16, m.w.N.). Selbst wenn das Kind es nicht zu vertreten hat, dass die Wartezeit mehr als vier Monate beträgt, ist es nicht zu berücksichtigen (BFH-Beschluss vom 02.04.2004 - VIII B 175/03, juris). Die Norm kann bei längeren Übergangszeiten auch nicht analog angewandt werden (Senatsurteil vom 24.05.2012 - III R 59/10, BFH/NV 2012, 1951, m.w.N.; Blümich/Selder, § 32 EStG, Rz 56, m.w.N.).
3. Bei T handelt es sich auch nicht um ein Kind, das eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatz nicht beginnen oder fortsetzen kann (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG).
a) Ein FSJ stellt grundsätzlich keine Berufsausbildung dar (Senatsurteile vom 24.06.2004 - III R 3/03, BFHE 206, 413, BStBl II 2006, 294; vom 07.04.2011 - III R 11/09, BFH/NV 2011, 1325; BFH-Beschluss vom 25.11.2014 - VI B 1/14, BFH/NV 2015, 332). Es dient regelmäßig nicht der Vorbereitung auf einen konkret angestrebten Beruf, sondern der Erlangung sozialer Erfahrungen und der Stärkung des Verantwortungsbewusstseins für das Gemeinwohl (Senatsurteil vom 13.12.2018 - III R 25/18, BFHE 263, 53, BStBl II 2019, 256, Rz 20). Anhaltspunkte dafür, dass im Streitfall die Tätigkeit während des FSJ ausnahmsweise Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen für einen konkret angestrebten Beruf vermitteln sollte, sind weder festgestellt noch vorgetragen.
b) Da die Ableistung eines FSJ keine Berufsausbildung darstellt, ist auch das Warten auf eine Stelle für die Ableistung des freiwilligen Dienstes nicht nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG begünstigt (BFH-Urteil vom 15.07.2003 - VIII R 78/99, BFHE 203, 90, BStBl II 2003, 841).
c) Eine analoge Anwendung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG auf Fälle, in denen ein FSJ aufgrund von Krankheit oder sonstigen Umständen nicht begonnen werden kann, ist nicht möglich.
Die für eine analoge Anwendung erforderliche "planwidrige" Regelungslücke liegt nicht vor. Zur Begründung wird auf die ständige BFH-Rechtsprechung verwiesen (Senatsurteile vom 22.12.2011 - III R 5/07, BFHE 236, 137, BStBl II 2012, 678; vom 09.02.2012 - III R 68/10, BFHE 236, 421, BStBl II 2012, 686; BFH-Urteile vom 24.08.2004 - VIII R 101/03, BFH/NV 2005, 198; vom 16.03.2004 - VIII R 86/02, BFH/NV 2004, 1242; in BFHE 203, 90, BStBl II 2003, 841; vom 15.07.2003 - VIII R 92/01, BFH/NV 2004, 173; vom 15.07.2003 - VIII R 75/00, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 137).
d) Entgegen der Ansicht des FG sind aus diesen Gründen auch die Rechtsgrundsätze des BFH nicht entsprechend anwendbar, der die Unterbrechung der Berufsausbildung wegen Erkrankung oder Beschäftigungsverbot nach dem Mutterschutzgesetz für den Berücksichtigungstatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG als unschädlich angesehen hat (BFH-Urteil in BFHE 203, 106, BStBl II 2003, 848; Senatsurteile vom 20.07.2006 - III R 69/04, BFH/NV 2006, 2067; vom 13.06.2013 - III R 58/12, BFHE 242, 118, BStBl II 2014, 834). Denn dieser Rechtsprechung liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Kind, das einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist, sich aber aus objektiven Gründen zeitweise nicht der Ausbildung unterziehen kann, nicht anders zu behandeln ist als ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG berücksichtigt wird.
Ein dem § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG vergleichbarer Berücksichtigungstatbestand ist für die freiwilligen sozialen Dienste hingegen gesetzlich nicht vorgesehen. Der Gesetzgeber behandelt im Rahmen des Familienlastenausgleichs (§§ 31 f., §§ 62 ff. EStG) die Berufsausbildung bewusst anders als die Freiwilligendienste. Es läge vielmehr eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung vor, wenn ein Kind, das aufgrund einer Erkrankung sein FSJ gar nicht erst beginnen kann, nur bei körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG) Kindergeld erhielte, während ein Kind, bei dem die Erkrankung während des FSJ eintritt und zur Beendigung des Dienstes führt, ohne Weiteres Kindergeld bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres (bzw. Gesundung) erhalten würde (vgl. FG Münster, Urteil vom 09.08.2013 - 14 K 4138/10 Kg, AO, juris, Rz 42).
e) Darüber hinaus ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, das Existenzminimum eines Kindes, das einen Freiwilligendienst leistet, auf einen solchen wartet oder einen solchen aufgrund von Krankheit beenden muss, bei den Eltern durch Kindergeld oder Kinderfreibetrag von der Einkommensteuer freizustellen (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2011, 1325; vom 24.05.2012 - III R 68/11, BFHE 238, 394, BStBl II 2013, 864, Rz 11; Senatsbeschluss vom 18.06.2014 - III B 19/14, BFH/NV 2014, 1541). Der im Einzelfall bestehenden Unterhaltspflicht wegen mangelnder tatsächlicher Erwerbsmöglichkeiten des Kindes aufgrund von Krankheit wird durch die Steuerentlastung nach § 33a EStG ausreichend Rechnung getragen (vgl. Senatsurteil in BFHE 236, 137, BStBl II 2012, 678, Rz 25; Helmke/Bauer in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A Steuerlicher Familienleistungsausgleich, I. Kommentierung, § 32 EStG Rz 80). Dies genügt auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums (vgl. Senatsurteil vom 17.06.2010 - III R 35/09, BFHE 230, 523, BStBl II 2011, 176, Rz 11).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.