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auf der Richterbank liegen Barett und Arbeitsmappe, dahinter ein Richterstuhl, auf dem eine Robe hängt

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Urteil vom 04. Oktober 2017, VI R 5/16

Regelmäßige Arbeitsstätte eines Klärwärters der Stadtbetriebe

ECLI:DE:BFH:2017:U.041017.VIR5.16.0

BFH VI. Senat

EStG § 9 Abs 1 S 1, EStG § 9 Abs 1 S 3 Nr 4, EStG § 9 Abs 4, EStG § 9 Abs 1 S 3 Nr 4a, EStG VZ 2010

vorgehend FG Köln, 15. Dezember 2015, Az: 9 K 331/13

Leitsätze

1. NV: Eine regelmäßige Arbeitsstätte ist der Ort, an dem der Arbeitnehmer typischerweise seine Arbeitsleistung im Schwerpunkt zu erbringen hat. Insoweit ist entscheidend, wo sich der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Arbeitnehmers befindet. Dieser Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit bestimmt sich nach den qualitativen Merkmalen der Arbeitsleistung, die der Arbeitnehmer an dieser Arbeitsstätte im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat, sowie nach dem konkreten Gewicht der dort verrichteten Tätigkeit .

2. NV: Der qualitative Schwerpunkt der vom Arbeitnehmer zu erbringenden Arbeitsleistung kann nur dann in einer Betriebsstätte des Arbeitgebers verortet werden, wenn die gesamte Arbeitsleistung des Arbeitnehmers vollständig in den Blick genommen wird und die innerhalb und außerhalb der Betriebsstätte erbrachten Arbeitsleistungen in qualitativer Hinsicht gewichtet und gegeneinander abgewogen werden .

3. NV: Allein der Umstand, dass ein Arbeitnehmer eine betriebliche Einrichtung seines Arbeitgebers nachhaltig (arbeitstäglich) aufsucht, kann dort keine regelmäßige Arbeitsstätte begründen .

Tenor

Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 16. Dezember 2015 9 K 331/13 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Köln zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte im Streitjahr (2010) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit als Mitarbeiter der Stadtbetriebe X im Bereich Abwasseranlagen. Sein Aufgabengebiet umfasste im Wesentlichen die notwendigen Arbeiten zur Sicherstellung des Abwassertransports in den Klärwerken der Stadt X. Der Kläger und ein weiterer Kollege waren als 2er-Team für etwa ein Drittel der von der Stadt betriebenen 145 Sonderbauwerke, davon 71 Pumpwerke, verantwortlich. Zur Erfüllung dieser Pflichten mussten sie regelmäßig Funktionskontrollen der Anlagen und Wartungsarbeiten durchführen, wie z.B. Reinigungsarbeiten, Beseitigung von Verstopfungen und Funktionsstörungen, Fehlersuche, Abschmierarbeiten sowie Reparaturen, und die ausgeführten Arbeiten dokumentieren. Neben diesen Arbeiten an den Sonderbauwerken waren der Kläger und sein Kollege auch für die Wartung des Kanalnetzes der Stadt X zuständig.

  2. Der Arbeitstag des Klägers begann gewöhnlich gegen 6:45 Uhr im Zentralklärwerk der Stadt X. Dort befanden sich u.a. Sozial- und Umkleideräume. Nach dem Wechsel der Kleidung und der Kontrolle der Pumpstationen am Leitsystem der Kläranlage, auf dem die Störungen der im Stadtgebiet X verteilten abwassertechnischen Anlagen angezeigt wurden, erfolgte die Dokumentation aller Auffälligkeiten und Störungen. Anschließend wurden die anstehenden Wartungsarbeiten auf die entsprechenden Mitarbeiter verteilt. Etwa eine halbe Stunde nach Dienstbeginn verließ der Kläger das Zentralklärwerk, um mit seinem Teamkollegen im Firmenwagen zu den jeweiligen Einsatzorten zu fahren und dort die Kontroll-, Wartungs- und/oder Reparaturarbeiten durchzuführen. Gegen ca. 15:30 Uhr kehrte der Kläger zum Zentralklärwerk zurück. Dort überprüfte er nochmals das Leitsystem auf Störungen. Anschließend wechselte er nach einer Dusche die Kleidung und beendete ca. 15 bis 20 Minuten nach der Rückkehr zum Zentralklärwerk seinen Arbeitstag. Nach den Angaben der Stadtverwaltung X "dürfte der Zeitraum, in dem sich der Mitarbeiter auf dem Gelände der KA aufhält, etwa 25 % seiner Arbeitszeit ausmachen".

