ECLI:DE:BFH:2017:B.200717.VIIIB107.16.0
BFH VIII. Senat
GVG § 198, FGO § 115 Abs 2 Nr 2, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 96 Abs 2, FGO § 76 Abs 2, GG Art 103 Abs 1
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 14. September 2016, Az: 5 K 757/09
Leitsätze
1. NV: Bei einer Schätzung des FG liegt ein zur Zulassung der Revision berechtigender erheblicher Rechtsfehler aufgrund objektiver Willkür i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO allenfalls dann vor, wenn das Schätzungsergebnis des FG wirtschaftlich unmöglich und damit schlechthin unvertretbar ist .
2. NV: Wird als Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO die überlange Dauer des FG-Verfahrens gerügt, dann muss vorgetragen werden, dass es bei einer kürzeren Verfahrensdauer zu einer inhaltlich anderen Entscheidung des FG hätte kommen können .
3. NV: Die überlange Verfahrensdauer ist nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG zunächst mit der Verzögerungsrüge im FG-Verfahren und nicht im Verfahren der Beschwerde über die Nichtzulassung der Revision geltend zu machen .
Tenor
Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 15. September 2016 5 K 757/09 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) genannten Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen entweder der Sache nach nicht vor oder sind nicht den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend vorgetragen worden.
1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) ist nicht in der gebotenen Form dargelegt worden.
a) Wird die Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund gestützt, muss der Beschwerdeführer eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen. Eine solche ist dann gegeben, wenn in einem Verfahren eine Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, die im Interesse der Allgemeinheit der Klärung bedarf. Allein das Fehlen einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu der konkreten Fallgestaltung begründet weder einen Klärungsbedarf noch das erforderliche Allgemeininteresse (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2008 VIII B 253/05, BFH/NV 2008, 740). Eine grundsätzliche Bedeutung ist auch dann nicht gegeben, wenn es um eine Frage geht, die nur anhand einzelfallbezogener Umstände beantwortet werden kann und vom Finanzgericht (FG) auch in diesem Sinne behandelt worden ist (BFH-Beschluss vom 15. Februar 2006 I B 168/05, BFH/NV 2006, 1121).
b) Diese Voraussetzungen für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung sind vorliegend nicht erfüllt. Die Kläger haben keine für die Allgemeinheit bedeutsamen Rechtsfragen herausgestellt, die in einem Revisionsverfahren geklärt werden könnten. Im Kern richten sich ihre Einwendungen nach Art einer Revisionsbegründung gegen die materiell-rechtliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung. Die Rüge der falschen Rechtsanwendung und tatsächlichen Würdigung des Streitfalls durch das FG im Rahmen einer Schätzung ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren jedoch grundsätzlich unbeachtlich. Dies gilt insbesondere für Einwände gegen die Richtigkeit von Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen, wie Verstöße gegen anerkannte Schätzungsgrundsätze, Denkgesetze und Erfahrungssätze sowie materielle Rechtsfehler (BFH-Beschluss vom 21. Januar 2009 X B 125/08, BFH/NV 2009, 951).
2. Aus den gleichen Gründen ist die Revision auch nicht zur Fortbildung des Rechts gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO zuzulassen. Denn die Zulassung der Revision zur Fortbildung des Rechts erfordert als spezieller Tatbestand der Grundsatzrevision (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) gleichfalls das Herausstellen einer klärungsbedürftigen und klärbaren Rechtsfrage, deren Klärung in einem künftigen Revisionsverfahren zu erwarten ist (z.B. BFH-Beschlüsse vom 14. August 2006 III B 198/05, BFH/NV 2006, 2281, und vom 7. Juni 2011 X B 212/10, BFH/NV 2011, 1709).
3. Die Revision ist auch nicht wegen der Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO).
a) Zwar ist die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO auch dann zuzulassen, wenn die Entscheidung des FG in einem solchen Maße fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 5. September 2011 X B 144/10, BFH/NV 2012, 3, m.w.N.); die Entscheidung muss objektiv willkürlich erscheinen oder greifbar gesetzwidrig sein.
b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall jedoch nicht vor. Ein zur Zulassung der Revision berechtigender erheblicher Rechtsfehler aufgrund objektiver Willkür kann allenfalls in Fällen bejaht werden, in denen das Schätzungsergebnis des FG wirtschaftlich unmöglich und damit schlechthin unvertretbar ist (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2009, 951; vom 27. Januar 2009 X B 28/08, BFH/NV 2009, 717, und vom 10. Mai 2012 X B 71/11, BFH/NV 2012, 1461). Das Vorliegen dieser besonderen Umstände ist im Streitfall jedoch nicht erkennbar. Das FG hat bei seiner Schätzung der ausländischen Kapitaleinkünfte den sich aus der Liste der Barauszahlungen ergebenen Betrag und die geglätteten Umlaufrenditen festverzinslicher Wertpapiere bezogen auf den Streitzeitraum zugrunde gelegt. Zwar erheben die Kläger zahlreiche Einwände gegen diese Schätzung. Einen erheblichen Rechtsanwendungsfehler des FG, der gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zur Zulassung der Revision führen könnte, haben sie damit aber nicht dargelegt.
