ECLI:DE:BFH:2019:B.221019.IIIB149.18.0
BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 2, FGO § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, EStG VZ 2016 , FGO § 143 Abs 2, FGO § 116 Abs 6
vorgehend FG München, 21. Oktober 2019, Az: 7 K 1616/18
Leitsätze
1. NV: Die Rechtsfrage, ob spätestens im Monat nach Abschluss eines Ausbildungsabschnitts ein Beweisanzeichen für den Willen zur Fortsetzung der Erstausbildung vorliegen muss, um Ausbildungsabschnitte zu einer einheitlichen Erstausbildung zusammenfassen zu können, ist durch das BFH-Urteil vom 17.01.2019 - III R 8/18 (BFH/NV 2019, 815) dahingehend geklärt, dass ein derartiges Erfordernis nicht besteht .
2. NV: Übersieht das FG einen in den Akten befindlichen Bescheid, durch den das Kindergeld für einen bestimmten Monat bestandskräftig aufgehoben worden ist, und verpflichtet es die Familienkasse zur Gewährung von Kindergeld für diesen Monat, so ist dies ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten .
Tenor
Auf die Beschwerde der Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 26.10.2018 - 7 K 1616/18 insoweit aufgehoben, als es den Monat März 2016 betrifft.
Insoweit wird die Sache an das Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens wird dem Finanzgericht übertragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) ist die Mutter ihres im Jahr 1995 geborenen Sohnes A, der im Juli 2015 eine Ausbildung zum Elektroniker abschloss. Danach war er arbeitslos. A besuchte zu Beginn des Schuljahres 2015/2016 eine Berufsoberschule. Die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) gewährte für A ab September 2015 Kindergeld. A brach den Schulbesuch im Dezember 2015 wegen einer Erkrankung ab. Danach war er wieder arbeitslos. Vom 15.02.2016 bis zum 16.08.2016 war er bei der Fa. X mit einer Arbeitszeit von 39 Wochenstunden beschäftigt. Ab September 2016 besuchte A wieder die Berufsoberschule.
Die Klägerin beantragte Kindergeld für den Zeitraum März 2016 bis Juli 2016. Die Familienkasse lehnte den Antrag wegen der Erwerbstätigkeit des A durch Bescheid vom 27.02.2018 ab. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der anschließend erhobenen Klage statt. Es war der Ansicht, A sei im fraglichen Zeitraum nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen. Die zwischenzeitliche Berufstätigkeit sei unschädlich, denn die Ausbildung zum Elektroniker und das angestrebte Berufsziel "Elektrotechniker" oder "Elektroingenieur" seien zu einer mehraktigen Erstausbildung zusammenzufassen.
Gegen das Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, die Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sowie einen Verfahrensfehler geltend macht (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Zur Begründung trägt sie vor, für die Annahme einer mehraktigen Ausbildung müsse nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden, dass das angestrebte Berufsziel noch nicht erreicht sei. Die Absichtserklärung des Kindes müsse spätestens im Folgemonat nach dem Abschluss des vorangegangenen Ausbildungsabschnitts bei der Familienkasse eingehen. Es sei die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu klären, ob die Familienkasse verlangen dürfe, dass als objektives Beweisanzeichen für den Willen zur Fortsetzung der Erstausbildung entweder eine Bewerbung für den weiterführenden Ausbildungsabschnitt oder eine entsprechende Absichtserklärung spätestens im Folgemonat nach Abschluss des vorangegangenen Ausbildungsabschnitts nachgewiesen werde.
Hinsichtlich des Erfordernisses eines objektiven Beweisanzeichens weiche das angefochtene Urteil vom BFH-Urteil vom 04.02.2016 - III R 14/15 (BFHE 253, 145, BStBl II 2016, 615) ab. In diesem Fall habe sich der BFH gegen eine einheitliche Erstausbildung entschieden, weil nach dem Abschluss der ersten Ausbildung nicht aufgrund objektiver Beweisanzeichen erkennbar gewesen sei, dass das Kind eine weiterführende Ausbildung angestrebt habe. Das BFH-Urteil und das angefochtene Urteil unterschieden sich somit in der Frage, ob für die Feststellung einer einheitlichen Erstausbildung neben dem erst über einen weiteren Abschluss erreichbaren und angestrebten Berufsziel und dem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zusätzlich ein objektives Beweisanzeichen dafür erforderlich sei, dass das Kind mit dem ersten erlangten Abschluss sein angestrebtes Berufsziel noch nicht erreicht hat.
Hinsichtlich des Monats März 2016 beruhe das Urteil des FG auf einem Verfahrensfehler. Aus dem Tatbestand des Urteils gehe nicht hervor, dass die Festsetzung des Kindergeldes durch Bescheid vom 11.03.2016 ab März 2016 aufgehoben worden sei. Der Bescheid sei in Bestandskraft erwachsen. Das Gericht habe diese aktenkundige Tatsache nicht berücksichtigt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist insoweit unbegründet, als das angefochtene Urteil den Zeitraum April 2016 bis Juli 2016 betrifft. Im Übrigen (März 2016) ist sie begründet.
