ECLI:DE:BFH:2016:B.281116.IB16.16.0
BFH I. Senat
FGO § 96 Abs 2, FGO § 119 Abs 3, FGO § 155, ZPO § 227, GG Art 103 Abs 1
vorgehend FG Düsseldorf, 08. Dezember 2015, Az: 4 K 3935/15 E,G,F
Leitsätze
NV: Ist ein Beteiligter aus gesundheitlichen (hier: psychischen) Gründen nicht in der Lage, auf eine richterliche Hinweis- und Auflagenverfügung zu reagieren oder darüber mit seinem Bevollmächtigten zu kommunizieren, kann es geboten sein, einem Antrag auf Aufhebung eines danach anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung stattzugeben.
Tenor
1. Die Beschwerdeverfahren I B 16/16 und I B 17/16 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Auf die Beschwerden der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision werden die Urteile des Finanzgerichts Düsseldorf vom 9. Dezember 2015 4 K 3935/15 E,G,F und 4 K 3934/15 E,AO aufgehoben.
Die Sachen werden an das Finanzgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten der Beschwerdeverfahren übertragen.
Tatbestand
I. Die in den Streitjahren (2007, 2008 und 2011) im Inland wohnhafte Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erzielte seit 1995 als Finanzdienstleisterin Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Zwischen 2002 und Januar 2005 war sie mit dem Vertrieb von Beteiligungen an dem Schweizer Fonds A-KG an überwiegend deutsche Kleinanleger befasst und erwarb 2003 auch selbst eine Beteiligung. Nachdem der (deutsche) Initiator des Fonds in den Verdacht geraten war, in erheblichem Umfang Gelder der Anleger veruntreut zu haben, vertrat die Klägerin seit 2005 die Interessen von deutschen Kleinanlegern. Sie wurde zunächst zur Beirätin und später (im Dezember 2007) zur Geschäftsführerin der A-KG bestellt. Die Gesellschafterversammlung sagte der Klägerin im Dezember 2007 ein Honorar für die bereits geleistete Tätigkeit in Höhe von ... € zu, von dem zum Beschlusszeitpunkt noch ... € offen sei. Des Weiteren wurde der Klägerin ein Stundenhonorar von ... Schweizer Franken zugesagt. Zur Finanzierung der Rechtsverfolgung zahlten die Anleger in einen Finanzierungspool ein, aus dem der Klägerin in den Streitjahren Gelder zugeflossen sind, die die Klägerin in ihren Steuererklärungen nicht angab.
Das seinerzeit zuständige Finanzamt ... forderte die Klägerin im Rahmen einer Außenprüfung betreffend die Jahre 2006 bis 2008 mehrfach vergeblich auf, ihre Buchführungsunterlagen vorzulegen. Im Rahmen einer richterlich angeordneten Durchsuchung der Wohnräume der Klägerin konnte im Februar 2011 nur ein Teil der Buchführungsunterlagen sichergestellt und beschlagnahmt werden. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das im April 2011 zuständig gewordene Finanzamt ... ‑‑FA‑‑) erließ daraufhin u.a. für die Streitjahre 2007 und 2008 geänderte einkommen- und gewerbesteuerliche Bescheide, in denen er zu den Einkünften der Klägerin aus Gewerbebetrieb Beträge von zuletzt ... € (2007) und ... € (2008) hinzuschätzte. Für das Streitjahr 2011 schätzte das FA Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von ... € und setzte auf dieser Grundlage zunächst Einkommensteuervorauszahlungen und später die Einkommensteuer fest.
Die Klägerin machte demgegenüber u.a. geltend, sie habe Honorarzahlungen von der A-KG erstmals im Streitjahr 2011 erhalten, nachdem sie als Geschäftsführerin im Register eingetragen worden sei. Zudem stehe das Besteuerungsrecht für die Honorarzahlungen der Schweiz zu, weil die Klägerin dort eine Betriebsstätte unterhalten habe. Außerdem habe sie zum 1. Mai 2011 ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt. Bei den Leistungen aus dem Finanzierungspool habe es sich um ein Darlehen gehandelt, mit dem die Zeit bis zur Auszahlung des Honorars habe überbrückt werden sollen. In dem Verfahren betreffend den Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung der die Jahre 2006 bis 2008 betreffenden Bescheide vor dem Finanzgericht (FG) Düsseldorf ‑‑Aktenzeichen 1 V 2614/11 A (E,G)‑‑ wurde die Klägerin in einem Erörterungstermin am 24. November 2011 persönlich zur Sache angehört.
