ECLI:DE:BFH:2020:B.040820.XIR15.18.0
BFH XI. Senat
FGO § 56 Abs 1, FGO § 120 Abs 2 S 3, FGO § 120 Abs 2 S 1, FGO § 56 Abs 2 S 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 14. März 2018, Az: 5 K 5050/16
Leitsätze
1. NV: Wer geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgt, muss ‑‑zur Vermeidung eines sog. Organisationsverschuldens‑‑ grundsätzlich dafür Vorkehrungen treffen, dass auch bei einer nicht vorhergesehenen Erkrankung Fristen in den Verfahren gewahrt werden, deren Betreuung er im Rahmen des betreffenden Geschäftsbetriebes übernommen hat.
2. NV: Dies gilt auch für einen allein praktizierenden Rechtsanwalt oder Steuerberater.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.03.2018 - 5 K 5050/16 wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Das Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg wies mit Urteil vom 15.03.2018 - 5 K 5050/16 (juris) die Klage des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) wegen Umsatzsteuer 2014 ab und ließ die Revision zu. Das Urteil des FG wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers, Steuerberater A, ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 06.04.2018 zugestellt.
Mit Schriftsatz vom 03.05.2018 legte der Kläger, vertreten durch A, beim Bundesfinanzhof (BFH) Revision ein.
Nach einem Aktenvermerk der Geschäftsstellenleiterin des Senats vom 07.06.2018 rief A an diesem Tag beim BFH an und fragte, wie lange die Revisionsbegründungsfrist laufe und ob diese ggf. verlängert werden könnte. Die Geschäftsstellenleiterin teilte mit, dass die Frist am 06.06.2018 abgelaufen sei. Auf § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) wurde dabei hingewiesen.
Mit Telefax vom 07.06.2018 teilte A mit, dass es ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich gewesen sei, die "Klagebegründung" innerhalb der Frist einzureichen. Dieser Hinderungsgrund sei jetzt weggefallen. Er werde die "Klagebegründung" unverzüglich erarbeiten und beim BFH einreichen. Er bat gleichzeitig um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Einräumung einer "angemessenen Frist".
Auf Anordnung des Vertreters des Vorsitzenden teilte die Geschäftsstelle des Senats A mit Schreiben vom 11.06.2018 mit, dass sich die Frist aus § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO ergebe. Außerdem wurde A aufgefordert, die Verhinderung sowie den Zeitpunkt des Wegfalls glaubhaft zu machen.
Am 04.07.2018 reichte A namens des Klägers die Revisionsbegründung ein. Weiter führte er aus: "Da die gesetzliche Frist zur Begründung der Revision überschritten ist, beantrage ich unter Verweis auf das beigefügte Attest die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Verhinderung bestand bis zum 07.06.2018." Beigefügt war ein ärztliches Attest des B, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, wonach A aufgrund einer akuten Erkrankung in seiner Behandlung gewesen sei. Es habe Arbeitsunfähigkeit bestanden vom 01.06.2018 bis 07.06.2018.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt) beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Er macht geltend, der Kläger habe ein Verschulden des A gegen sich gelten zu lassen. A habe u.a. Vorsorge für den Fall zu treffen, dass er unvorhergesehen an der Wahrnehmung seiner Aufgaben gehindert sei. Da die näheren Umstände der Krankheit mit dem vorgelegten ärztlichen Attest (Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne weitere Diagnose) nicht ausreichend glaubhaft gemacht worden seien, könne Wiedereinsetzung nicht gewährt werden.
Mit Schriftsatz vom 03.09.2018 hat A um einen Hinweis gebeten, falls die Vorlage eines ärztlichen Attests mit Diagnose und Krankheitsverlauf erforderlich sein sollte.
Beide Beteiligte haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unzulässig; sie ist daher durch Beschluss zu verwerfen (§ 124 Abs. 1, § 126 Abs. 1 FGO). Der Kläger hat die Revision nicht fristgemäß begründet; dem Antrag auf Wiedereinsetzung ist nicht zu entsprechen.
1. Der Kläger hat die Frist für die Begründung der Revision versäumt.
a) Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO ist die Revision innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Frist kann gemäß § 120 Abs. 2 Satz 3 FGO auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. War die Begründungsfrist im Zeitpunkt des Antrags hingegen bereits abgelaufen, kann die Frist nicht mehr wirksam verlängert werden; dies führt zur Unzulässigkeit der Revision (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 20.03.2001 - XI R 86/00, juris; vom 28.10.2005 - V R 47/05, juris; vom 10.05.2013 - II R 5/13, BFH/NV 2013, 1428, Rz 12).
b) Die Revisionsbegründungsfrist lief im Streitfall nach § 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sowie § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs am Mittwoch, dem 06.06.2018, ab. Die Revisionsbegründung des Klägers ist jedoch erst am 04.07.2018 (und damit verspätet) beim BFH eingegangen.
