ECLI:DE:BFH:2016:U.130716.XIR7.15.0
BFH XI. Senat
EStG § 64 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 883/2004 Art 67, EGV 883/2004 Art 68, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EStG VZ 2010
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 23. Februar 2015, Az: 6 K 4193/10
Leitsätze
NV: Der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind dort in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 24. Februar 2015 6 K 4193/10 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I. Der im Inland wohnhafte und abhängig beschäftigte Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger und begehrt für Oktober 2010 (Streitzeitraum) die Festsetzung von Kindergeld für seine im Juli 1998 geborenen Kinder A und B.
Beide Kinder leben im Haushalt der vom Kläger geschiedenen und im Streitzeitraum ebenfalls berufstätigen Kindsmutter in der Republik Polen (Polen). Die Kindsmutter hatte im Streitzeitraum keinen Anspruch auf Familienleistungen nach polnischem Recht, da ihr Einkommen die dort maßgebliche Einkommensgrenze überstieg (Bescheid des Regionalzentrums für Sozialpolitik in X/Polen vom 20. April 2010).
Mit Bescheid vom 16. September 2010 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes, das der Kläger für die beiden Kinder bisher bezogen hatte, mit Wirkung ab Oktober 2010 auf.
Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit der Begründung zurück, die Kindsmutter sei gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig anspruchsberechtigt, da sie beide Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe (Einspruchsentscheidung vom 14. Oktober 2010).
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für beide Kinder für Oktober 2010 festzusetzen.
Es führte aus, eine Anspruchskonkurrenz nach Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 883/2004) bestehe nicht, denn dem Anspruch des Klägers auf deutsches Kindergeld stehe wegen des Überschreitens der Einkommensgrenzen kein Anspruch der Kindsmutter auf polnische Familienleistungen gegenüber. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG sei tatbestandlich nicht anwendbar, da lediglich der Kläger, nicht aber die Kindsmutter die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfülle und es somit nicht mehrere Berechtigte gebe. Aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 987/2009) ergebe sich keine andere Beurteilung.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die unzutreffende Auslegung von § 64 EStG.
Es sei gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit den Kindern A und B in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebe. In diesem Fall wäre sie gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gegenüber dem Kläger vorrangig kindergeldberechtigt, da sie beide Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Er hält die Begründung des FG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Polen lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.
1. Der Kläger erfüllte im Streitzeitraum (Oktober 2010, dem Monat der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung; vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 25. September 2014 III R 36/12, BFHE 247, 488, BStBl II 2015, 286, Rz 16) nach den für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden ‑‑und zwischen den Beteiligten unstreitigen‑‑ tatsächlichen Feststellungen des FG die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld.
Er hatte seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die im Streitzeitraum minderjährigen Kinder A und B sind bei ihm zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG; § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG). Dass beide Kinder ihren Wohnsitz in Polen hatten, ist für die Kindergeldberechtigung unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG in der bis zum 8. Dezember 2014 geltenden Fassung).
2. Allerdings ist die Kindsmutter ‑‑entgegen der Rechtsauffassung des FG‑‑ nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).
b) Anders als das FG und der Kläger meinen, ist die Kindsmutter als weitere "Berechtigte" i.S. von § 64 EStG anzusehen. Ihre Berechtigung ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter mit beiden Kindern in Deutschland wohnt.
aa) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten.
bb) Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist eröffnet, denn der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger (Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) und Kindergeld ist eine Familienleistung (Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004). Die deutschen Rechtsvorschriften sind anzuwenden, da der Kläger im Streitzeitraum im Inland eine Beschäftigung ausübte (Art. 11 Abs. 1 und 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
cc) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in der Rechtssache Trapkowski mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) entschieden, dass die in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Dem folgend hat der III. Senat des BFH mit Urteilen vom 4. Februar 2016 III R 17/13 (BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 16 ff.) und vom 10. März 2016 III R 25/12 (BFH/NV 2016, 1161, Rz 20 ff.), III R 8/13 (BFH/NV 2016, 1164, Rz 21 ff.), III R 62/12 (BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 19 ff.) sowie III R 66/13 (BFH/NV 2016, 1166, Rz 19 ff.) entschieden, dass die Anwendung von Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dazu führt, dass die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen (fiktiv) in das Inland übertragen wird, d.h. die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Unbeachtlich sei, ob dem in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen nach den dort geltenden Vorschriften ein Anspruch auf Familienleistungen zustehe und damit eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben sei (BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 22; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 23; in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21; in BFH/NV 2016, 1166, Rz 21). Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehöre auch der andere Elternteil, da dieser nach nationalem Recht gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berechtigt sei, für seine leiblichen Kinder Anspruch auf Kindergeld zu erheben, und deshalb als Familienangehöriger i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004 anzusehen sei (BFH-Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 23 f.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 24 f.). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
dd) Die Anwendung der unionsrechtlichen Fiktion führt im Streitfall dazu, dass für Zwecke der Anwendung von § 64 EStG zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter zusammen mit beiden Kindern in einem Haushalt in Deutschland lebt.
ee) Anders als das FG und der Kläger meinen, kommt es ‑‑da jedenfalls Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung findet‑‑ nicht darauf an, dass die Kindsmutter keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen hat und deshalb die von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 vorausgesetzte Anspruchskonkurrenz nicht vorliegt (vgl. dazu BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 22; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 23; in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21; in BFH/NV 2016, 1166, Rz 21).
ff) Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass Art. 68a der VO Nr. 883/2004 die Möglichkeit vorsieht, das Kindergeld mit befreiender Wirkung an die natürliche oder juristische Person zu zahlen, die tatsächlich für das Kind sorgt, falls der Berechtigte die Familienleistungen nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen verwendet. Daraus lassen sich keine Rückschlüsse für die Anwendung von § 64 EStG ziehen. Denn die Abzweigung (§ 74 EStG) bezieht sich auf das Auszahlungsverfahren (vgl. BFH-Urteil vom 26. August 2010 III R 21/08, BFHE 231, 520, BStBl II 2013, 583, Rz 11, m.w.N.), setzt also denklogisch voraus, dass zuvor der gemäß § 64 EStG zum Empfang der Zahlung Berechtigte bestimmt worden ist.
c) Die Kindsmutter erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
aa) Das FG hat keine Anhaltspunkte dafür festgestellt, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist. Nach den Feststellungen des FG hatte die Kindsmutter beide Kinder in ihren Haushalt in Polen aufgenommen (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
bb) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG bestand im Streitzeitraum kein gemeinsamer Haushalt des Klägers mit der Kindsmutter und den beiden Kindern, der ‑‑gemäß der Fiktion in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009‑‑ als gemeinsamer inländischer Haushalt gelten würde; denn der Kläger war nicht in Polen wohnhaft. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur bei dieser, nicht dagegen beim Kläger, eine Haushaltsaufnahme der beiden Kinder vorliegt.
d) Es kommt nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 32 f.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 29 f.). Vielmehr ist bei der Kindsmutter der Antrag des Klägers zu berücksichtigen (Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.