BFH VI. Senat
EStG § 38 Abs 1, EStG § 38 Abs 3 S 1, EStG § 41a Abs 1 S 1 Nr 2, EStG § 42d Abs 1 Nr 1, EStG § 42f Abs 1, AO § 169 Abs 2 S 1 Nr 2, AO § 170 Abs 2 S 1 Nr 1, AO § 171 Abs 4, AO § 171 Abs 15, AO § 191 Abs 1 S 1, AO § 191 Abs 3 S 2, AO § 191 Abs 5 S 1 Nr 1, AO § 196, AO §§ 196ff, EStG VZ 2006
vorgehend FG München, 27. November 2014, Az: 8 K 2038/13
Leitsätze
1. NV: Ein Haftungsbescheid darf nach § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO nicht mehr ergehen, soweit die Steuer gegen den Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist und wegen Ablaufs der (steuerlichen) Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden kann .
2. NV: Durch den Beginn der Lohnsteuer-Außenprüfung beim Haftungsschuldner wird der Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist gegenüber den Arbeitnehmern als Steuerschuldner (bis zur Einführung des § 171 Abs. 15 AO durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz) nicht gehemmt .
3. NV: Den Gleichlauf der Festsetzungsfristen beim Steuerschuldner und dem Steuerentrichtungspflichtigen kennt die Abgabenordnung erst seit der Einführung des § 171 Abs. 15 AO durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz .
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 28. November 2014 8 K 2038/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Haftungsbescheids für Lohnsteuer, Solidaritätszuschläge und Kirchenlohnsteuern.
Bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) fand aufgrund einer Prüfungsanordnung vom … April 2010 von Mai 2010 bis November 2012 eine Lohnsteuer-Außenprüfung für den Zeitraum 2006 bis 2009 statt. Dabei ergab sich folgender Sachverhalt:
Die Klägerin hatte in den Jahren 2006 bis 2009 Sachzuwendungen an Arbeitnehmer, Kunden, Geschäftsfreunde und Vertriebspartner zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn oder zur vereinbarten Leistung/Gegenleistung oder als Geschenk erbracht. Es handelte sich dabei um Incentivereisen und -veranstaltungen, Privatanteile bei gemischt veranlassten Veranstaltungen wie Geschäftsführertreffen und Tagungen, Eintrittskarten für VIP-Logen, Belohnungsessen und sonstige Geschenke. Soweit es sich bei den Empfängern um Arbeitnehmer der Klägerin handelte, sah die Lohnsteuer-Außenprüfung hierin einen steuerpflichtigen geldwerten Vorteil. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erließ daraufhin am 27. Dezember 2012 bezüglich des Lohnzahlungszeitraums 2006 einen Haftungsbescheid über Lohnsteuer nebst Annexsteuern in Höhe von insgesamt 686,55 €.
Der hiergegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2015, 437 veröffentlichten Gründen statt.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.
Es beantragt,
das Urteil des FG München vom 28. November 2014 8 K 2038/13 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält die Revision einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Revision des FA ist daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin für die nicht angemeldete und abgeführte Lohnsteuer des Jahres 2006 nicht mehr mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. Dezember 2012 als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen werden konnte. Denn die entsprechende Lohnsteuerschuld der Arbeitnehmer war zu diesem Zeitpunkt bereits festsetzungsverjährt.
1. Nach § 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haftet der Arbeitgeber für die Lohnsteuer, die er nach § 38 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 EStG bei jeder Lohnzahlung vom Arbeitslohn für Rechnung des Arbeitnehmers einzubehalten und nach § 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG abzuführen hat.
Da die Klägerin unstreitig keine Lohnsteuer auf die den Arbeitnehmern gewährten geldwerten Vorteile (Incentivereisen und -veranstaltungen, Privatanteile bei gemischt veranlassten Veranstaltungen wie Geschäftsführertreffen und Tagungen, Eintrittskarten für VIP-Logen, Belohnungsessen und sonstige Geschenke) einbehalten und abgeführt hat, ist der Haftungstatbestand des § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG hinsichtlich dieser im Dienstverhältnis gründenden Zuwendungen der Klägerin an ihre Arbeitnehmer erfüllt.