c) Die Revision ist auch nicht wegen einer Divergenz des FG-Urteils zuzulassen. Zur Darlegung einer Divergenz müssen die tragenden Gründe der angefochtenen Entscheidung und einer konkret benannten Divergenzentscheidung derart gegenübergestellt werden, dass eine Abweichung im Grundsätzlichen erkennbar wird (vgl. BFH-Beschluss vom 8. August 2013 II B 3/13, BFH/NV 2013, 1805, m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerde nicht. Es werden von den Klägern keine abweichenden konkreten Rechtssätze aus der Entscheidung des FG und einer näher bezeichneten Divergenzentscheidung herausgearbeitet und gegenübergestellt.
4. Die Revision ist auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen.
a) Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör nicht verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO und § 76 Abs. 2 FGO), weil es eine eigene Schätzung vorgenommen hat. Weder liegt deshalb eine Überraschungsentscheidung vor noch bestand eine weitergehende Hinweispflicht des FG.
aa) Eine Überraschungsentscheidung kann zwar vorliegen, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom 13. Juli 2012 IX B 3/12, BFH/NV 2012, 1635). Einer umfassenden Erörterung der für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte bedarf es dabei aber nicht (so schon BFH-Beschluss vom 25. Mai 2000 VI B 100/00, BFH/NV 2000, 1235). Im vorliegenden Fall scheidet eine solche Überraschungsentscheidung aus, weil die Steuerhinterziehung der Kläger das zentrale Thema des Verfahrens war und die Kläger daher mit einer eigenen Schätzung des FG rechnen mussten.
bb) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das FG auch nicht, den Beteiligten die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte anzudeuten und diese mit den Beteiligten umfassend zu erörtern (BFH-Beschluss vom 12. Juli 2012 I B 131/11, BFH/NV 2012, 1815). Dies gilt erst Recht im Verhältnis zu einem Beteiligten, der ‑‑wie im Streitfall die Kläger‑‑ rechtskundig beraten ist (vgl. BFH-Beschluss vom 6. März 2013 X B 139/12, BFH/NV 2013, 978, m.w.N.).
b) Die von den Klägern vorgebrachte Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) wurde mangels hinreichender Angaben und Ausführungen nicht i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargetan.
aa) Wird die Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO gerügt, muss dargelegt werden, weshalb sich auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG eine weitere Aufklärung des Sachverhalts hätte aufdrängen müssen. Dies erfordert nicht nur die genaue Angabe des Beweisthemas und der Beweismittel, die das Gericht nicht berücksichtigt hat. Geboten ist darüber hinaus die Darlegung, welches Ergebnis die unterlassene Beweisaufnahme nach Auffassung der Kläger erbracht hätte und wieso dieses Ergebnis zu einer anderen Entscheidung des FG hätte führen können (BFH-Beschluss vom 2. März 2017 XI B 81/16, BFH/NV 2017, 748).
bb) Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung der Kläger nicht. Die Kläger bringen lediglich vor, dem FG hätte sich aufdrängen müssen, dass noch nicht alles getan worden sei, um den Sachverhalt aufzuklären. Damit kann die Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers nicht erreicht werden.
c) Ein Verfahrensmangel liegt auch nicht wegen einer überlangen Verfahrensdauer vor. Selbst wenn eine solche vorläge, stellt diese nur dann einen Verfahrensmangel dar, wenn die Kläger darlegen, dass es bei einer kürzeren Verfahrensdauer zu einer anderen Entscheidung des FG hätte kommen können (vgl. BFH-Beschlüsse vom 8. Mai 2014 X B 105/13, BFH/NV 2014, 1213; vom 9. Januar 2013 X B 114/12, BFH/NV 2013, 580, unter II.3., m.w.N.). Dies haben die Kläger nicht dargelegt. Es ist zudem offensichtlich, dass dies nicht der Fall ist, da die Kläger ihrer Mitwirkungspflicht im Besteuerungsverfahren erst kurz vor der mündlichen Verhandlung des FG mit ihrem Schreiben vom 7. September 2016 nachgekommen sind. Sie haben danach selbst zur Verzögerung des Rechtsstreits beigetragen.
d) Der aus verfassungs- und menschenrechtlichen Gründen erforderliche Rechtsschutz von Verfahrensbeteiligten gegen überlange Gerichtsverfahren wird im Übrigen in erster Linie durch die Möglichkeit zur Erhebung von Verzögerungsrügen und Entschädigungsklagen nach § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) gewährleistet. Gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG ist die Dauer des Verfahrens bei dem mit der Sache befassten Gericht zu rügen und hätte danach mit der Verzögerungsrüge im FG-Verfahren geltend gemacht werden müssen.
5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhaltes sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.