BFH VI. Senat
FGO § 76 Abs 2, FGO § 96 Abs 1 S 1, FGO § 104 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, GG Art 103 Abs 1
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 04. März 2015, Az: 12 K 1413/14
Leitsätze
1. NV: Die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung setzt voraus, dass der vom FG aufgestellte Rechtssatz, der von dem Rechtssatz einer angeblichen Divergenzentscheidung abweichen soll, für die Entscheidung des FG tragend (entscheidungserheblich) ist. Daran fehlt es, wenn das FG den Rechtssatz nur in Bezug auf einen von ihm lediglich unterstellten Sachverhalt formuliert .
2. NV: Die Rüge eines Verstoßes gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO setzt die Darlegung voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende, nach der insoweit maßgeblichen materiell-rechtlichen Auffassung des FG entscheidungserhebliche Tatsache unberücksichtigt gelassen hat .
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 5. März 2015 12 K 1413/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Notwendigkeit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) sowie eines Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegen nicht vor.
1. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.
a) Eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO ist gegeben, wenn das Finanzgericht (FG) mit einem das angegriffene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem ebensolchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 12. Oktober 2011 III B 56/11, BFH/NV 2012, 178). Die voneinander abweichenden Rechtssätze müssen sich aus dem angefochtenen Urteil des FG und der Divergenzentscheidung mit hinreichender Deutlichkeit ergeben (BFH-Beschluss vom 12. Dezember 2013 III B 55/12, BFH/NV 2014, 575, m.w.N.). Nicht erforderlich ist dabei, dass der abstrakte Rechtssatz nach Art eines Leitsatzes in den Gründen des angefochtenen Urteils formuliert ist; er kann sich auch aus scheinbar nur fallbezogenen Rechtsausführungen ergeben (BFH-Beschlüsse vom 23. April 1992 VIII B 49/90, BFHE 167, 488, BStBl II 1992, 671, und vom 2. Juni 2014 III B 153/13, BFH/NV 2014, 1377).
b) Daran gemessen liegt die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) vorgetragene Divergenz nicht vor. Soweit die Klägerin aus dem BFH-Urteil vom 28. Februar 1978 VII R 92/74 (BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390) und dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. März 1997 2 BvR 842/96 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 1997, 769) entscheidungserhebliche Rechtssätze herausgestellt hat, ist zu berücksichtigen, dass der Rechtssatz, den sie dem Urteil des FG entnommen und den Rechtssätzen der angeblichen Divergenzentscheidungen gegenübergestellt hat, für die Entscheidung des FG nicht tragend (entscheidungserheblich) war. Das FG hat den von der Klägerin herausgestellten Rechtssatz ausweislich der Entscheidungsgründe des finanzgerichtlichen Urteils nur für den Fall aufgestellt, dass "unterstellt" wird, die Bedürftigkeitsbescheinigung sei zu den Steuerakten gelangt (Bl. 13 des Urteilsumdrucks). Das FG konnte aufgrund des erstinstanzlichen Vorbringens der Klägerin jedoch schon nicht die Überzeugung gewinnen, "ob die danach existierende amtliche Bescheinigung zur Unterhaltsbedürftigkeit ... überhaupt (zusammen mit dem Schreiben vom 22. Dezember 1999) zu den Steuerakten gelangt ist."
Insofern liegt der Vorentscheidung des FG und den angeblichen Divergenzentscheidungen auch kein vergleichbarer Sachverhalt zugrunde. Denn in den Fällen, über die in dem BFH-Urteil in BFHE 124, 487, BStBl II 1978, 390 und in dem BVerfG-Beschluss in HFR 1997, 769 zu entscheiden war, stand fest, dass das fragliche Schriftstück bei der aktenführenden Stelle (jeweils einem Gericht) eingegangen war, es aber durch Versagen organisatorischer Vorkehrungen, auf die der Bürger keinen Einfluss hatte, nicht zu den Akten genommen wurde. Ein solcher Sachverhalt steht im Streitfall allerdings nicht fest. Denn das FG konnte sich schon nicht davon überzeugen, dass die Bedürftigkeitsbescheinigung für das Streitjahr dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) überhaupt zugegangen war. Nur für den Fall, dass solches "unterstellt" wird, hat das FG den von der Klägerin herausgestellten Rechtssatz gebildet.
2. Die Revision ist auch nicht wegen eines von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangels zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Das FG hat nicht gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat das FG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu entscheiden. Die Rüge eines derartigen Verfahrensverstoßes setzt die Darlegung voraus, dass das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat (BFH-Beschluss vom 08. Mai 2014 X B 105/13, BFH/NV 2014, 1213).
