ECLI:DE:BFH:2020:U.270520.IIIR58.18.0
BFH III. Senat
EStG § 74, AO § 174 Abs 5 S 2, AO § 360, FGO § 102 S 1, SvEV § 2 Abs 3 S 1, EStG VZ 2014
vorgehend FG Nürnberg, 13. November 2017, Az: 7 K 818/15
Leitsätze
NV: Das FG muss die Ermessensentscheidung der Familienkasse, die gegenüber einem Kindergeldberechtigten einen Abzweigungsbescheid zugunsten eines Sozialleistungsträgers erlassen hat, auch daraufhin überprüfen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 14.11.2017 - 7 K 818/15 sowie der Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aufgehoben.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Außergerichtliche Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.
Tatbestand
I.
Streitig ist die Abzweigung von Kindergeld an einen Sozialleistungsträger.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter ihres im Jahr 1971 geborenen Sohnes F. F ist seit der Geburt stark sehbehindert und auch geistig behindert. Er lebt in einem Wohnheim der Blindeninstitutsstiftung und erhält vom Bezirk X (Beigeladener) Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die Klägerin bezog für F Kindergeld, das allerdings wegen einer vom Beigeladenen betriebenen Erstattung (§ 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑) seit Jahren nicht in voller Höhe ausgezahlt wurde. Der Beigeladene beantragte bei der Familienkasse mit Schreiben vom 19.11.2013 rückwirkend die Abzweigung des bislang noch nicht an die Klägerin ausgezahlten Teils des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) kam dem nach. Sie hob den früheren Abrechnungsbescheid über die Erstattung des Kindergeldes rückwirkend auf. Nach vorheriger Anhörung der Klägerin erließ sie gegenüber dem Beigeladenen am 28.02.2014 einen Bescheid, durch den das Kindergeld ab Juni 2008 in Höhe von monatlich 23 €, ab März 2009 in Höhe von 24,50 € und ab März 2010 "bis laufend" in Höhe von 27,78 € abgezweigt wurde. Am selben Tag erließ sie auch gegenüber der Klägerin einen Abzweigungsbescheid mit gleichem Inhalt. Zur Begründung führte sie aus, die Unterhaltsleistungen der Klägerin hätten sich nur minimal verändert, so dass es bei der in einem früheren finanzgerichtlichen Verfahren bestätigten Höhe der Abzweigung verbleibe.
Im anschließenden Einspruchsverfahren trug die Klägerin vor, ihr entstünden unstreitig monatliche Aufwendungen von mehr als 500 € für den Unterhalt von F. In einer "Erklärung zu den verfügbaren finanziellen Mitteln" vom 06.09.2014 wies sie u.a. darauf hin, dass sie in ihrer Wohnung ein Zimmer für F vorhalte. Die Familienkasse bat die Klägerin in einem Schreiben vom 12.11.2014 um detaillierte Angaben zu möglichen Unterhaltsaufwendungen (Barleistungen, Abholfahrten an Wochenenden, Medikamente, Freizeiten, Kleidung u.Ä.). Die Klägerin verwies hierzu auf das frühere finanzgerichtliche Verfahren … vor dem Finanzgericht (FG) Nürnberg, durch das die Unterhaltsaufwendungen mit Urteil vom 13.04.2011 unstreitig festgestellt worden seien. Zum Beweis dafür, dass sich diese Aufwendungen in den letzten drei Jahren nicht verändert hätten, benannte sie eine Zeugin. Im Übrigen könne nicht erwartet werden, dass sie Nachweise über Zahlungsbeträge seit dem Jahr 2008 aufbewahre.
Der Beigeladene, der nach § 360 der Abgabenordnung (AO) zum Einspruchsverfahren hinzugezogen worden war, trug vor, die Klägerin habe die von ihr behaupteten Aufwendungen nicht nachgewiesen, ebenso wenig die Anzahl der Besuchsaufenthalte des F. Sie sei aus gesundheitlichen Gründen zu einer Betreuung des F gar nicht in der Lage, vielmehr unterstütze F bei seinen Besuchen die Klägerin in deren Haushalt.