Die Klägerin hat ‑‑vertreten durch Rechtsanwalt A‑‑ u.a. gegen die Bescheide des FA für 2006 bis 2008 im Dezember 2012 (Aktenzeichen 1 bzw. 4 K 4704/12 E,G,F) und u.a. gegen den Vorauszahlungsbescheid für 2011 im Juni 2013 (Aktenzeichen 1 bzw. 4 K 2093/13 E,AO) beim FG Klage erhoben. Rechtsanwalt A erklärte gegenüber dem FG mit Schriftsätzen vom 9. Juli 2015, dass er die Klägerin nicht mehr vertrete.
Mit Schreiben des Berichterstatters vom 20. Juli 2015 teilte das FG der Klägerin in beiden Verfahren mit, dass nach Durchsicht sämtlicher Akten der Sachverhalt noch weiterer Aufklärung bedürfe. In dem Schreiben wurde der sich aus den Akten ergebende Sachstand und dessen Beurteilung durch den Berichterstatter beschrieben und die Klägerin aufgefordert, binnen eines Monats zu fünf konkret beschriebenen Sachfragen (Betriebsstätte in der Schweiz, Umzug in die Schweiz, behauptete Darlehensvereinbarung, Einkommensteuererklärung für 2011, Bewegungen auf betrieblichen Konten) weiter vorzutragen und ‑‑ggf. binnen weiterer zweier Monate‑‑ weitere Unterlagen und Kontoauszüge vorzulegen. Von der Setzung einer Ausschlussfrist gemäß § 79b der Finanzgerichtsordnung (FGO) sah das FG mit Rücksicht auf das laufende Steuerstrafverfahren ab.
Nach ergebnislosem Ablauf der Frist forderte das FG die Banken, bei denen die Klägerin betriebliche Konten unterhielt, von Amts wegen zur Vorlage von Kontoauszügen auf. Es teilte dem im Oktober 2015 von der Klägerin mit der Prozessvertretung betrauten Rechtsanwalt B am 30. Oktober 2015 (zum Verfahren 4 K 4704/12 E,G,F) mit, dass den vorliegenden Asservaten und den Bankunterlagen Einnahmen bzw. Geldflüsse von ... € zu entnehmen seien, von denen ... € den Asservaten zugeordnet werden könnten. Unter dem 3. November 2015 teilte das FG (im Verfahren 4 K 2093/13 E,AO) mit, dass für das Jahr 2011 insgesamt Zuflüsse von ... € auf den Konten festgestellt worden seien. Unter dem 4. November 2015 bestimmte das FG in beiden Verfahren Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 9. Dezember 2015. Das persönliche Erscheinen der Klägerin ordnete das FG nicht an.
Unter dem 13. November 2015 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, den Termin zur mündlichen Verhandlung aufzuheben, weil die Klägerin "verhandlungsunfähig" sei. Dem Schreiben war eine fachärztliche Bescheinigung des ärztlichen Leiters ... des Krankenhauses in ... vom 20. August 2015 beigefügt, demzufolge die Klägerin vom 10. Juni bis zum 7. August 2015 stationär im Krankenhaus behandelt worden sei. Sie sei zurzeit nicht in der Lage, sich mit komplexen Themen in irgendeiner Art und Weise auseinanderzusetzen und konfrontiert zu werden. Ihr derzeitiger Gesundheitszustand sei äußerst kritisch, sodass sie keinen Einflüssen ausgesetzt werden dürfe, die diesen weiter verschlechtern könnten. Gerichtliche Auseinandersetzungen würden den Prozess der Genesung gefährden und deutlich verlängern. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wies in dem Antragsschreiben des Weiteren darauf hin, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Genesung eingetreten sei und dass es ihm deshalb bislang nicht möglich gewesen sei, die vom FG festgestellten Zahlungsflüsse zu besprechen. Die Erörterung mit der Klägerin sei jedoch zur Terminsvorbereitung erforderlich, weil die Zahlungsflüsse anhand der von ihm in Einsicht genommenen Verfahrensakten und Asservaten nicht hinreichend nachvollzogen werden könnten.