Soweit die Klägerin rügt, das FG habe das Schreiben des FA vom 19. Juni 2000 verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigt, übersieht sie, dass dieses Schreiben, auch soweit dort eine von der Klägerin vorgelegte Bedürftigkeitsbescheinigung angesprochen wurde, gar nicht das Streitjahr, sondern das Folgejahr betraf. Damit kam es nach der materiell-rechtlichen Auffassung des FG, von der bei der Beantwortung der Frage, ob das FG einen Verfahrensfehler begangen hat, auszugehen ist (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 6. Juli 1999 VIII R 12/98, BFHE 189, 148, BStBl II 1999, 731; BFH-Beschlüsse vom 1. September 2005 VI B 30/05, BFH/NV 2005, 2046, und vom 8. Oktober 2004 IV B 202/02, BFH/NV 2005, 367), auf das Schreiben des FA vom 19. Juni 2000 nicht an. Denn das FG hat materiell-rechtlich (zutreffend) darauf abgestellt, ob für das Streitjahr, nicht aber für ein Vor- oder ein Folgejahr, eine Bedürftigkeitsbescheinigung vorlag.
b) Das FG hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) auch nicht durch den Erlass einer sog. Überraschungsentscheidung verletzt. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (BFH-Beschluss vom 2. April 2002 X B 56/01, BFH/NV 2002, 947). Danach ist im Streitfall keine Überraschungsentscheidung gegeben.
Das FG hat die Klägerin vor Erlass seines Urteils unter Hinweis auf das für das Streitjahr geltende Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 15. September 1997 (BStBl I 1997, 826) aufgefordert, die Voraussetzungen für den Abzug von Unterhaltsaufwendungen für ihre in Mazedonien lebende Mutter nachzuweisen. Bei dieser Sachlage konnte die Klägerin nicht davon überrascht sein, dass das FG die Klage abwies, weil die Klägerin den Nachweis der Unterhaltsbedürftigkeit ihrer Mutter im Streitjahr nicht erbracht habe. Da sich das Schreiben des FA vom 19. Juni 2000 ‑‑wie zuvor dargelegt wurde‑‑ nicht auf das Streitjahr bezog, konnte es die Klägerin auch nicht überraschen, dass das FG sich trotz der in diesem Schreiben erwähnten Bedürftigkeitsbescheinigung nicht vom Vorliegen einer solchen Bescheinigung für das Streitjahr überzeugen konnte.
c) Der Anspruch der Klägerin auf Gehör sowie § 76 Abs. 2 FGO wurden schließlich auch nicht dadurch verletzt, dass das FG dem zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 5. März 2015 ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen FA den Schriftsatz der Klägerin vom 4. März 2015, der beim FG am 5. März 2015 um 02:13 Uhr einging, "kurz vor der Sitzung telefonisch ... kursorisch erläutert" hat. Hierdurch hat das FG der Klägerin nicht das rechtliche Gehör verweigert und auch seine Prozessfürsorgepflicht aus § 76 Abs. 2 FGO gegenüber der Klägerin nicht verletzt. Die Prozessfürsorgepflicht des § 76 Abs. 2 FGO dient in erster Linie der Gewährleistung eines fairen Verfahrens, der Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BFH-Beschluss vom 11. März 2013 I B 95/12, BFH/NV 2013, 1425).
Die Klägerin hatte im Streitfall indessen Gelegenheit, zur Sache vorzutragen und ihren Rechtsstandpunkt darzulegen. Auch müssen sich die ‑‑wie im Streitfall‑‑ ordnungs- und fristgemäß geladenen Beteiligten bewusst sein, dass im Anschluss an die mündliche Verhandlung eine Entscheidung gefällt und zugestellt wird (§ 104 Abs. 2 FGO). Auch das Nichterscheinen der Beteiligten steht einer Verhandlung und Entscheidung nicht entgegen. Denn es kann ohne einen Beteiligten verhandelt und entschieden werden, wie sich aus § 91 Abs. 2 FGO ergibt. Die Klägerin konnte daher im Streitfall nicht davon ausgehen, dass das FG ihren kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz vor der mündlichen Verhandlung dem FA noch übersenden oder die mündliche Verhandlung zu diesem Zweck unterbrechen werde oder den Schriftsatz dem zum Termin zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen FA vollständig telefonisch vorlesen werde.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.