Der Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015). Die Familienkasse führte u.a. aus, für die Zeit ab Juni 2008 seien überhaupt keine Nachweise für Unterhaltsleistungen erbracht worden, die Klägerin habe auch nicht versucht, die Angaben glaubhaft zu machen.
Im anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren bezifferte die Klägerin die Unterhaltsaufwendungen für F auf ca. 522 € (Zimmer in ihrer Wohnung, Reinigung, Essen, Wäsche usw.). Das FG wies die Klage ab, nachdem es zuvor den Beigeladenen gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 AO am Verfahren beteiligt hatte. Es war der Ansicht, die Voraussetzungen für eine Abzweigung seien erfüllt. Die Klägerin sei ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen, da sie die zum Lebensbedarf ihres Sohnes gehörenden laufenden Kosten der Unterbringung im Blindenheim nicht übernommen habe. Die Abzweigungsentscheidung sei ermessensfehlerfrei zustande gekommen. Die Familienkasse habe den Sachverhalt ordnungsgemäß ermittelt. Die Klägerin habe trotz ihrer Mitwirkungspflicht bis zum Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung keine Aufwendungen nachgewiesen, sie habe auch keine Beweisvorsorge getroffen. Der angebotene Zeugenbeweis zu den Unterhaltsleistungen sei nicht zu erheben gewesen, da für die Frage einer Ermessensreduktion auf null der Kenntnisstand der Behörde zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgebend sei; hierfür sei jedoch kein Beweis angeboten worden.
Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, es sei substantiiert dargelegt worden, dass ihr monatliche Unterhaltsaufwendungen von ca. 522 € entstanden seien, hierfür sei auch Beweis durch Zeugeneinvernahme angeboten worden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aufzuheben.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Abzweigungsbescheids sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Unrecht die Abzweigungsentscheidung der Familienkasse nicht beanstandet.
1. Nach § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld u.a. an die Stelle ausgezahlt werden, die dem Kind Unterhalt gewährt, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
a) Sind die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach erfüllt, hat die Familienkasse nach § 74 Abs. 1 EStG eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen ("kann"), ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, der dem Kind anstelle der eigentlich unterhaltsverpflichteten Eltern Unterhalt gewährt. Bei der Ermessensausübung sind auch geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten für das behinderte Kind zu berücksichtigen (Senatsurteile vom 23.02.2006 - III R 65/04, BFHE 212, 481, BStBl II 2008, 753; vom 17.12.2008 - III R 6/07, BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926, und vom 17.10.2013 - III R 24/13, BFH/NV 2014, 504), sofern dieser nicht selbst Sozialleistungen bezieht (Senatsurteil in BFHE 224, 228, BStBl II 2009, 926; Senatsbeschluss vom 26.02.2015 - III B 124/14, BFH/NV 2015, 837). Hierbei sind die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen anzusetzen (Senatsurteil vom 17.10.2013 - III R 23/13, BFHE 243, 250), nicht hingegen fiktive Kosten (Senatsurteil vom 09.02.2009 - III R 37/07, BFHE 224, 290, BStBl II 2009, 928). Zu den Unterhaltsleistungen für ein in einer Einrichtung untergebrachtes Kind gehört auch die Zurverfügungstellung eines Zimmers in der Wohnung des Kindergeldberechtigten (Senatsurteile in BFHE 243, 250, und vom 03.07.2014 - III R 41/12, BFHE 247, 125). Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht (BFH-Urteil vom 18.04.2013 - V R 48/11, BFHE 241, 270, BStBl II 2013, 697, m.w.N.).
b) Beachtet die Familienkasse diese Grundsätze nicht, führt dies zu einem Ermessensfehler, den das FG bei der nach § 102 Satz 1 FGO durchzuführenden Überprüfung der Entscheidung der Familienkasse zu beanstanden hat. Im Rahmen dieser Überprüfung muss das FG auch feststellen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind (Senatsurteil vom 19.04.2012 - III R 85/09, BFHE 237, 145, BStBl II 2013, 19, m.w.N.).
