BFH IX. Senat
EStG § 10d Abs 4 S 4, EStG § 10d Abs 4 S 5, EStG § 52 Abs 25 S 5, EStG VZ 2005 , EStG VZ 2006 , EStG VZ 2007
vorgehend FG Düsseldorf, 06. Mai 2014, Az: 15 K 14/14 E,F
Leitsätze
Ein verbleibender Verlustvortrag ist auch dann erstmals gemäß § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG gesondert festzustellen, wenn ein Einkommensteuerbescheid für das Verlustentstehungsjahr wegen Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr erlassen werden kann.
Eine durch § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG angeordnete Bindungswirkung, wonach bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags die Besteuerungsgrundlagen so zu berücksichtigen sind, wie sie der Steuerfestsetzung des Veranlagungszeitraums, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag festgestellt wird, zugrunde gelegt worden sind, besteht nicht, wenn keine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt worden ist.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 7. Mai 2014 15 K 14/14 E,F wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob in den Fällen, in denen für die Einkommensteuerveranlagung die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen ist und daher ein Einkommensteuerbescheid aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht mehr ergehen kann, § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2010 (JStG 2010) vom 8. Dezember 2010 (BGBl I 2010, 1768) dem Erlass von Bescheiden über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs entgegenstehen, wenn die Feststellungsfrist für die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Verlusts noch nicht abgelaufen ist.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) absolvierte in den Streitjahren 2005 bis 2007 eine berufliche Erstausbildung. Sie reichte am 9. Juli 2012 Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre sowie Erklärungen zur gesonderten Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005, 31. Dezember 2006 und 31. Dezember 2007 ein. Die Klägerin machte Berufsausbildungskosten in Höhe von 3.097 € (2005), 7.312 € (2006) und 6.960 € (2007) als vorab entstandene Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Einnahmen erzielte die Klägerin in diesem Zeitraum nicht.
Mit Einkommensteuerbescheiden vom 6. September 2013 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Einkommensteuer auf 0 € fest. Die Berufsausbildungskosten berücksichtigte es als Sonderausgaben mit dem Höchstbetrag von 4.000 €. Eine Verlustfeststellung wurde unter Hinweis auf das Fehlen ausgleichsfähiger negativer Einkünfte abgelehnt.
Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein und machte den Werbungskostenabzug für die Ausbildungskosten geltend. Zudem seien entsprechende Verlustfeststellungen durchzuführen. Daneben beantragte sie das Ruhen der Einspruchsverfahren bis zur Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) über die unter den Az. VI R 2/12 und VI R 8/12 anhängigen Revisionsverfahren zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Abzugsverbots für die Kosten einer beruflichen Erstausbildung oder eines Erststudiums.
Mit Einspruchsentscheidung vom 5. Dezember 2013 hob das FA die Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2007 auf und wies die Einsprüche im Übrigen als unbegründet zurück.
Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob mit der in Entscheidungen der Finanzgerichte 2014, 1879 veröffentlichten Entscheidung die Einspruchsentscheidung auf. Nicht betroffen von der Aufhebung war nach der Begründung des FG die mit der Einspruchsentscheidung zugleich erfolgte und von den Beteiligten unstreitig gestellte Aufhebung der Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2007, die angesichts der Anfechtung dieser Null-Bescheide mit Einsprüchen erfolgen durfte und wegen des Erlasses der Einkommensteuerbescheide außerhalb der Festsetzungsfristen auch erfolgen musste. Mit der Einspruchsentscheidung habe das FA zu Unrecht die Ablehnung der Verlustfeststellungen für die Streitjahre auf die Bindungswirkung nach § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 gestützt und sich an einer materiell-rechtlichen Beurteilung der steuerlichen Behandlung der Aufwendungen für die Kosten einer Erstausbildung oder eines Erststudiums gehindert gesehen. Denn eine Bindungswirkung der Besteuerungsgrundlagen der Einkommensteuerbescheide für die Verlustfeststellungen nach § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 bestehe in den Streitjahren nicht, da keine Einkommensteuerfestsetzungen für den Verlustentstehungszeitraum vorliegen und damit für die streitigen Feststellungszeitpunkte auch keine Besteuerungsgrundlagen bindend festgelegt worden seien. In der Folge der Aufhebung der Einspruchsentscheidung ruhe das Einspruchsverfahren nunmehr automatisch nach § 363 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO). Denn zu der streitigen Frage des Werbungskostenabzugs für eine berufliche Erstausbildung seien unter den Az. VI R 2/12 und VI R 8/12 Revisionen beim BFH anhängig.