Am 8. Dezember 2015 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, die Verfahren auszusetzen bzw. ruhend zu stellen, bis die Klägerin wieder in der Lage sei, sich mit dem Prozessstoff auseinanderzusetzen. Sie sei derzeit nicht in der Lage, zur Prozessvorbereitung mit ihm zu kommunizieren. Dem Antrag war eine weitere fachärztliche Bescheinigung vom 1. Dezember 2015 beigefügt. Darin heißt es, die Klägerin "leidet an einer psychischen Erkrankung, die ihre aktuelle Verhandlungsunfähigkeit bedingt. Sie ist nicht in der Lage, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen oder konfrontiert zu werden. Eine diesbezügliche Kommunikation mit ihrem Anwalt zur Prozessvorbereitung ist zurzeit ebenfalls nicht möglich. Durch die Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung würde der Prozess der Genesung gefährdet und deutlich verlängert werden. Zudem besteht die Gefahr der weiteren Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands".
Das FG hat den ‑‑in der mündlichen Verhandlung wiederholten‑‑ Anträgen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht stattgegeben. Es hat die Verfahren betreffend die Streitjahre 2007 und 2008 ‑‑nunmehr Aktenzeichen 4 K 3935/15 E,G,F‑‑ einerseits und das Verfahren betreffend die Festsetzung der Einkommensteuer 2011 ‑‑nunmehr Aktenzeichen 4 K 3934/15 E,AO‑‑ andererseits abgetrennt und die diesbezüglichen Klagen mit Urteilen vom 9. Dezember 2015 4 K 3935/15 E,G,F bzw. 4 K 3934/15 E,AO als unbegründet abgewiesen. Die Ablehnung der Vertagungs- und Aussetzungsanträge hat das FG damit begründet, dass die Streitstoffe hinsichtlich der Streitjahre 2007 und 2008 seit Klageerhebung und hinsichtlich der Einkommensteuer 2011 seit Erlass des Einkommensteuerbescheids vom 15. August 2014 unverändert geblieben seien. Zudem habe im November 2011 ‑‑im Verfahren 1 V 2614/11 A (E,G)‑‑ ein Erörterungstermin stattgefunden. Die mit Schreiben des Gerichts vom 30. Oktober/ 3. November 2015 mitgeteilten Geldbewegungen beträfen die Streitjahre 2007 und 2008 nicht; soweit sie das Jahr 2011 beträfen, seien sie nicht zur Grundlage der Schätzung gemacht worden. Eine mangelnde Vorbereitung i.S. von § 227 Abs. 1 Nr. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht behauptet.
Die Klägerin beantragt mit ihren Beschwerden, die Revision gegen die FG-Urteile zuzulassen und macht Verstöße gegen ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs geltend.
Das FA beantragt, die Nichtzulassungsbeschwerden zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die vom Senat gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO zu gemeinsamer Entscheidung verbundenen Beschwerden sind begründet und führen gemäß § 116 Abs. 6 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Die Urteile der Vorinstanz sind insoweit verfahrensfehlerhaft ergangen, als das FG die Anträge auf Terminsaufhebung nicht ohne Weiteres hätte ablehnen dürfen und dadurch den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑, § 96 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO) verletzt hat.
1. Nach § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO kann das FG aus erheblichen Gründen einen Termin aufheben oder verlegen. Diese erheblichen Gründe sind auf Verlangen glaubhaft zu machen (§ 227 Abs. 2 ZPO). Wenn erhebliche Gründe vorliegen, verdichtet sich das Ermessen des FG zu einer Rechtspflicht und muss der Termin zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Der durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet das FG, einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag aufzuheben oder zu verlegen, wenn dafür nach den Umständen des Falls, insbesondere dem Prozessstoff oder den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten bzw. seines Prozessbevollmächtigten erhebliche Gründe vorliegen. Bei der Prüfung der Gründe muss das FG zugunsten des Beteiligten berücksichtigen, dass es einzige Tatsacheninstanz ist und der Beteiligte ein Recht hat, seine Sache in der mündlichen Verhandlung zu vertreten (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 19. Oktober 2012 VII B 79/12, BFH/NV 2013, 225; vom 13. September 2013 IX B 63/13, BFH/NV 2014, 53).
