ECLI:DE:BFH:2017:B.070717.VB168.16.0
BFH V. Senat
FGO § 47 Abs 1, FGO § 56, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 119 Nr 3, FGO § 126 Abs 4, AO § 79, BGB § 104 Nr 2
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 29. Juli 2015, Az: 6 K 404/15
Leitsätze
1. NV: § 126 Abs. 4 FGO ist im Verfahren über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision entsprechend anzuwenden .
2. NV: Beim Vorliegen absoluter Revisionsgründe (§ 119 FGO) findet § 126 Abs. 4 FGO grundsätzlich keine Anwendung; etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn das FG die Klage abgewiesen hat und feststeht, dass sich diese Abweisung ‑‑ungeachtet des Vorliegens eines Verfahrensfehlers‑‑ wegen einer fehlenden Sachurteilsvoraussetzung (im Streitfall: Versäumung der Klagefrist) als zutreffend erweist .
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 30. Juli 2015 6 K 404/15 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
Der Senat kann offen lassen, ob die auf Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) gestützte Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bereits wegen Versäumung der Beschwerdefrist als unzulässig zu verwerfen wäre, denn sie ist jedenfalls unbegründet.
Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Beschwerde zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
1. Weist das Finanzgericht (FG) eine Klage zu Unrecht durch Prozessurteil als unzulässig ab, statt zur Sache zu entscheiden, liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ein Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor (BFH-Beschlüsse vom 1. März 2013 IX B 144/12, BFH/NV 2013, 952, und vom 15. Juli 2013 IX B 28/13, BFH/NV 2013, 1537). Ein derartiger Mangel ist insbesondere gegeben, wenn das Gericht deshalb nicht zur Sache entscheidet, weil es zu Unrecht davon ausgeht, dass die Klagefrist versäumt ist (BFH-Urteil vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; BFH-Beschlüsse vom 26. Mai 2010 VIII B 228/09, BFH/NV 2010, 2080, und in BFH/NV 2013, 1537).
2. Im Streitfall rügt die Klägerin erfolglos, dass ‑‑entgegen den Ausführungen des FG‑‑ die einmonatige Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO eingehalten wurde, weil die Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) vom 30. Dezember 2014 ihrem Geschäftsführer (AL) erst am Wochenende vom Freitag (27. Februar 2015) bis Sonntag (1. März 2015) bekannt gegeben worden sei. Denn das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig angesehen und sie deshalb abgewiesen. Dabei ist es in zutreffender Weise davon ausgegangen, dass der Lauf der Klagefrist bereits am 20. Januar 2015 begonnen hatte. Denn es hat festgestellt, dass die Einspruchsentscheidung dem Geschäftsführer der Klägerin (AL) persönlich an dessen Wohnanschrift in Marbella (Spanien) ausgehändigt und damit wirksam bekannt gegeben wurde. Ausweislich des Rückscheins mit der Sendungsnummer (...) erfolgte die Zustellung am 20. Januar 2015.
a) Ohne Erfolg bringt die Klägerin dagegen vor, der Geschäftsführer AL sei am 20. Januar 2015 schon nicht mehr in Marbella/ Spanien wohnhaft gewesen, sondern ausweislich des Mietvertrags vom 5. Januar 2014 und des Ausländerausweises für die Schweiz vom 10. Oktober 2014 bereits nach Genf verzogen, sodass die Einspruchsentscheidung vom 30. Dezember 2014 nicht von ihm, sondern von seiner dort noch wohnenden Großmutter entgegengenommen und der Rückschein von dieser unterschrieben worden sei.
aa) Gegen die Aufgabe des Wohnsitzes in Marbella/Spanien im Januar 2015 spricht bereits, dass die Klage von AL mit Fax vom 2. März 2015 von Marbella/Spanien aus erhoben wurde und der Geschäftsführer AL dabei nicht nur mitteilte, die Einspruchsentscheidung sei ihm unter "seiner Adresse in Spanien" bekannt gegeben worden, sondern er außerdem darum bat, die Korrespondenz (vorläufig) "über die spanische Adresse (siehe Einspruchsentscheidung) zu führen". Darüber hinaus hatten die spanischen Finanzbehörden auf ein Auskunftsersuchen der deutschen Finanzverwaltung am 6. Oktober 2014 eine Ortsbegehung durchgeführt und dabei die Wohnanschrift des Geschäftsführers AL in Marbella bestätigt ("Through visit by a tax agent ... is confirmed ..."). Im Übrigen ergibt sich aus dem im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde vorgelegten Arztbrief vom 2. März 2017, dass der Geschäftsführer AL die Adresse in Marbella/Spanien als seinen Wohnsitz angegeben hat. Hieraus steht zur Überzeugung des Senats fest, dass AL seinen Wohnsitz in Marbella jedenfalls im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 20. Januar 2015 noch innehatte.
bb) Der Senat ist außerdem davon überzeugt, dass nicht die Großmutter des Geschäftsführers, sondern AL selbst mit seiner Unterschrift die Entgegennahme der Einspruchsentscheidung am 20. Januar 2015 bestätigt hat.