1. Die Revision ist nicht nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.
a) Die in der Beschwerdebegründung thematisierte Rechtsfrage, ob die Zusammenfassung von zwei Ausbildungsabschnitten zu einer (einheitlichen) erstmaligen Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (u.a.) zur Voraussetzung hat, dass das Kind spätestens in dem Monat, der dem Ende des ersten Ausbildungsabschnitts folgt, die Absicht zur Fortsetzung der Berufsausbildung kundtut, ist nicht (mehr) klärungsbedürftig. Denn der BFH hat diese Frage inzwischen entschieden (s. Senatsurteil vom 17.01.2019 - III R 8/18, BFH/NV 2019, 815). Er hat in dem Urteil ausgeführt, dass eine Verbindung von zwei Ausbildungsabschnitten zu einer einheitlichen Erstausbildung nicht bereits dann abgelehnt werden kann, wenn die Absichtserklärung zur Fortführung der Erstausbildung nicht spätestens im Folgemonat nach Abschluss des vorangegangenen Ausbildungsabschnitts vorgelegt wird und dass es ‑‑entgegen der aus der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz 2018 V 6.1 Abs. 1 Satz 8 abgeleiteten Verwaltungsauffassung‑‑ genügt, wenn die Sachverhaltsumstände im Entscheidungszeitpunkt vollständig und glaubhaft dargelegt sind.
b) Die Revision ist auch nicht etwa deshalb zuzulassen, weil zum Zeitpunkt der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde die von der Familienkasse thematisierte Rechtsfrage noch nicht ausdrücklich durch eine veröffentlichte Entscheidung geklärt war. Bei der Prüfung, ob ein Grund zur Zulassung der Revision vorliegt, können zwar ausnahmsweise die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde und nicht die zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Beschwerde maßgeblich sein, und zwar dann, wenn die Revision aus anderen Gründen Aussicht auf Erfolg hätte (BFH-Beschluss vom 16.07.2013 - X B 15/13, BFH/NV 2013, 1609; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 97; Werth in Gosch, FGO § 115 Rz 71). Die Revision hätte jedoch hinsichtlich der Monate April 2016 bis Juli 2016, in denen A einer Vollzeittätigkeit nachging, keine Aussicht auf Erfolg. Diese Tätigkeit diente nach den Feststellungen des FG nur der zeitlichen Überbrückung bis zum Beginn eines weiteren Ausbildungsabschnitts (vgl. Senatsurteil in BFHE 253, 145, BStBl II 2016, 615). Sie wurde auch nicht zeitgleich zu einer Ausbildungsmaßnahme ausgeübt, so dass nicht zu prüfen ist, ob eine neben einer Ausbildung ausgeübte Vollzeittätigkeit als "Hauptsache" anzusehen ist (s. Senatsurteil vom 11.12.2018 - III R 26/18, BFHE 263, 209).
2. Aus den vorgenannten Gründen ist die Revision auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Nach Ansicht der Familienkasse ist das FG wegen der Frage, wann ein objektives Beweisanzeichen für einen fortbestehenden Ausbildungswillen vorliegen müsse, vom Senatsurteil in BFHE 253, 145, BStBl II 2016, 615 abgewichen. Diese Frage wurde jedoch ‑‑wie ausgeführt‑‑ zwischenzeitlich durch die Senatsrechtsprechung präzisiert. Eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist damit nicht mehr erforderlich.
3. Hinsichtlich des Monats März 2016 ist die Nichtzulassungsbeschwerde wegen eines Verstoßes gegen den klaren Inhalt der Akten begründet. Der gerügte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegt vor.
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt u.a. dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 28.04.2016 - IX B 18/16, BFH/NV 2016, 1173, m.w.N.).
b) Das FG hat den in der Kindergeldakte befindlichen Bescheid vom 11.03.2016, durch den die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes ab März 2016 aufhob, unbeachtet gelassen und damit einen Verfahrensfehler begangen. Der Aufhebungsbescheid wurde nicht angefochten und entfaltete deshalb für den genannten Monat Bindungswirkung (s. Senatsurteil vom 26.11.2009 - III R 87/07, BFHE 227, 466, BStBl II 2010, 429). Damit stand bestandskräftig fest, dass der Klägerin für den Monat März 2016 kein Kindergeld zustand. Der Umstand, dass die Familienkasse durch den späteren Bescheid vom 27.02.2018 die Festsetzung von Kindergeld (auch) für den Monat März 2016 ablehnte und die Klägerin dagegen mit Einspruch und Klage vorging, ändert hieran nichts. Das FG konnte nicht die Familienkasse zur Gewährung von Kindergeld für den Monat März 2016 verpflichten.
4. Der Senat hält es für sachgerecht, hinsichtlich des Monats März 2016 nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, d.h. das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Das FG hat mit Rücksicht auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung auch über die Kosten des durch diesen Beschluss rechtskräftig abgeschlossenen Teils des Verfahrens zu entscheiden (vgl. BFH-Urteile vom 17.11.2011 - IV R 2/09, BFH/NV 2012, 1309; vom 13.06.2013 - III R 10/11, BFHE 241, 562, BFH/NV 2013, 1868). Dabei ist unerheblich, ob die Sache durch Urteil oder durch Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO zurückverwiesen wird (BFH-Beschluss vom 11.12.2013 - XI B 33/13, BFH/NV 2014, 714, Rz 22).