ECLI:DE:BFH:2016:U.150616.IIIR73.11.0
BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 883/2004 Art 1 Buchst z, EGV 883/2004 Art 2 Abs 1, EGV 883/2004 Art 3 Abs 1 Buchst j, EGV 883/2004 Art 11 Abs 1, EGV 883/2004 Art 11 Abs 3 Buchst a, EGV 883/2004 Art 67, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1, EStG VZ 2010
vorgehend FG München, 26. Oktober 2011, Az: 5 K 2614/10
Leitsätze
NV: Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13).
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 27. Oktober 2011 5 K 2614/10 im Kostenausspruch ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es die Kindergeldansprüche für die Kinder M und P betrifft.
Insoweit wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens haben der Kläger zu 61 % und die Beklagte zu 39 % zu tragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I. Streitig sind die Kindergeldansprüche für die Kinder M und P für den Zeitraum Mai 2010 bis Juli 2010.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt seit Juli 2008 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Er ist in Deutschland als selbständiger Gewerbetreibender tätig.
Der Kläger ist der Vater dreier Kinder, nämlich des im April 1993 geborenen M, des im November 1996 geborenen P und des im Mai 2006 geborenen O. Die Kinder haben jeweils unterschiedliche Mütter, die alle polnische Staatsangehörige sind und mit ihrem jeweiligen Kind in Polen leben.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom 10. Juni 2010 die Festsetzung von Kindergeld für M und P jeweils ab Mai 2010 ab. Ebenso hob die Familienkasse mit Bescheid vom 10. Juni 2010 die Festsetzung des Kindergeldes für O ab Mai 2010 auf. Zur Begründung führte sie aus, M, P und O lebten im Haushalt der Kindsmütter in Polen; diese seien somit vorrangig kindergeldberechtigt.
Die Einsprüche blieben ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 8. Juli 2010).
Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger inländisches Kindergeld für M und P für den Zeitraum Mai 2010 bis Juli 2010 sowie Differenzkindergeld für O ab Juli 2010.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 249 veröffentlichten Urteil zum Teil statt. Es war der Ansicht, dem Kläger stehe für den Streitzeitraum von Mai 2010 bis Juli 2010 inländisches Kindergeld für seinen in Polen lebenden Sohn M sowie ab Juli 2010 Differenzkindergeld für seinen in Polen lebenden Sohn O zu. Das FG verpflichtete die Familienkasse weiter, unter Beachtung seiner Rechtsauffassung den Kindergeldantrag für P für den Zeitraum Mai 2010 bis Juli 2010 zu bescheiden. Im Übrigen wies es die Klage ab.
Mit ihrer Revision wendet sich die Familienkasse gegen das Urteil des FG im Hinblick auf die Kindergeldansprüche für P und M und rügt insoweit die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG München vom 27. Oktober 2011 5 K 2614/10 hinsichtlich der Kindergeldansprüche für M und P aufzuheben und die Klage insoweit abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Mit Beschluss vom 2. Dezember 2014 hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils insoweit, als es die Kindergeldansprüche für M und P betrifft; insoweit ist die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld für M und für P dem Kläger zusteht. Denn der Kläger ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 EStG) anspruchsberechtigt (dazu 1.). Aber der Kindsmutter des M und der Kindsmutter des P stehen nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangige Kindergeldansprüche zu (dazu 2. bis 6.).
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde ‑‑für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)‑‑ vom FG festgestellt. Unerheblich ist insoweit, dass M und P ihren Wohnsitz in Polen haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings sind die jeweiligen Kindsmütter ‑‑entgegen der Rechtsauffassung des FG‑‑ nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)‑‑ i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ zu unterstellen ist, dass diese mit M und mit P in Deutschland wohnen.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der jeweiligen Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz bei den beiden Kindsmüttern tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der jeweiligen Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllen die Kindsmütter jeweils auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland der danach zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger im Streitzeitraum eine selbständige Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgeübt hat, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004).
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der jeweiligen Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.
5. Die Kindsmutter des M und die Kindsmutter des P erfüllen jeweils neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Denn nach den Feststellungen des FG unterhielt der Kläger weder mit der Kindsmutter des M noch mit der Kindsmutter des P einen gemeinsamen Haushalt; die Kindsmütter unterhielten vielmehr jeweils eigene Haushalte. Ein gemeinsamer Haushalt kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ergeben. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Kindsmutter des M und der Anspruch der Kindsmutter des P nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig, da nur die jeweiligen Kindsmütter, nicht dagegen der Kläger M und P in ihren Haushalt aufgenommen haben.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die jeweilige Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auch insoweit auf die Entscheidungsgründe in dem Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13 Bezug genommen.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann die Kostenentscheidung des FG keinen Bestand haben. Der Senat hält es für angemessen, über die Kosten nach Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (z.B. BFH-Urteil vom 24. Juli 2013 XI R 24/12, BFH/NV 2013, 1920, Rz 28, m.w.N.). Danach haben nach dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens die Kosten des Verfahrens vor dem FG der Kläger zu 61 % und die Familienkasse zu 39 % zu tragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.