BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EStG § 64 Abs 2 S 2, EStG § 64 Abs 3, EGV 883/2004 Art 67, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EGV 883/2004 Art 1 Buchst i Nr 1 Buchst i, EGV 883/2004 Art 1 Buchst i Nr 2, EStG VZ 2010
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 07. Dezember 2011, Az: 16 K 291/11
Leitsätze
NV: Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt des geschiedenen Elternteils lebenden Kindes kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden (Anschluss an BFH-Urteil vom 28. April 2016 III R 68/13) .
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 8. Dezember 2011 16 K 291/11 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger, wohnt seit 2005 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und übt hier eine unselbständige, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aus. Er ist der Vater eines im Juni 1995 geborenen Sohnes (S).
Die nicht erwerbstätige Kindsmutter, von der der Kläger seit 2006 geschieden ist, wohnt mit S in Polen. Ein Anspruch auf polnisches Kindergeld bestand nicht.
Mit Bescheid vom 9. März 2011 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Mai 2010 auf. Zur Begründung machte sie geltend, dass die Kindsmutter das Kind in ihren Haushalt aufgenommen und deshalb einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG) habe. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 12. August 2011).
Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen erhobenen Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 849 veröffentlichten Urteil statt und hob den Aufhebungsbescheid vom 9. März 2011 auf.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 EStG ergebende Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Mit Beschluss vom 26. November 2014 hat der Senat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 zum Ruhen gebracht. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2015, 1190) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. EStG). Allerdings führt die Anwendung von Unionsrecht dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig der geschiedenen Ehefrau zusteht.
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde ‑‑für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)‑‑ vom FG festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Unerheblich ist für die Kindergeldberechtigung, dass S seinen Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil sie S in ihren Haushalt aufgenommen hat. Gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)‑‑ i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ ist zu unterstellen, dass sie mit S in Deutschland wohnt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch fingiert Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO 987/2004 einen Inlandswohnsitz der Kindsmutter (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004. Deshalb ist auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet.
b) Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004.
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.
a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigten, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahingehend, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familien in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.
b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 32 f., 35 ff.).
c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff auch Elternteile erfasst, die nicht miteinander verheiratet sind.
Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach gelten als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung zu dem Kind abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach nationalem Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und dementsprechend im dort entschiedenen Streitfall auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.
5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt in Polen hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Letzterer ergibt sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Ansprüche auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen einer fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen.
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.