BFH IX. Senat
AO § 237, AO § 238, GG Art 100 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 14. Januar 2014, Az: 3 K 3079/13
Leitsätze
Die für eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG erforderliche Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen (§ 237 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) liegt für einen Verzinsungszeitraum bis Dezember 2011 nicht vor (Anschluss an BFH-Urteil vom 1. Juli 2014 IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925) .
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Januar 2014 3 K 3079/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig sind Aussetzungszinsen in Höhe von 108.202 €.
Mit Bescheid vom 29. April 2008 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Einkommensteuer 2006 des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) und seiner Ehefrau auf rund 551.000 € fest, resultierend vor allem aus Einkünften gemäß § 17 des Einkommensteuergesetzes. Hiergegen legten die Eheleute am 26. Mai 2008 Einspruch ein und beantragten beim FA Aussetzung der Vollziehung (AdV), die mit Bescheid vom 29. Mai 2008 für die Dauer des Einspruchsverfahrens gewährt wurde. Mit Einspruchsentscheidung vom 1. November 2011 wurde die Einkommensteuer 2006 verbösernd auf rund 555.000 € erhöht und der Einspruch im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen. Am 5. Dezember 2011 erhoben die Eheleute Klage (3 K 3295/11). Außerdem beantragten sie beim Finanzgericht (FG) am 21. Dezember 2011 AdV für die Dauer des Klageverfahrens (3 V 3312/11). Das FG wies den Antrag auf AdV zurück, daraufhin nahmen die Eheleute ihre Klage zurück, wodurch die Einkommensteuerfestsetzung bestandskräftig wurde.
Im weiteren Verlauf kam es zu Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, verschiedenen Anträgen und Rechtsbehelfsverfahren, u.a. wegen des Erlasses von Säumniszuschlägen, sowie verschiedenen Gesprächen zwischen dem Klägervertreter und dem FA.
Am 17. Juli 2012 teilte der Kläger dem FA mit, dass es ihm nunmehr gelinge, kurzfristig nahezu die gesamten Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zu begleichen. Er müsse sich diesbezüglich auf privatem Weg Gelder besorgen, die aber gesichert sein dürften. Die Gelder, die ihm zur Verfügung gestellt werden könnten, würden zwischen 500.000 € und 520.000 € liegen. Er fragte in diesem Zusammenhang an, ob der Sachverhalt auf dieser Grundlage sein Ende finden könnte und insoweit auf einzelne Säumniszuschläge verzichtet werden könne. Der gesamte Sachverhalt könnte dann spätestens bis zum 7. August 2012 eine vollständige Erledigung bzw. Befriedigung finden.
Mit Bescheid vom 19. Juli 2012 lehnte das FA den Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 2006 ab. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein. Ein Gespräch mit dem FA am 24. August 2012 fasste der Kläger dahingehend zusammen, dass Zahlungsrückstände in Höhe von 45.621,95 € bestünden. Diese Summe könne sich nicht mehr erhöhen. Er werde kurzfristig einen weiteren Betrag in Höhe von 621,95 € zahlen, sodass ein Restbetrag von 45.000 € offenstehe. Es sei ihm nachgelassen, den Einspruch und den Erlassantrag bis zum 28. September 2012 zu begründen und seine Vermögenssituation vor und nach dem 5. Dezember 2011 ausführlich zu schildern. Das FA habe zugesagt, die in Gang gesetzten Kontopfändungen vorerst einzustellen und bis zum 31. Dezember 2012 auszusetzen. Das Amtshilfeersuchen gegenüber dem Finanzamt C (Gerichtsvollzieherverteilungsstelle) werde unverzüglich zurückgenommen.
Am 27. November 2012 schrieb das FA an den Kläger unter Bezugnahme auf dessen Schreiben, dass es weiterhin einen vollständigen oder teilweisen Erlass der Säumniszuschläge ablehne, und bat um Mitteilung, ob der Einspruch zurückgenommen werde.
Mit Bescheid vom 8. Oktober 2012 setzte das FA Aussetzungszinsen (§ 237 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑) für die Zeit vom 3. Juni 2008 (Fälligkeit) bis zum 5. Dezember 2011 (ein Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 1. November 2011) in Höhe von 108.202 € gegen den Kläger und seine Ehefrau fest.
Der Einspruch hiergegen wurde damit begründet, dass eine Übereinkunft getroffen worden sei, dass lediglich noch zum Sachverhalt die Summe von 45.000 € ggf. offen sei und diesbezüglich ein vollständiger Erlass beantragt worden sei. Darüber, dass das FA weitergehende Zinsen geltend machen würde, sei niemals gesprochen worden.
Der Einspruch wurde zurückgewiesen.
Mit gesondertem Aufteilungsbescheid vom 4. März 2013 sprach das FA aus, dass die Aussetzungszinsen in Höhe von 108.202 € für das Vollstreckungsverfahren auf die gesamtschuldnerischen Eheleute dahingehend aufgeteilt werden, dass auf den Kläger 105.518,60 € und auf seine Ehefrau 2.683,40 € entfallen.
