BFH X. Senat
FGO § 119 Nr 3, GG Art 103 Abs 1, FGO § 116 Abs 6, FGO § 116 Abs 5 S 2, FGO § 155, ZPO § 295
vorgehend FG Düsseldorf, 24. Februar 2015, Az: 15 K 27/13 E,G,F
Leitsätze
NV: Lädt das Gericht einen Zeugen und gibt dies den Beteiligten bekannt, vernimmt den Zeugen jedoch ohne Hinweis auf eine geänderte Rechtsansicht nicht, so liegt eine Überraschungsentscheidung vor; dies gilt auch, wenn für einen Prozessbeteiligten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen ist.
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 25. Februar 2015 15 K 27/13 E,G,F aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind verheiratet und werden im Streitjahr 2007 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie betrieben einen gewerblichen Grundstückshandel.
Die Kläger machten erhebliche Kosten im Rahmen verschiedener Objekte in A, B und C geltend, die nach Ansicht der Prüferin der Steuerfahndung (Steufa) nicht als Betriebsausgaben abziehbar waren. Aus ihrer Sicht lagen insoweit Scheinrechnungen vor. Der Empfänger der Ausgaben, eine GmbH aus Luxemburg, sei nicht genau benannt worden. Eine Prüfung der Existenz, Identität und tatsächlichen wirtschaftlichen Aktivität der GmbH sei nicht möglich gewesen. Internetrecherchen hätten ergeben, die GmbH habe es nur bis ca. Ende 1999 gegeben. Sämtliche Rechnungen seien bar bezahlt worden. Als Entgeltempfänger werde auf den Quittungen ein Herr X genannt. Dessen Identität sowie seine Geschäftsbeziehung, Handels- und Empfangsbevollmächtigung für die GmbH seien nicht nachgewiesen worden. Die angegebene Steuernummer der GmbH existiere im Übrigen nicht.
Aufgrund dieser Feststellungen der Steufa änderte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres und des Folgejahres 2008, den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2007, die Gewerbesteuermessbetragsbescheide des Betriebs der Klägerin für das Streitjahr und das Jahr 2008, den Bescheid über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 2008 sowie die entsprechenden Gewerbesteuermessbetragsbescheide des Betriebs des Klägers für diese Jahre.
Die Einspruchsverfahren blieben erfolglos. Zwar hätten die Kläger weitere Einzelheiten zur Person des Herrn X mitgeteilt. Das FA wies die Einsprüche jedoch unter Anwendung des § 160 der Abgabenordnung (AO) als unbegründet zurück.
Die Klage, welche das Finanzgericht (FG) als nur gegen die Bescheide des Streitjahres anhängig ansah, wurde durch Urteil vom 25. Februar 2015 15 K 27/13 E,G,F als unbegründet abgewiesen. Das FG war aufgrund der im Einzelnen dargelegten Umstände der Ansicht, die Voraussetzungen des Betriebsausgabenabzugs lägen bereits nicht vor. Auf die Regelungen des § 160 AO käme es deshalb nicht (mehr) an. Nach seiner Überzeugung fehle es am Vorliegen eines Leistungsbezugs zur GmbH. Darüber hinaus hätten die Kläger trotz Ausschlussfristsetzung versäumt, die Einzelheiten der behaupteten Leistungen darzulegen. Auch sei das FG nicht überzeugt, dass die Kläger die in Rechnung gestellten Beträge an die GmbH gezahlt hätten.
Das FG hat am 11. Februar 2015 Herrn X als Zeugen geladen und dies auch den Parteien zur Kenntnis gebracht. Der Zeuge wurde jedoch, obwohl bei der mündlichen Verhandlung anwesend, nicht gehört. Gründe hierfür finden sich im Gerichtsprotokoll der mündlichen Verhandlung nicht. Zur mündlichen Verhandlung war für die Kläger niemand erschienen.
Die Kläger machen mit ihrer Beschwerde Verfahrensmängel geltend. U.a. habe das FG Herrn X, obwohl geladen und anwesend, nicht befragt.
Das FA tritt der Beschwerde entgegen und hält diese für unzulässig.
Entscheidungsgründe
II. 1. Nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann der Bundesfinanzhof (BFH) das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Ein Verfahrensfehler im Sinne der letztgenannten Vorschrift liegt vor, wenn die Entscheidung des FG auf einer unzulässigen Überraschungsentscheidung beruht. Dies ist hier der Fall.
a) Dieser Verfahrensmangel wird von den Klägern auch geltend gemacht, indem sie darauf hinweisen, dass das FG Herrn X, obwohl geladen und anwesend, nicht befragt habe.
b) Das FG hat Verfahrensrechte der Kläger verletzt, indem es ihnen vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es nicht mehr (unbedingt) beabsichtige, Herrn X als Zeugen zu hören.
aa) Nach der Rechtsprechung des BFH entsteht durch einen (ggf. förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweis vollständig erhoben worden ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. Will es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweis als nicht mehr nötig erachtet und somit einen (ggf. förmlichen) Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2012 X B 4/10, BFH/NV 2012, 958, m.w.N.). Andernfalls liegt eine Überraschungsentscheidung vor (BFH-Beschluss vom 19. September 2014 IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214).
bb) Im Streitfall hat das FG angeordnet, Herrn X als Zeugen zu vernehmen, indem es ihn zur mündlichen Verhandlung geladen und die Beteiligten hiervon in Kenntnis gesetzt hat. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2015 wurde der anwesende Zeuge jedoch nicht gehört. Da für die Kläger zu dieser Verhandlung niemand erschienen war, erlangten sie von einem ggf. erteilten, aber jedenfalls nicht protokollierten Hinweis, dass es nicht zur Vernehmung des Zeugen komme, nicht rechtzeitig Kenntnis. Somit wurde ein zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung gebotener rechtlicher Hinweis jedenfalls den Klägern nicht erteilt.
cc) Ein solcher Hinweis kann entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das FG werde von der Beweisaufnahme absehen. Denn das FG hat durch den Beweisbeschluss eine Verfahrenslage geschaffen, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können daher grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist (BFH-Beschluss vom 27. August 2010 III B 113/09, BFH/NV 2010, 2292). Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe. Von einer solchen Erledigung durfte das FG im Streitfall nicht ausgehen. Der Beweisbeschluss ist auch nicht "vorsorglich" erlassen worden – einen solchen Zusatz erhält er nicht.
dd) Der vorherige Hinweis an die Kläger ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil diese der anberaumten mündlichen Verhandlung ferngeblieben sind. Hierdurch haben sie ihr Recht zur Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht verloren.
(1) Denn es liegt ein Fall einer wesentlichen Änderung der maßgeblichen Prozesssituation vor, die das rechtliche Gehör nicht entfallen lässt (weiterführend: Senatsbeschluss in BFH/NV 2012, 958, unter II.1.c aa, m.w.N.). Vielmehr hat das FG durch den erlassenen Beweisbeschluss einen Vertrauenstatbestand des Inhalts geschaffen, es werde die Beweisaufnahme auf alle Fälle wie angeordnet durchführen.
(2) Ihr Rügerecht i.S. des § 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO haben die Kläger nicht verloren. Die Nichtteilnahme des Antragstellers an der mündlichen Verhandlung bewirkt dies nicht (vgl. weiterführend Senatsbeschluss in BFH/NV 2012, 958, unter II.1.c bb, m.w.N.).
2. Weil das Urteil bereits aufgrund dieses Verfahrensmangels keinen Bestand haben kann, bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Kläger.
3. Der Senat hält es für geboten, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Januar 2001 VI B 156/00, BFH/NV 2001, 808).