2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Kläger nicht zu gewähren; denn er hat nicht hinreichend dargetan, warum kein Organisationsverschulden in der Kanzlei des A vorliegt.
a) Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm gemäß § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. In formeller Hinsicht setzt die Gewährung der Wiedereinsetzung voraus, dass innerhalb einer Frist von einem Monat (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO) nach Wegfall des Hindernisses die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und diejenigen Tatsachen vorgetragen und im Verfahren über den Antrag glaubhaft gemacht werden, aus denen sich die schuldlose Verhinderung ergeben soll.
aa) Die Tatsachen, die eine Wiedereinsetzung rechtfertigen können, sind innerhalb dieser Frist vollständig, substantiiert und in sich schlüssig darzulegen (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 11.05.2010 - XI R 24/08, BFH/NV 2010, 1834, Rz 12; vom 13.09.2012 - XI R 40/11, BFH/NV 2013, 213, Rz 14). Im Falle einer Erkrankung des Prozessbevollmächtigten erfordert ein schlüssiger Wiedereinsetzungsantrag die Darlegung einer geeigneten Notfall-Vorsorge, die auch bei einer unvorhersehbaren Verhinderung des Bevollmächtigten die Funktionsfähigkeit des Büros, insbesondere die Überwachung der Fristsachen, gewährleistet (BFH-Beschluss in BFH/NV 2013, 1428).
bb) Jedes Verschulden ‑‑mithin auch einfache Fahrlässigkeit‑‑ schließt die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 17.02.2010 - I R 38/09, BFH/NV 2010, 1283; vom 13.09.2012 - XI R 48/10, BFH/NV 2013, 212, Rz 12). Nach § 85 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 155 Satz 1 FGO muss sich jeder Beteiligte das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten wie eigenes Verschulden zurechnen lassen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 15.05.2019 - XI R 14/17, BFH/NV 2019, 924, Rz 7).
cc) Wer geschäftsmäßig fremde Rechtsangelegenheiten besorgt, muss ‑‑zur Vermeidung eines sog. Organisationsverschuldens‑‑ grundsätzlich dafür Vorkehrungen treffen, dass auch bei einer nicht vorhergesehenen Erkrankung Fristen in den Verfahren gewahrt werden, deren Betreuung er im Rahmen des betreffenden Geschäftsbetriebes übernommen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 09.04.2018 - X R 9/18, BFH/NV 2018, 828, Rz 15, m.w.N.; s.a. BFH-Beschlüsse vom 24.07.1992 - V R 39/86, BFH/NV 1993, 308; vom 10.12.2019 - VIII R 19/17, BFH/NV 2020, 375, Rz 8).
(1) Der Bevollmächtigte muss u.a. sicherstellen, dass entweder ein Vertreter vorhanden ist oder das Kanzleipersonal sich an einen solchen wenden kann (vgl. BFH-Beschluss vom 05.05.2020 - XI R 33/19, BFH/NV 2020, 907, Rz 24). Dies gilt auch für einen allein praktizierenden Rechtsanwalt oder Steuerberater: Er muss seinem Personal die notwendigen allgemeinen Anweisungen für einen solchen Fall erteilen (vgl. z.B. Beschluss des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 19.02.2019 - VI ZB 43/18, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht ‑‑NJW-RR‑‑ 2019, 691, Rz 7). Und selbst wenn er als Prozessbevollmächtigter ohne eigenes Personal tätig wäre, was nach den Angaben auf der Homepage des A nicht der Fall zu sein scheint, muss er ihm zumutbare Vorkehrungen für einen Verhinderungsfall treffen, zum Beispiel durch Absprache mit einem vertretungsbereiten Kollegen (vgl. BGH-Beschlüsse in NJW-RR 2019, 691, Rz 7; vom 31.07.2019 - XII ZB 36/19, Monatsschrift für Deutsches Recht ‑‑MDR‑‑ 2019, 1209, Rz 11; vom 08.08.2019 - VII ZB 35/17, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 2020, 157, Rz 12; vom 28.05.2020 - IX ZB 8/18, MDR 2020, 874, Rz 10; BFH-Beschluss in BFH/NV 2018, 828, Rz 16). Ausreichend ist z.B., wenn er die Vertretung, für die er zuvor im Rahmen der ihm obliegenden allgemeinen Vorkehrungen für Verhinderungsfälle Vorsorge zu treffen hat, kontaktiert und um die Beantragung einer Fristverlängerung bittet (vgl. BGH-Beschluss vom 16.04.2019 - VI ZB 44/18, MDR 2019, 955, Rz 11, m.w.N.); dass evtl. selbst diese Maßnahme nicht möglich und zumutbar war, ist im Antrag darzulegen und glaubhaft zu machen (vgl. BGH-Beschluss in NJW-RR 2019, 691, Rz 10; s.a. BFH-Beschlüsse vom 13.10.2006 - XI R 4/06, BFH/NV 2007, 253, unter II.2., Rz 10; vom 06.11.2014 - VI R 39/14, BFH/NV 2015, 339, Rz 14; in BFH/NV 2020, 375, Rz 8). Denn es wird regelmäßig ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten begründen, wenn solche allgemeinen Vorkehrungen unterblieben sind und er aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, einen vertretungsbereiten Kollegen zu suchen oder die Suche aufgrund der Kürze der noch zur Verfügung stehenden Zeit erfolglos ist (vgl. BGH-Beschluss in NJW-RR 2019, 691, Rz 8).