2. In den Streitfällen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin durch Vorlage der fachärztlichen Atteste einen erheblichen Grund zur Terminsaufhebung glaubhaft gemacht. Die Atteste legen nahe, dass die Klägerin zu dem Zeitpunkt, in dem das FG sie mit den Schreiben vom 20. Juli 2015 zur Ergänzung ihres Vortrags aufgefordert hat, aus gesundheitlichen Gründen (stationäre Unterbringung aus psychischen Gründen vom 10. Juni bis 7. August 2015) nicht in der Lage gewesen ist, sich mit der gerichtlichen Aufforderung zu befassen oder mit einem Bevollmächtigten in der Weise zu kommunizieren, dass diesem ein fundierter Vortrag möglich ist und dass sich an diesem Zustand bis zur mündlichen Verhandlung nichts Wesentliches geändert hat. In einem solchen Fall gebietet es der Grundsatz rechtlichen Gehörs, dass sich das Gericht, z.B. durch Anhörung des behandelnden Arztes oder ggf. eines Amtsarztes, ein genaueres Bild von Art und Intensität der gesundheitlichen Beeinträchtigung verschafft. Denn ohne eine genauere Kenntnis von der Art und Intensität der Erkrankung lässt sich nicht beurteilen, ob eine Vertagung zweckmäßig sein kann ‑‑z.B. weil eine Stabilisierung des Gesundheitszustands in einem vertretbaren Zeitrahmen vorstellbar ist‑‑ oder ob auf unabsehbare Zeit mit einer Mitwirkung der Klägerin an der Aufklärung des Sachverhalts nicht gerechnet werden kann.
3. An dieser Beurteilung ändert es nichts, dass die Klägerin in der Vergangenheit offenkundig ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht vollständig nachgekommen ist und das FA deshalb gehalten war, die angefochtenen Bescheide auf der Grundlage von Schätzungen zu erlassen und dass die Klägerin im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits persönlich angehört worden ist. Denn das FG hat mit dem Schreiben des Berichterstatters vom 20. Juli 2015 der Klägerin (letztmals) Gelegenheit geben wollen, ihren Sachvortrag anhand der mitgeteilten richterlichen Beurteilung des Sach- und Streitstands ‑‑der mit den späteren Begründungen der angefochtenen Urteile im Wesentlichen deckungsgleich ist‑‑ zu ergänzen. Waren aber weder die Klägerin persönlich (aus gesundheitlichen Gründen) noch der bestellte Prozessbevollmächtigte (wegen fehlender Möglichkeit zur fachlichen Kommunikation mit der Klägerin) in der Lage, diese Gelegenheit wahrzunehmen, hätte das FG auch unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens (dazu z.B. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2013 1 BvR 1623/11, Neue Juristische Wochenschrift 2014, 205) prüfen müssen, ob es sich dabei um ein nur vorübergehendes Hindernis handelt.
Aus diesem Grund spielt es im Streitfall auch keine Rolle, dass die Klägerin vom FG nicht persönlich zu der mündlichen Verhandlung geladen worden ist und dass sie dort durch einen Rechtsanwalt vertreten war. Denn anders als in den vom FG in Bezug genommenen Fällen (BFH-Beschlüsse vom 28. September 2006 V B 69/05, V B 76/05, BFH/NV 2007, 250; vom 12. August 2008 VII B 101/08, juris; s.a. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2014, 53, und vom 14. August 2014 X B 174/13, BFH/NV 2014, 1725) geht es hier nicht nur um die Anwesenheit der Klägerin im Sitzungstermin, sondern auch um die Reaktionsmöglichkeit auf eine zuvor ergangene richterliche Hinweis- und Auflagenverfügung.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.