BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 883/2004 Art 1 Buchst z, EGV 883/2004 Art 2 Abs 1, EGV 883/2004 Art 3 Abs 1 Buchst j, EGV 883/2004 Art 11 Abs 1, EGV 883/2004 Art 11 Abs 3 Buchst a, EGV 883/2004 Art 67, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1, EStG VZ 2010 , EStG VZ 2011
vorgehend FG Düsseldorf, 24. August 2012, Az: 10 K 2183/11 Kg
Leitsätze
1. NV: Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften Elternteils für sein in Polen im Haushalt des anderen Elternteils lebendes Kind wird nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt .
2. NV: Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i und nicht nach Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Zu den "beteiligten Personen" gehören daher die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten und damit auch der jeweils andere Elternteil, unabhängig davon, ob er mit dem im Inland lebenden Elternteil verheiratet ist oder war .
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 25. August 2012 10 K 2183/11 Kg aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger und Vater einer im August 1991 geborenen Tochter (T). Seine von ihm geschiedene Ehefrau lebt zusammen mit der gemeinsamen Tochter T in Polen. Der Kläger ist seit 2008 arbeitslos und erhält Leistungen nach den Regelungen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch. Die Kindsmutter arbeitete im Streitzeitraum in Polen als … in einem Krankenhaus. Sie hat weder einen Antrag auf Kindergeld in Polen gestellt noch ist Kindergeld in Polen gezahlt worden.
Mit Bescheid vom 19. Oktober 2010 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes ab Mai 2010 auf. Zur Begründung verwies sie darauf, dass sich seit Mai 2010 das maßgebliche Recht der Europäischen Union (EU) geändert habe.
Das Finanzgericht (FG) entsprach nach erfolglos durchgeführtem Einspruchsverfahren der Klage, mit welcher der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für seine Tochter für den Zeitraum Mai 2010 bis Mai 2011 begehrte. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der nach den §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehende Kindergeldanspruch des Klägers sei ‑‑entgegen der Auffassung der Familienkasse‑‑ nicht nach § 64 Abs. 2 EStG durch einen vorrangigen Anspruch der Kindsmutter verdrängt worden. Die Kindsmutter sei im Inland keine Berechtigte.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 64 EStG.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Mit Beschluss vom 26. November 2014 hat der Senat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 zum Ruhen gebracht. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2015, 1190) über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. EStG). Die Anwendung von Unionsrecht führt jedoch dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig der Kindsmutter zusteht.
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a und Nr. 2 Buchst. b EStG. Dies wurde ‑‑für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO)‑‑ vom FG festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Unerheblich ist für die Kindergeldberechtigung, dass die Tochter im Streitzeitraum ihren Wohnsitz in Polen hatte (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn sie hat ihre Tochter in ihren Haushalt aufgenommen. Gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑AblEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 ‑‑Grundverordnung‑‑) i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 ‑‑Durchführungsverordnung‑‑) zu unterstellen ist, dass sie mit der Tochter in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
b) Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.
a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigten, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahingehend, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.
b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der EU hat (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 32 f., 35 ff.).
c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff auch Elternteile erfasst, die nicht mehr miteinander verheiratet sind.
Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i. Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als "Familienangehörige" nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass im deutschen Kindergeldrecht die Anspruchsberechtigung von einer familienrechtlichen Beziehung zu dem Kind abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert.
5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in Polen hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Letzterer ergibt sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Ansprüche auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste dem Kläger daher nicht wegen einer fehlenden Antragstellung der Kindsmutter zuerkannt werden (EuGH-Urteil in HFR 2015, 1190, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass der Kläger einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch zugunsten des Kindergeldanspruchs der Kindsmutter zu berücksichtigen.
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.