  3. Laut den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) machte der Kläger in der Einkommensteuererklärung für die arbeitstäglichen Fahrten mit dem PKW zum Zentralklärwerk im Rahmen einer Auswärtstätigkeit Fahrtkosten in Höhe von 2.688 € geltend (224 Arbeitstage x 20 km x 0,60 €/km). Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) berücksichtigte demgegenüber Aufwendungen für die Fahrten des Klägers zum Zentralklärwerk nur mit der Entfernungspauschale in Höhe von 672 € (224 Arbeitstage x 10 km x 0,30 €/km).

  4. Das FG wies die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 467 veröffentlichten Gründen ab.

  5. Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

  6. Sie beantragen sinngemäß,
    den Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 20. Januar 2012 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 7. Januar 2013 dahin zu ändern, dass weitere Werbungskosten in Höhe von 2.688 € berücksichtigt werden.

  7. Das FA ist der Revision entgegengetreten.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

  2. 1. Beruflich veranlasste Fahrtkosten sind Erwerbsaufwendungen und gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe des dafür tatsächlich entstandenen Aufwands als Werbungskosten zu berücksichtigen. Erwerbsaufwendungen sind grundsätzlich auch die Aufwendungen des Arbeitnehmers für Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte. Allerdings sind die Aufwendungen dafür nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung nur begrenzt nach Maßgabe einer Entfernungspauschale als Werbungskosten zu berücksichtigen.

  3. Regelmäßige Arbeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG ist die dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nachhaltig, fortdauernd und immer wieder aufsucht. Das ist regelmäßig der Betrieb, Zweigbetrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers (Senatsurteile vom 26. Februar 2014 VI R 68/12, BFH/NV 2014, 1029; vom 19. Oktober 2016 VI R 32/15, BFH/NV 2017, 281; vom 29. November 2016 VI R 39/15, BFH/NV 2017, 722, und Senatsbeschluss vom 9. November 2015 VI R 8/15, BFH/NV 2016, 196, jeweils m.w.N.).

  4. Eine (regelmäßige) Arbeitsstätte ist allerdings nicht jeder beliebige Tätigkeitsort, sondern der Ort, an dem der Arbeitnehmer typischerweise seine Arbeitsleistung im Schwerpunkt zu erbringen hat. Insoweit ist entscheidend, wo sich der ortsgebundene Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Arbeitnehmers befindet. Dort liegt die eine regelmäßige Arbeitsstätte, die ein Arbeitnehmer nur haben kann. Dieser Mittelpunkt der dauerhaft angelegten beruflichen Tätigkeit bestimmt sich nach den qualitativen Merkmalen der Arbeitsleistung, die der Arbeitnehmer an dieser Arbeitsstätte im Einzelnen wahrnimmt oder wahrzunehmen hat, sowie nach dem konkreten Gewicht dieser dort verrichteten Tätigkeit (Senatsurteile vom 19. Januar 2012 VI R 36/11, BFHE 236, 353, BStBl II 2012, 503, und VI R 32/11, BFH/NV 2012, 936, sowie vom 9. Juni 2011 VI R 55/10, BFHE 234, 164, BStBl II 2012, 38; VI R 36/10, BFHE 234, 160, BStBl II 2012, 36; VI R 58/09, BFHE 234, 155, BStBl II 2012, 34; in BFH/NV 2017, 281, und in BFH/NV 2017, 722).

  5. 2. Das FG hat die vorgenannten Grundsätze seinem Urteil zwar formal zugrunde gelegt. Es hat bei seiner Würdigung, der ortsgebundene Mittelpunkt der Berufstätigkeit des Klägers habe sich im Zentralklärwerk befunden, jedoch nicht alle maßgeblichen Umstände entsprechend ihrer Bedeutung in seine Überzeugungsbildung einbezogen, wie die Kläger zu Recht rügen. Dies stellt einen materiell-rechtlichen Fehler der Vorentscheidung dar (s. Senatsurteil vom 18. Juni 2015 VI R 77/12, BFHE 250, 132, BStBl II 2015, 903, m.w.N.).

  6. a) Das FG hat ausgeführt, der Kläger habe qualitativ bedeutungsvolle Tätigkeiten im Zentralklärwerk ausgeübt. Hierzu habe die unentbehrliche Kontrolle der Pumpstationen und die Disposition für den weiteren Arbeitstag mit der Verteilung der Wartungsarbeiten auf die entsprechenden Mitarbeiter gehört. Die Kontrolltätigkeit und die Dokumentation der Störungen, die der Kläger im Zentralklärwerk vorgenommen habe, seien mit dem Tätigkeitsprofil des Klägers untrennbar verbunden gewesen.