(2) Anders liegt der Fall, wenn sich die ‑‑im Grundsatz hinreichenden‑‑ allgemeinen Vorkehrungen im konkreten Fall unvorhersehbar als nicht ausreichend erweisen, etwa deshalb, weil der im Allgemeinen zur Vertretung bereite Kollege selbst verhindert ist (vgl. BGH-Beschluss in MDR 2020, 874, Rz 11). Auf die allgemeinen Vorkehrungen kommt es außerdem dann nicht an, wenn die dem unvorhersehbar erkrankten Prozessbevollmächtigten konkret noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen die Versäumung der Frist auch im Falle sorgfaltsgemäß getroffener allgemeiner Vorkehrungen nicht verhindert hätten (vgl. BGH-Beschluss in NJW 2020, 157, Rz 16). Dies kann anzunehmen sein, wenn die Vornahme der fristwahrenden Handlung durch einen Vertreter unmöglich oder unzumutbar ist und eine Verlängerung der Frist nicht in Betracht kommt (vgl. BGH-Beschluss in MDR 2020, 874, Rz 12).
dd) Unerlässliche Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Büroorganisation ist außerdem ein Fristenkontrollbuch oder eine vergleichbare Einrichtung, in der der Ablauf sämtlicher Fristen vermerkt und eine Frist erst nach Vornahme der zu ihrer Einhaltung erforderlichen Handlung gestrichen wird (vgl. BFH-Beschluss vom 22.05.2018 - XI R 22/17, BFH/NV 2018, 961, Rz 17).
b) An den erforderlichen Darlegungen sowohl zur effektiven Fristenkontrolle als auch zur Notfall-Vorsorge fehlt es im Streitfall. Dies geht zu Lasten des Klägers.
aa) Es ist bereits nicht vorgetragen und glaubhaft gemacht, wie die Fristenkontrolle in der Kanzlei des A organisiert ist und wie A, der die Revision namens des Klägers fristgerecht eingelegt hat, auch die Einhaltung der Revisionsbegründungsfrist sichergestellt hat. Ebenso fehlen Ausführungen dazu, ob, wie und von wem die Einhaltung dieser Frist überwacht wurde. Solche Darlegungen wären im Streitfall schon deshalb erforderlich gewesen, weil der Anruf des A vom 07.06.2018 den Schluss nahelegt, dass A den Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht ermittelt hatte; sonst hätte er nicht bei der Geschäftsstelle des Senats anrufen müssen, um zu fragen, wann die Frist ablaufe.
bb) Auch fehlt Vortrag nebst Glaubhaftmachung dazu, dass die erforderlichen allgemeinen Vorkehrungen für Verhinderungsfälle von A getroffen worden sind (vgl. dazu allgemein auch BGH-Beschluss in NJW-RR 2019, 691, Rz 8). A hat eine geeignete Vorsorge, die gewährleistet, dass im Falle seiner Erkrankung fristwahrende Schriftsätze rechtzeitig eingereicht werden können, weder behauptet noch glaubhaft gemacht. Dazu hätte im Streitfall schon deshalb Anlass bestanden, weil gemäß § 120 Abs. 2 Satz 3 FGO eine Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist möglich gewesen wäre und ein vertretungsbereiter Kollege des A (unter Hinweis auf die Erkrankung des A) vor Ablauf der Frist ohne inhaltliche Befassung mit dem Streitfall diese hätte beantragen können.
cc) Auf die Frage, ob das auf der Homepage des A genannte Personal bereits im Jahr 2018 bei ihm beschäftigt war, kommt es nach den Ausführungen unter II.2.a cc nicht an.
c) Offenbleiben kann daher auch, ob das Attest konkret genug war, um eine Verhinderung des A glaubhaft zu machen (vgl. dazu allgemein BFH-Beschluss vom 19.03.2019 - II R 29/17, BFH/NV 2019, 705, Rz 24: "Art und Schwere der Erkrankung"; s.a. Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz 14 und § 56 FGO Rz 18 ff.; Bruns in Gosch, AO § 110 Rz 56; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 110 AO Rz 147; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 56 FGO Rz 56), so dass der Senat dem Kläger dazu auch nicht ‑‑wie er beantragt hat‑‑ Hinweise geben oder ihn zu einer Ergänzung des Attests über die Erkrankung auffordern müsste. Auf Art und Schwere der Erkrankung des A kommt es aufgrund der fehlenden Darlegungen zur Fristenkontrolle und zu den Vorkehrungen für Verhinderungsfälle nicht an.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.