2. Gleichwohl durfte die Klägerin vorliegend nicht für die sich aus der haftungsbegründenden Pflichtverletzung ergebende Lohnsteuer der Arbeitnehmer mit Bescheid vom 27. Dezember 2012 als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen werden.
a) Wer kraft Gesetzes für eine Steuerschuld haftet, kann zwar durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden (§ 191 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑).
b) Ein solcher darf nach § 191 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 AO allerdings nicht mehr ergehen, soweit die Steuer gegen den Steuerschuldner nicht festgesetzt worden ist und wegen Ablaufs der (steuerlichen) Festsetzungsfrist auch nicht mehr festgesetzt werden kann.
aa) Bei der Berechnung der steuerlichen Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO ist auf die Steuer abzustellen, für die der Arbeitgeber in Haftung genommen wird, und damit im Streitfall die pflichtwidrig nicht erhobene und abgeführte Lohnsteuer des Jahres 2006.
(1) Werden Lohnsteuer-Anmeldungen entsprechend § 41a Abs. 1 Satz 1 EStG am zehnten Tag des Folgemonats abgegeben, beginnt hinsichtlich der Lohnsteuer die Festsetzungsfrist für Lohnzuflüsse der Monate Januar bis November mit Ablauf des Zuflussjahres und für Dezember mit Ablauf des Folgejahres (Senatsurteil vom 6. März 2008 VI R 5/05, BFHE 220, 307, BStBl II 2008, 597). Insoweit deckt sich dann der Beginn der Festsetzungsfrist für die Steuer mit dem Beginn der Festsetzungsfrist für die Haftungsschuld. In diesem Fall gilt ‑‑wie grundsätzlich für den Haftungsbescheid (§ 191 Abs. 3 Satz 2 AO)‑‑ eine steuerliche Festsetzungsfrist von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO).
(2) Durch den Beginn der Lohnsteuer-Außenprüfung beim Haftungsschuldner wird der Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist gegenüber den Arbeitnehmern als Steuerschuldner (bis zur Einführung des § 171 Abs. 15 AO durch das Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz ‑‑AmtshilfeRLUmsG‑‑) nicht gehemmt (Senatsurteile vom 15. Dezember 1989 VI R 151/86, BFHE 159, 296, BStBl 1990, 256; vom 9. März 1990 VI R 87/89, BFHE 160, 202, BStBl II 1990, 608; vom 1. Dezember 1995 VI R 76/91, BFHE 179, 312, BStBl II 1996, 239; Urteile des Bundesfinanzhofs vom 13. Dezember 2011 II R 26/10, BFHE 236, 212, BStBl II 2013, 596, und II R 52/09, BFH/NV 2012, 695).
Die Außenprüfung richtet sich unmittelbar und allein gegen den Arbeitgeber. Nur ihm gegenüber ergeht die Prüfungsanordnung (§§ 196 ff. AO), die neben den tatsächlichen Prüfungshandlungen den sachlichen Umfang der Ablaufhemmung des § 171 Abs. 4 AO bestimmt. Die Lohnsteuer-Außenprüfung erstreckt sich auf die zutreffende Einbehaltung oder Übernahme und die richtige Abführung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber (§ 42f Abs. 1 EStG). Sie dient der Überwachung der dem Arbeitgeber im Rahmen der Lohnbesteuerung gesetzlich auferlegten Pflichten. Werden bei einer solchen Prüfung ‑‑ihrer Natur nach zwangsläufig‑‑ auch die steuerlichen Verhältnisse der Arbeitnehmer als Schuldner der Lohnsteuer (mit) überprüft, so geschieht dies nur insoweit, als die Entrichtungs-, Einbehaltungs- und Abführungspflicht des Arbeitgebers reicht (Senatsurteil in BFHE 159, 296, BStBl II 1990, 526). Das Verfahren der Lohnsteuer-Außenprüfung beim Arbeitgeber und das Einkommensteuerveranlagungs- ebenso wie das Lohnsteuernachforderungsverfahren beim Steuerschuldner verfolgen unterschiedliche Ziele und betreffen jeweils andere Steuerrechtsverhältnisse. Ebenso wie das Veranlagungsverfahren hat auch das Lohnsteuer-Nachforderungsverfahren gegenüber dem Arbeitnehmer grundsätzlich von der materiell zutreffenden Steuer auszugehen. So kann der Arbeitnehmer gegen die Nachforderung einwenden, die Steuerschuld bestehe nicht oder nicht in der vom FA angenommenen Höhe. Er kann dazu alle bisher nicht berücksichtigten Ermäßigungsgründe, insbesondere Verluste aus anderen Einkunftsquellen, geltend machen (Senatsurteil vom 26. Januar 1973 VI R 136/69, BFHE 108, 338, BStBl II 1973, 423).