Wie das FA zutreffend ausführt, ergibt sich aus einem Vergleich der Unterschrift des Geschäftsführers AL auf der Klageschrift vom 2. März 2015 mit der Unterschrift auf den Rückscheinen vom 22. Dezember 2014 (Umsatzsteuerbescheide) und vom 20. Januar 2015 (Einspruchsentscheidung), dass diese von derselben Person und damit vom Geschäftsführer AL stammen. Die Ausführungen auf S. 4 des Schriftsatzes der Klägerin vom 10. März 2017, wonach der Sachverhalt aus Krankheitsgründen und Scham zunächst anders dargestellt wurde, bestätigen die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung an AL.
b) Eine wirksame Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung am 20. Januar 2015 scheitert nicht an der fehlenden Handlungsfähigkeit des Geschäftsführers der Klägerin.
aa) Die wirksame Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes und damit auch die einer Einspruchsentscheidung setzt die (passive) Handlungsfähigkeit des Empfängers voraus (BFH-Urteil vom 16. April 1997 XI R 61/94, BFHE 183, 13, BStBl II 1997, 595, Rz 14; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 79 AO Rz 6). Fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen sind nach § 79 Abs. 1 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) bei juristischen Personen ihre gesetzlichen Vertreter. Bei Gesellschaften mit beschränkter Haftung -wie im Streitfall die Klägerin‑‑ ist dies (vgl. § 35 Abs. 1 des Gesetzes über die Gesellschaften mit beschränkter Haftung) ihr Geschäftsführer (AL). Die gesetzlichen Vertreter werden dadurch nicht selbst zu Beteiligten, müssen aber selbst handlungsfähig und damit geschäftsfähig sein (Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 79 AO Rz 25). Die vorliegend von der Klägerin bestrittene Handlungsfähigkeit ihres Geschäftsführers setzt somit dessen Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht voraus.
bb) Geschäftsunfähig ist nach § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.
Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln (Urteil des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 5. Dezember 1995 XI ZR 70/95, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 1996, 918, Leitsatz). Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (BGH-Urteil in NJW 1996, 918, Rz 11). Ein Ausschluss der freien Willensbildung ist nur dann substantiiert dargelegt, wenn das Gericht auf der Grundlage des Klägervorbringens zu dem Ergebnis kommen muss, die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB lägen vor.
cc) Der Senat hat keine Zweifel an der Geschäftsfähigkeit des Geschäftsführers AL.
Der Vortrag der Klägerin beschränkt sich auf pauschale Behauptungen zum Krankheitsbild einer schweren Depression sowie zu deren denkbaren Folgen. Insoweit fehlt es insbesondere am Vortrag von Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass die Depression des Klägers einen Zustand erreichte, der die freie Willensbildung des AL beeinträchtigte. Aus der allgemeinen Beschreibung von den mit einer Depression einhergehenden Symptomen folgt nicht, dass AL dauerhaft und durchgängig einen freien Willen nicht hätte bilden können. Dies gilt umso mehr, als Depressionen bekanntermaßen in vielfältigen und völlig unterschiedlich ausgeprägten Formen vorkommen und depressive Erkrankungen regelmäßig Schwankungen unterliegen. Dass AL dauerhaft oder zumindest für einen längeren Zeitraum nicht mehr in der Lage war, Alltagstätigkeiten auszuführen, ergibt sich aus diesem Vortrag nicht.
Auch die medizinische Beurteilung des Arztes Dr. F aufgrund einer Konsultation vom 2. März 2017 ist nicht geeignet, den Senat von der Geschäftsunfähigkeit des Geschäftsführers im Zeitpunkt der Entgegennahme der Einspruchsentscheidung am 20. Januar 2015 zu überzeugen.
Nach dem Arztbrief vom 2. März 2017 war AL aufgrund einer chronischen Depression bereits seit Juli 2014 in Intensivbehandlung mit wöchentlicher Verhaltenstherapie; er erhielt Antidepressiva sowie angstlösende und schlaffördernde Medikamente. Die klinische Beurteilung lautet "Generalisiertes Angstsyndrom, starke depressive Episode, chronische Depression".
Ob eine starke depressive Episode geeignet ist, zur Geschäftsunfähigkeit zu führen, kann im Streitfall offen bleiben. Denn aus dem Arztbrief ist nicht ersichtlich, dass eine derartige Episode gerade zum maßgeblichen Zeitpunkt (am 20. Januar 2015) bestand. Ausführungen hierzu wären nicht nur deshalb erforderlich gewesen, weil sich die Behandlungszeit nach den Ausführungen des Arztes vom Juli 2014 bis März 2017 erstreckte, sondern auch deshalb, weil der Geschäftsführer AL bereits wenige Wochen nach der Entgegennahme der Einspruchsentscheidung am 20. Januar 2015 in der Lage war, die Klageschrift vom 2. März 2015 aufzusetzen bzw. aufsetzen zu lassen und an das FG zu faxen.