2. Nach den Feststellungen des FG waren zwar die Voraussetzungen für die Abzweigung eines Teils des Kindergeldes dem Grunde nach erfüllt, da der Beigeladene in vollem Umfang die Kosten der Unterbringung in der Blindeninstitutsstiftung übernommen hatte und die Klägerin damit ihrer Unterhaltsverpflichtung gegenüber F nicht nachgekommen war. Allerdings war die Entscheidung der Familienkasse, einen Teil des Kindergeldes an den Beigeladenen abzuzweigen, nicht ermessensfehlerfrei, da sie auf einem unvollständig ermittelten Sachverhalt beruhte. Die Familienkasse führte in der Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015 aus, die Klägerin habe keinen Nachweis für Unterhaltsleistungen ab Juni 2008 erbracht, die Höhe von Unterhaltsleistungen habe nicht festgestellt werden können. Allerdings hatte die Klägerin im Einspruchsverfahren bereits darauf hingewiesen, dass für das Kind (auch aufgrund ärztlicher Atteste) ein Zimmer vorgehalten werde und insoweit anteilige Kosten entstanden seien (Kindergeldakte, Erklärung vom 06.09.2014). Weiterhin hatte sie sich in ihrer Einspruchsbegründung auf das Urteil des FG Nürnberg vom … - … bezogen und erklärt, dass sich die in diesem Verfahren geltend gemachten Aufwendungen für den Streitzeitraum kaum verändert hätten. In diesem Verfahren hatte die Klägerin dargelegt, dass in ihrer behindertengerechten Eigentumswohnung von 92 qm ihrem Kind allein ein Raum mit 27 qm zustehe. Die Familienkasse ging offensichtlich selbst davon aus, dass die Klägerin in ihrer Wohnung eine Unterkunft für F vorhielt, da sie in ihrer Anfrage vom 12.11.2014 die Klägerin um Auskunft über die Häufigkeit der Fahrten zur Abholung des F über die Wochenenden bat. Darüber hinaus hatte der zuvor im Einspruchsverfahren hinzugezogene Beigeladene darauf hingewiesen, dass F die Klägerin bei seinen Besuchen in ihrem Haushalt unterstütze. Daher drängte sich bereits nach Aktenlage die Annahme auf, dass der Klägerin zumindest Aufwendungen für ein in ihrer Wohnung für F vorgehaltenes Zimmer entstanden waren. Damit konnte die Familienkasse das Entstehen von Unterhaltsaufwendungen jedenfalls wegen Kosten für ein eigenes Zimmer des F in ihrem Haushalt nicht ohne Weiteres wegen fehlender Nachweise verneinen.
3. Der Senat hatte in seiner Entscheidung in BFHE 243, 250 keine Bedenken, den Wert der unentgeltlich in einem Eigenheim zur Verfügung gestellten Unterkunft nach Maßgabe der Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) festzulegen, sofern nicht, wie bei einer Mietwohnung, die anteilige Miete zugrunde gelegt werden kann. Da der Wert der Unterkunft bereits für das Jahr 2008 mit 198 € anzusetzen ist (§ 2 Abs. 3 Satz 1 SvEV in der bis 31.12.2008 geltenden Fassung), ist es möglich, dass die monatlichen Unterhaltsleistungen der Klägerin im gesamten Streitzeitraum höher waren als das Kindergeld. Das angefochtene Urteil kann demnach keinen Bestand haben, ebenso wenig der Abzweigungsbescheid vom 28.02.2014 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 19.05.2015.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet. Eine Billigkeitsentscheidung nach § 139 Abs. 4 FGO kommt nicht in Betracht, da der Beigeladene die unterlegene Familienkasse unterstützt hat, die den Abzweigungsbescheid im Interesse des Beigeladenen erlassen hatte (vgl. BFH-Beschluss vom 17.12.2009 - VII B 20/09, BFH/NV 2010, 834; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 139 FGO Rz 172).