Demgegenüber erstreckt sich die Lohnsteuer-Außenprüfung nur auf die zutreffende Einbehaltung oder Übernahme und richtige Abführung der Lohnsteuer durch den Arbeitgeber (§ 42f Abs. 1 EStG). Hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer entsprechend den Lohnsteuerabzugsmerkmalen und nach den für das Streitjahr gültigen Lohnsteuertabellen zutreffend berechnet, hat er seinen steuerlichen Pflichten genügt und die Lohnsteuer vorschriftsmäßig einbehalten. Umstände, die die individuelle Steuerschuld des einzelnen Arbeitnehmers beeinflussen, hat er unberücksichtigt zu lassen, soweit diese auf der Lohnsteuerkarte oder bei der maschinellen Eingabe der Lohnsteuerabzugsmerkmale nicht erfasst worden sind. Dies gilt sowohl für Umstände, die zu Gunsten, wie für solche, die zu Lasten des Arbeitnehmers wirken (Senatsurteil in BFHE 160, 202, BStBl II 1990, 608). Aus den unterschiedlichen Zielen und verschiedenen Steuerrechtsverhältnissen des Lohnsteueranmeldungs- und Lohnsteuernachforderungsverfahrens folgt, dass die allein das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Finanzamt betreffende Lohnsteuer-Außenprüfung nur die Verjährung der aus diesem Rechtsverhältnis begründeten Haftungsansprüche gegen den Arbeitgeber hemmt, nicht hingegen die Verjährung des individuellen (Lohn)Steueranspruchs gegen den Arbeitnehmer (Senatsurteil in BFHE 159, 296, BStBl II 1990, 526; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 171 AO Rz 107; Banniza in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 114, 116; Bartone in: Kühn/ v.Wedelstädt, 21. Aufl., AO, § 171 Rz 73 f., 77; Koenig/ Cöster, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 171 Rz 90; speziell zur Lohnsteuer-Außenprüfung auch Baum in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 171 Rz 19; Frotscher in Schwarz, AO, § 171 Rz 122; Paetsch in Beermann/Gosch, AO § 171 Rz 92). An dieser Rechtsprechung hält der erkennende Senat fest.
bb) Den von der Revision geforderten Gleichlauf der Festsetzungsfristen beim Steuerschuldner und dem Steuerentrichtungspflichtigen kennt die AO erst seit der Einführung des § 171 Abs. 15 AO durch das AmtshilfeRLUmsG. Die Vorschrift ist die rechtsprechungsbrechende Antwort des Gesetzgebers auf die (bis dahin unumstrittene) Rechtslage, dass der Ablauf der Steuerfestsetzungsfrist gegenüber dem Steuerschuldner nicht durch den Beginn einer Außenprüfung beim Entrichtungspflichtigen gehemmt wird (Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO Rz 107). Danach führen nunmehr auch Außenprüfungen beim Arbeitgeber zu einer Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist beim Steuerschuldner. Die Neuregelung geht auf einen Vorschlag des Finanzausschusses zum Jahressteuergesetz 2013 (BTDrucks 17/11190, 3) zurück. Sie gilt gemäß Art. 97 § 10 Abs. 11 des Einführungsgesetzes zur AO für alle am 30. Juni 2013 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen.
3. Nach diesen Maßstäben hat das FG zu Recht entschieden, dass die Klägerin gemäß § 191 Abs. 5 AO nicht mehr mit Bescheid vom 27. Dezember 2012 für Lohnsteuer des Jahres 2006 als Haftungsschuldnerin in Anspruch genommen werden konnte. Im Streitfall hat die Klägerin die Lohnsteuer-Anmeldungen für das Jahr 2006 ‑‑wenn auch ohne die geldwerten Vorteile für die Arbeitnehmer zu erfassen‑‑ fristgerecht am zehnten Tag nach Ablauf eines jeden Lohnsteuer-Anmeldungszeitraums abgegeben. Die Festsetzungsfrist für die Lohnsteuer begann daher gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO für die Monate Januar bis November 2006 am 31. Dezember 2006 und für den Monat Dezember 2006 am 31. Dezember 2007 zu laufen. Sie endete nach Ablauf von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und damit am 31. Dezember 2010 bzw. 2011.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.