3. Die Rüge einer Verletzung rechtlichen Gehörs nach § 119 Nr. 3 FGO bleibt ohne Erfolg.
a) Ein Urteil ist stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn einem Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war (§ 119 Nr. 3 FGO). Das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes hat grundsätzlich zur Folge, dass das Urteil des FG aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen ist. Bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes ist § 126 Abs. 4 FGO daher grundsätzlich nicht anwendbar (ständige BFH-Rechtsprechung, vgl. Urteile vom 27. März 2001 VII R 62/00, BFH/NV 2001, 1037; vom 27. März 2001 I R 80/99, BFH/NV 2001, 1277, sowie vom 5. September 2001 I R 101/99, BFH/NV 2002, 493; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 119 Rz 1, m.w.N.).
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Zurückverweisung ist allerdings dann zugelassen, wenn das FG die Klage abgewiesen hat und sich diese Abweisung ‑‑ungeachtet des Vorliegens eines Verfahrensfehlers‑‑ im Ergebnis aus prozessualen Gründen als richtig erweist (BFH-Urteile in BFH/NV 2001, 1037, Rz 13; in BFH/NV 2001, 1277, Rz 16, sowie in BFH/NV 2002, 493, Rz 12; Senatsurteil vom 24. September 1998 V R 82/97, BFH/NV 1999, 487, Rz 16; BFH-Urteile vom 8. Juli 1994 III R 78/92, BFHE 175, 7, BStBl II 1994, 859, Rz 29; vom 10. März 1987 IX R 51/86, BFH/NV 1988, 35, Rz 18; vom 21. Januar 1999 IV R 40/98, BFHE 188, 523, BStBl II 1999, 563, Rz 17, und vom 2. Juli 1998 IV R 79/95, juris, Rz 15, sowie vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492, Rz 8; ebenso Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 119 FGO Rz 232; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 FGO Rz 18; Rüsken in Beermann/ Gosch, FGO § 126 Rz 42; Gräber/Ratschow, a.a.O., § 119 Rz 3).
b) Da § 126 Abs. 4 FGO nach ständiger Rechtsprechung des BFH im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde entsprechende Anwendung findet (vgl. zuletzt BFH-Beschluss vom 18. Juni 2015 X B 20/15, BFH/NV 2015, 1418), ist die Beschwerde jedenfalls dann zurückzuweisen, wenn das FG die Klage als unzulässig abgewiesen hat und sich diese Abweisung aus prozessualen Gründen als zutreffend erweist. In diesem Ausnahmefall kann es wegen der Unzulässigkeit der Klage zu keiner materiell-rechtlichen Prüfung des Klagebegehrens kommen (Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 119 FGO Rz 18), sodass das FG nach einer Zurückverweisung die Klage erneut als unzulässig abweisen müsste.
c) Im Streitfall kann der Senat unentschieden lassen, ob die Voraussetzungen eines absoluten Revisionsgrundes vorliegen, weil der Klägerin die Aufforderung des FG nach § 53 Abs. 3 FGO zur Bestellung eines inländischen Empfangsbevollmächtigten vom 20. März 2015 nicht feststellbar bekannt gegeben wurde und damit eine ordnungsgemäße Ladung der Klägerin zur mündlichen Verhandlung ungewiss bleibt. Selbst wenn dies der Fall wäre und damit eine Verletzung des § 119 Nr. 3 FGO vorläge, käme ausnahmsweise eine Aufhebung und Zurückverweisung an das FG nicht in Betracht, weil feststeht, dass die Aufhebung und Zurückverweisung nur zu einer erneuten Abweisung der unzulässigen Klage und damit zur Wiederholung des angefochtenen Urteils führen würde.
Nach den Ausführungen des Senats unter 2. der Gründe steht fest, dass die Klage verspätet erhoben wurde und damit unzulässig war. Zu einer anderen Entscheidung könnte das FG auch nicht im Hinblick darauf kommen, dass der Klägerin wegen der behaupteten Krankheit ihres Geschäftsführers AL Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Klagefrist zu gewähren wäre. Denn nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder ohne Antrag bewilligt werden, außer wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 56 Abs. 3 FGO). Maßgebend für den Beginn dieser Ausschlussfrist ist nicht der Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses, sondern das Ende der versäumten Frist.
Anhaltspunkte für das Vorliegen von höherer Gewalt sind weder vorgetragen noch für den Senat ersichtlich. Da die Klägerin erst im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zur Krankheit ihres Geschäftsführers vorgetragen hat, waren dem FG vor Ablauf der Jahresfrist auch keinerlei Tatsachen erkennbar, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen begründen könnten. Die versäumte Klagefrist endete mit Ablauf des 20. Februar 2015, sodass die Jahresfrist inzwischen verstrichen ist.
4. Von einer Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.