Am 14. März 2013 fand ein weiteres Gespräch an Amtsstelle statt, das das Einspruchsverfahren gegen die Ablehnung des Erlassantrags und gegen die Erhebung der Aussetzungszinsen zum Gegenstand hatte. Dabei teilte der Klägervertreter mit, dass der Kläger sich damals auf seine Berater verlassen habe und keine Kenntnis hinsichtlich der Erhebung der Aussetzungszinsen besessen habe. Auch er, der Klägervertreter, habe aufgrund der späteren Mandatsübernahme keine Kenntnis von der Erhebung von Aussetzungszinsen gehabt.
Im Klageverfahren wegen der Aussetzungszinsen trug der Kläger u.a. vor, dass wegen eines laufenden Zivilprozesses damit zu rechnen sei, dass er den Kaufpreis für die streitbefangenen Anteile zurückzahlen müsse. Dann müsse auch die Festsetzung der Einkommensteuer 2006 aufgehoben und die gezahlte Steuer erstattet werden. In diesem Fall dürften aber vom Antragsteller auch keine Aussetzungszinsen verlangt werden. Deswegen sei der Zinsbescheid aufzuheben. Die Zinsfestsetzung sei überdies wegen der überlangen Verfahrensdauer und dem nicht marktgerechten Zinssatz verfassungswidrig. Außerdem habe er aufgrund der Verhandlungen mit dem FA darauf vertraut, dass Zinsen nicht (mehr) festgesetzt wurden.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das FG entschied mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 724 veröffentlichten Urteil, der Bescheid über die Aussetzungszinsen sei rechtmäßig, denn er entspreche den Vorschriften der AO über die Verzinsung (insbesondere §§ 237, 238 AO). Die vom Kläger hiergegen erhobenen Einwendungen ‑‑insbesondere hinsichtlich der möglichen Rückgängigmachung des Kaufvertrages und der mit dem FA getroffenen Abreden‑‑ könnten der Klage nicht zum Erfolg verhelfen.
Der Zinssatz von 6 % p.a. sei überdies nicht unverhältnismäßig und nicht verfassungswidrig, auch nicht unter Berücksichtigung der Dauer der Aussetzung.
Der Senat sei in tatsächlicher Hinsicht davon überzeugt, dass ‑‑auch derzeit noch und erst recht im Streitzeitraum‑‑ übliche Geschäfts- wie Privatkredite von Geschäftsbanken ohne besondere Sicherheiten, die die AdV-Antragsteller aber typischerweise nicht stellen könnten‑‑ nur zu Zinssätzen von mindestens 6 % p.a. ausgereicht würden.
Zwar könnte ein erster Blick in die aktuelle Zinsstatistik der Deutschen Bundesbank (vom 7. Januar 2014) zu einer anderen Einschätzung verleiten. Dieser sei u.a. zu entnehmen, jeweils per November 2013 und Effektivzinssatz:
Bestandsgeschäft:
Konsumentenkredite und sonstige Kredite an private Haushalte
bis 1 Jahr
7,55 %
über 1 Jahr bis 5 Jahre
5,03 %
über 5 Jahre
5,05 %
Kredite an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften
bis 1 Jahr
3,07 %
über 1 Jahr bis 5 Jahre
2,85 %
über 5 Jahre
3,26 %
Neugeschäft
Konsumentenkredite an private Haushalte mit anfänglicher
Zinsbindung einschließlich besicherte KrediteInsgesamt
6,22 %
bis 1 Jahr
5,78 %
über 1 Jahr bis 5 Jahre
5,01 %
über 5 Jahre
7,73 %
revolvierende und Überziehungskredite an private Haushalte
9,30 %
echte Kreditkartenkredite an private Haushalte
14,64 %
Der typische AdV-Antragsteller sei eine natürliche oder juristische Person, die bei ihrer Bank keine Erhöhung der Kreditlinie mehr erreichen könne und in der Regel ‑‑weder der Bank für eine Erhöhung der Kreditlinie noch alternativ dem FA für eine Gewährung von AdV‑‑ Sicherheiten stellen könne.
Der ‑‑durch seine ehrenamtlichen Richter sachkundige (§ 25 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑)‑‑ Senat entnehme der Erfahrung, dass derzeit von Banken übliche, nicht besicherte, regelhafte Geschäfts- wie Privatkredite zu Zinsen in der Spannbreite von 6 % bis 9 % p.a. ausgereicht würden.
