Zum Hauptinhalt springen Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen
auf der Richterbank liegen Barett und Arbeitsmappe, dahinter ein Richterstuhl, auf dem eine Robe hängt

Entscheidungen
des Bundesfinanzhofs

Entscheidungen online

Zur Hauptnavigation springen Zum Footer springen

Beschluss vom 23. Oktober 2015, IX B 92/15

Vorliegen einer Überraschungsentscheidung - Verlust des Rügerechts bei verzichtbaren Verfahrensmängeln - Bezugnahme des FG auf Entscheidungsgründe in einem Parallelverfahren

BFH IX. Senat

FGO § 76 Abs 1, FGO § 76 Abs 2, FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 119 Nr 6, FGO § 116 Abs 5 S 2, FGO § 155, GG Art 103 Abs 1, ZPO § 295

vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 02. Juni 2015, Az: 8 K 1546/14

Leitsätze

1. NV: Eine Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste .

2. NV: Wird eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht als (verzichtbarer) Verfahrensmangel in Gestalt des Übergehens von Beweisanträgen gerügt, verliert der ‑‑fachkundig vertretene‑‑ Kläger sein Rügerecht schon durch rügelose Verhandlung zur Sache .

3. NV: Dem FG ist es mit Blick auf § 119 Nr. 6 FGO jedenfalls dann nicht verwehrt, auf die Entscheidungsgründe in einem Parallelstreit zwischen den Beteiligten zu verweisen, wenn beide Entscheidungen zwischen den Beteiligten ergangen, gleichzeitig verkündet und am gleichen Tag zugestellt worden sind .

Tenor

Die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 3. Juni 2015  8 K 1546/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Kläger zu tragen.

Gründe

  1. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegen nicht vor.

  2. 1. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) machen zu Unrecht geltend, das Finanzgericht (FG) habe eine Überraschungsentscheidung erlassen und dadurch ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO und § 76 Abs. 2 FGO). Eine solche Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 25. März 2013 IX B 180/12, BFH/NV 2013, 968).

  3. Danach liegt im Streitfall keine Überraschungsentscheidung vor; denn die Frage des fehlenden Nachweises eines Veranlassungszusammenhangs zwischen den von den Klägern geltend gemachten Zinsaufwendungen und den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung des Objekts X ist vom FG nicht erst mit dem Endurteil in das Verfahren eingebracht worden, sondern war, wie aus der von den Klägern selbst im Zuge der Klageerhebung vorgelegten Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) vom 6. Oktober 2014 (dort S. 9 unten) klar hervorgeht, bereits Gegenstand des außergerichtlichen Vorverfahrens und mithin einer der Gründe, weshalb das FA den Abzug der Zinsaufwendungen verwehrte.

  4. Die rechtskundig vertretenen Kläger hatten in der mündlichen Verhandlung hinreichend Gelegenheit, sich hierzu zu äußern und im Rahmen der ihnen obliegenden Feststellungslast darzulegen, dass die Darlehensmittel zur Erzielung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung aufgenommen und tatsächlich verwendet worden sind (vgl. etwa BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 IX R 35/11, BFH/NV 2013, 522, m.w.N.). Da die Kläger diesen Nachweis nicht geführt, sondern insoweit rügelos zur Sache verhandelt haben, haben sie überdies ihr Rügerecht verloren (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung ‑‑ZPO‑‑; vgl. BFH-Beschluss vom 7. Oktober 2010 IX B 83/10, BFH/NV 2011, 61).

  5. Letzteres gilt auch, soweit die Kläger eine Verletzung ihres Rechts auf Gehör hinsichtlich der Nichtberücksichtigung von als außergewöhnliche Belastungen geltend gemachten Aufwendungen im Zusammenhang mit dem Einsturz eines in ihrem Eigentum stehenden Hauses rügen.

  6. 2. Auch der von den Klägern gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 FGO) ‑‑zum einen wegen der angeblichen Nichtberücksichtigung von dem FA in einem Aussetzungsverfahren vorgelegten Darlehensunterlagen und zum anderen wegen der Nichtberücksichtigung geltend gemachter außergewöhnlicher Belastungen‑‑ ist nicht gegeben. Bei verzichtbaren Verfahrensmängeln (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), zu denen auch die Verletzung der Sachaufklärungspflicht gehört, geht das Rügerecht schon durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren. Anders kann dies bei einem fachkundig vertretenen Verfahrensbeteiligten nur dann sein, wenn er aufgrund des Verhaltens des FG die Rüge für entbehrlich halten durfte (vgl. BFH-Beschluss vom 24. Februar 2003 III B 117/02, BFH/NV 2003, 810). Die durch einen Rechtsanwalt fachkundig vertretenen Kläger haben in der mündlichen Verhandlung vor dem FG weder Beweisanträge gestellt noch die Verletzung einer von Amts wegen ‑‑auch ohne entsprechenden Beweisantrag‑‑ gebotenen Sachaufklärung gerügt, obwohl die Frage der einkunftsbezogenen Veranlassung der geltend gemachten Zinsaufwendungen als auch die Frage der Zwangsläufigkeit der geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen bereits im Vorverfahren streitig gewesen war. Sie haben auch keinen Sachverhalt geschildert, aufgrund dessen eine solche Rüge entbehrlich hätte sein können. Als fachkundig vertretene Beteiligte mussten die Kläger diesen rechtlichen Gesichtspunkt von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einrichten.

  7. 3. Entgegen der Auffassung der Kläger war es dem FG mit Blick auf § 119 Nr. 6 FGO auch nicht verwehrt, in seinem Urteil (betreffend das Verfahren 8 K 1546/14) die Nichtberücksichtigung der geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen ergänzend mit dem Verweis auf die Entscheidungsgründe in dem Verfahren 8 K 1545/14 zu begründen. Es ist anerkannt, dass das FG auf andere eigene Entscheidungen Bezug nehmen darf; die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung gesetzten Grenzen einer solchen Bezugnahme sind im Streitfall gewahrt. Denn beide Entscheidungen sind zwischen den Beteiligten ergangen, gleichzeitig verkündet und am gleichen Tag zugestellt worden (vgl. BFH-Urteile vom 10. April 1984 VIII R 229/83, BFHE 141, 113, BStBl II 1984, 591, m.w.N.; vom 21. Januar 1977 III R 125/73, BFHE 121, 284, BStBl II 1977, 396).

  8. 4. Von einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

Seite drucken