  7. Das FG hat die vom Kläger im Zentralklärwerk geleistete Arbeit hinsichtlich ihrer qualitativen Bedeutung allerdings nicht mit den von ihm im Außendienst zu erbringenden Arbeitsleistungen verglichen und in Beziehung gesetzt. Dies wäre aber erforderlich gewesen, um den Mittelpunkt der Berufstätigkeit des Klägers im Zentralklärwerk zu verorten, wie es das FG getan hat. Denn eine Betriebsstätte des Arbeitgebers wird noch nicht dadurch eine regelmäßige Arbeitsstätte, dass der Arbeitnehmer auch dort wesentliche Teile seiner Arbeitsleistung erbringt. Vielmehr muss der qualitative Schwerpunkt der vom Arbeitnehmer zu erbringenden Arbeitsleistung in dieser Betriebsstätte liegen. Dieser kann aber nur dann in der betreffenden Betriebsstätte verortet werden, wenn die gesamte Arbeitsleistung des Arbeitnehmers vollständig in den Blick genommen wird und die innerhalb und außerhalb der Betriebsstätte erbrachten Arbeitsleistungen in qualitativer Hinsicht gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Denn nur dann lässt sich nachvollziehbar und in Einklang mit den Denkgesetzen die Feststellung treffen, dass der betreffenden Betriebsstätte eine hinreichend zentrale Bedeutung gegenüber den weiteren Tätigkeitsorten des Arbeitnehmers zukommt.

  8. b) Entgegen der Auffassung des FG kann auch der Umstand, dass ein Arbeitnehmer eine betriebliche Einrichtung seines Arbeitgebers nachhaltig (arbeitstäglich) aufsucht, dort keine regelmäßige Arbeitsstätte begründen. Der Einwand, auch in solchen Fällen sei es dem Arbeitnehmer möglich, sich auf die Wegekosten einzustellen und auf deren Minderung hinzuwirken, trifft zwar in der Sache zu, vermag diese Fälle aber nicht aus dem Regeltypus einer "Auswärtstätigkeit" (Leistungsort außerhalb des Betriebs oder der Betriebsstätte des Arbeitgebers) herauszulösen. Die Vorhersehbarkeit wechselnder Tätigkeitsstätten und die "Möglichkeit", Wegekosten zu mindern, sind keine Tatbestandsmerkmale der in § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG geregelten Entfernungspauschale. Der Umstand, dass sich der Arbeitnehmer in unterschiedlicher Weise auf die immer gleichen Wege einstellen und so auf eine Minderung der Wegekosten etwa durch die Bildung von Fahrgemeinschaften, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und gegebenenfalls sogar durch eine entsprechende Wohnsitznahme hinwirken kann, beschreibt lediglich generalisierend und typisierend den Regelfall, nach dem sich die Regelung des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip erweist (Senatsurteile vom 17. Juni 2010 VI R 35/08, BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852, m.w.N., und in BFH/NV 2017, 281). Individuelle Zufälligkeiten und Besonderheiten in der tatsächlichen Ausgestaltung eines Arbeitsverhältnisses bleiben hierbei unberücksichtigt (Senatsurteile vom 6. November 2014 VI R 21/14, BFHE 247, 427, BStBl II 2015, 338, und vom 15. Mai 2013 VI R 18/12, BFHE 241, 374, BStBl II 2013, 838, m.w.N.).

  9. 3. Hiernach hat das FG im zweiten Rechtsgang festzustellen, ob der Kläger unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze im Streitjahr überhaupt eine regelmäßige Arbeitsstätte innehatte oder ob er nicht vielmehr insgesamt eine Auswärtstätigkeit ausgeübt hat. Der Senat weist für den zweiten Rechtsgang zur Beschleunigung des Verfahrens ‑‑ohne Bindungswirkung‑‑ insoweit darauf hin, dass Letzteres nach den im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu den vielfältigen beruflichen Tätigkeiten des Klägers, die er im Außendienst außerhalb des Zentralklärwerks zu erbringen hatte und die nicht nur in zeitlicher, sondern auch in qualitativer Hinsicht jedenfalls auch einen wesentlichen Aspekt der Berufstätigkeit des Klägers dargestellt haben dürften, eher naheliegt als die (bisherige) Würdigung des FG.

  10. Sollte das FG im zweiten Rechtsgang nicht mehr von einer regelmäßigen Arbeitsstätte des Klägers im Zentralklärwerk ausgehen, wird es auch die Höhe der geltend gemachten Wegekosten zu prüfen haben. Zudem hat das FA in dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid ‑‑anders als die Kläger meinen‑‑ bereits 672 € Fahrtkosten unter Anwendung der Entfernungspauschale anerkannt. Die Klage könnte daher nur in Höhe der Differenz zwischen den nach § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG anzuerkennenden Fahrtkosten und der bereits berücksichtigten Entfernungspauschale Erfolg haben.

  11. 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

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