Der Zinssatz für Aussetzungszinsen in Höhe von 6 % p.a. sei im Streitzeitraum als laufzeitabhängiges Entgelt für den Gebrauch eines auf Zeit überlassenen oder vorenthaltenen Geldbetrags angemessen. Aufgrund der Angemessenheit des Zinssatzes komme es auf die Dauer der Aussetzung und eine möglicherweise durch die Finanzverwaltung zu vertretende Verfahrensverzögerung nicht an.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, mit der dieser die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG sowie den Aussetzungszinsbescheid vom 8. Oktober 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 4. März 2013 aufzuheben.Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Festsetzung von Aussetzungszinsen der geltenden Rechtslage entspricht (1.). Die Voraussetzungen einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) hinsichtlich der gesetzlich festgelegten Zinshöhe liegen nicht vor (2.). Auch hat das FG zutreffend Vertrauensschutzgründe abgelehnt, die gegen die Festsetzung von Aussetzungszinsen sprächen (3.). Über einen nicht beantragten Erlass aus Billigkeitsgründen hat der Senat nicht zu entscheiden (4.).
1. Nach § 237 Abs. 1 Satz 1 AO ist, soweit ein Einspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid, eine Steueranmeldung oder einen Verwaltungsakt, der einen Steuervergütungsbescheid aufhebt oder ändert, oder gegen eine Einspruchsentscheidung über einen dieser Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt wurde, zu verzinsen. Zinsen werden erhoben vom Tag des Eingangs des außergerichtlichen Rechtsbehelfs bei der Behörde, deren Verwaltungsakt angefochten wird, oder vom Tag der Rechtshängigkeit beim Gericht an bis zum Tag, an dem die AdV endet (§ 237 Abs. 2 Satz 1 AO). Die Zinsen betragen für jeden Monat einhalb Prozent (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO). Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen; angefangene Monate bleiben außer Ansatz (§ 238 Abs. 1 Satz 2 AO).
a) Sinn und Zweck der in § 237 AO enthaltenen gesetzlichen Regelung der Verzinsungspflicht ist es, den Nutzungsvorteil abzuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhält, dass er während der Dauer der Aussetzung über eine Geldsumme verfügen kann, die nach dem im angefochtenen Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht "an sich" dem Steuergläubiger zusteht (ständige Rechtsprechung, Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1. Juli 2014 IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, m.w.N.).
b) Das FG hat auf der Rechtsgrundlage der §§ 237 Abs. 1 und 2, 238 AO die Festsetzung der Aussetzungszinsen in Höhe von 108.202 € zutreffend als der geltenden Rechtslage entsprechend angesehen.
2. Die Voraussetzungen einer Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG liegen nicht vor.
Ein Gericht kann die Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG nur einholen, wenn es von der Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Regelung überzeugt ist (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 20. März 1984 1 BvL 23/83, BVerfGE 66, 265, unter B.2.; BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1989 2 BvL 8/87, BVerfGE 80, 59, unter B.1., und vom 22. September 2009 2 BvL 3/02, BVerfGE 124, 251, unter B.2.a). Eine solche Überzeugung vermochte sich der Senat im Streitfall hinsichtlich der gesetzlich festgelegten Zinshöhe nicht zu bilden.
Dies hat der Senat mit Urteil in BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, unter II.1. bereits für den Verzinsungszeitraum 11. November 2004 bis 21. März 2011 entschieden, worauf verwiesen wird. Auch für den vorliegend streitigen Verzinsungszeitraum 3. Juni 2008 bis 5. Dezember 2011 haben sich die das Zinsniveau bestimmenden Verhältnisse nicht in einer Weise geändert, dass Anlass bestünde, hiervon abzuweichen.
3. Der Kläger kann sich auch nicht mit Erfolg auf Vertrauensschutzaspekte berufen.
a) Eine verbindliche Auskunft gemäß § 89 Abs. 2 AO des Inhalts, dass keine Aussetzungszinsen festgesetzt würden, scheitert, wie auch das FG zutreffend feststellt, schon daran, dass diese Auskünfte allenfalls am 24. August 2012 erteilt worden sein können, die AdV aber jedenfalls im Dezember 2011 beendet war. Eine verbindliche Auskunft kann sich aber schon nach dem Gesetzeswortlaut nur auf einen zukünftigen Sachverhalt beziehen.
Damit geht auch die Rüge des Klägers ins Leere, das FG hätte weitere Sachaufklärung zum Vorliegen einer verbindlichen Auskunft betreiben müssen.
b) Anhaltspunkte dafür, dass das FA die Festsetzung von Aussetzungszinsen verwirkt hätte (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuchs analog), fehlen ebenso. Insbesondere ist nicht ersichtlich, welche Disposition der Kläger im Vertrauen auf das etwaige Verhalten des FA getroffen hätte. Auch dies stellt das FG zutreffend fest.
4. Über einen ‑‑nicht beantragten‑‑ Erlass aus Billigkeitsgründen hat der Senat nicht zu entscheiden. Die Frage des eventuellen Zinsverzichts des FA als Billigkeitsmaßnahme gemäß § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO wäre in einem gesonderten Verfahren zu klären.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.