Mit seiner Revision bringt das FA vor: Die Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 sehe eine inhaltliche Bindung der Feststellungsbescheide an die der Einkommensteuerfestsetzung zu Grunde gelegten Beträge vor. Der Einkommensteuerbescheid solle wie ein Grundlagenbescheid wirken, obwohl er verfahrensrechtlich kein Grundlagenbescheid sei. Eine Bindungswirkung bestehe auch dann, wenn keine Einkommensteuerfestsetzung (mehr) vorliege und auch wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung nicht mehr erfolgen könne. Dies folge auch aus der Gesetzesbegründung (BTDrucks 17/2249, S. 52). Ein Verlustfeststellungsbescheid könne daher nicht mehr erlassen werden, wenn der entsprechende Grundlagenbescheid ‑‑hier der jeweilige Einkommensteuerbescheid für die Veranlagungszeiträume 2005 bis 2007‑‑ nicht mehr erlassen werden könne.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG vom 7. Mai 2014 15 K 14/14 E,F aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Während der Anhängigkeit des Revisionsverfahrens hat der VI. Senat des BFH u.a. unter den Az. VI R 2/12 und VI R 8/12 dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage vorgelegt, ob § 9 Abs. 6 EStG i.d.F. des Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetzes (BeitrRLUmsG) vom 7. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2592) insoweit mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar ist, als Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium außerhalb eines Dienstverhältnisses vom Werbungskostenabzug ausgeschlossen sind (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Juli 2014 VI R 2/12, BFHE 247, 25, BFH/NV 2014, 1954, und VI R 8/12, BFHE 247, 64, BFH/NV 2014, 1970).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
Zutreffend hat das FG die Einspruchsentscheidung des FA in dem verbliebenen streitigen Umfang aufgehoben und damit verfahrensrechtlich der Klägerin eine Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005, 31. Dezember 2006 und 31. Dezember 2007 auf der Grundlage von § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. durch das JStG 2010 ermöglicht (1.). In der Folge der vom FG ausgesprochenen Aufhebung der Einspruchsentscheidung befindet sich die Klägerin wieder im Einspruchsverfahren, so dass das Einspruchsverfahren im Hinblick auf die beim BVerfG anhängigen Normenkontrollverfahren kraft Gesetzes ruht (2.).
1. Zutreffend hat das FG die Einspruchsentscheidung des FA aufgehoben, soweit diese die Ablehnung einer Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags betroffen hat. Denn verfahrensrechtlich ist eine Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005, 31. Dezember 2006 und 31. Dezember 2007 auf der Grundlage von § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG i.d.F. durch das JStG 2010 möglich.
a) Nach § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG ist der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustvortrag gesondert festzustellen. Verbleibender Verlustvortrag sind die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte, vermindert um die nach Absatz 1 abgezogenen und die nach Absatz 2 abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustvortrag (§ 10d Abs. 4 Satz 2 EStG). Bei der Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags sind die Besteuerungsgrundlagen so zu berücksichtigen, wie sie den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums, auf dessen Schluss der verbleibende Verlustvortrag festgestellt wird, und des Veranlagungszeitraums, in dem ein Verlustrücktrag vorgenommen werden kann, zu Grunde gelegt worden sind; § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und § 351 Abs. 2 AO sowie § 42 FGO gelten entsprechend (§ 10d Abs. 4 Satz 4 EStG). Nach § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG dürfen die Besteuerungsgrundlagen bei der Feststellung des gesonderten Verlustvortrags nur insoweit abweichend von der Einkommensteuerfestsetzung berücksichtigt werden, wie die Aufhebung, Änderung oder Berichtigung der Steuerbescheide ausschließlich mangels Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer unterbleibt. Dies gilt nach § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2010 für alle Verluste, für die nach dem 13. Dezember 2010 eine Erklärung zur Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags abgegeben wird.
Mit der Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG wird eine inhaltliche Bindung des Verlustfeststellungsbescheids an den Einkommensteuerbescheid erreicht, obwohl der Einkommensteuerbescheid kein Grundlagenbescheid ist. Die Besteuerungsgrundlagen sind im Feststellungsverfahren so zu berücksichtigen, wie sie der letzten bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzung zu Grunde liegen. Die Verlustfeststellung entfällt, wenn der Einkommensteuerbescheid des betroffenen Veranlagungszeitraums nicht mehr änderbar ist. Nach der Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 5 EStG dürfen die Besteuerungsgrundlagen bei der Feststellung des gesonderten Verlustvortrags nur insoweit abweichend von der Einkommensteuerfestsetzung des Verlustentstehungsjahrs berücksichtigt werden, wie die Aufhebung, Änderung oder Berichtigung der Steuerbescheide ausschließlich mangels Auswirkung auf die Höhe der festzusetzenden Steuer unterbleibt. Ist eine Änderung des Einkommensteuerbescheids unabhängig von der fehlenden betragsmäßigen Auswirkung auch verfahrensrechtlich nicht möglich, bleibt es bei der in § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG angeordneten Bindungswirkung (so auch Meyer/Ball, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2011, 345, 348).
Die Bindungswirkung greift damit nach dem Wortlaut des Gesetzes in § 10d Abs. 4 Satz 4 1. Halbsatz EStG nur ein, wenn die streitigen Besteuerungsgrundlagen "den Steuerfestsetzungen des Veranlagungszeitraums (...) zu Grunde gelegt worden sind". Die Bindungswirkung setzt daher voraus, dass eine Einkommensteuerveranlagung (ggf. mit einer festzusetzenden Steuer von 0 €) durchgeführt worden ist. Wurde für das Verlustentstehungsjahr hingegen keine Einkommensteuerveranlagung durchgeführt oder wurde die durchgeführte Veranlagung wegen Ablaufs der Festsetzungsverjährung wieder aufgehoben, werden keine Besteuerungsgrundlagen einer Einkommensteuerveranlagung zu Grunde gelegt, mithin kann daher auch keine Bindungswirkung entstehen, so dass der Erlass eines Verlustfeststellungsbescheids weiterhin möglich ist (vgl. Heuermann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10d Rz A 335; Blümich/Schlenker, § 10d EStG Rz 225; Gassen in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 10d Rz 87; Hallerbach in Herrmann/Heuer/Raupach, § 10d EStG Rz 127; Meyer/Ball, DStR 2011, 345, 348; Schmidt/Heinicke, EStG, 33. Aufl., § 10d Rz 48; Sikorski, Neue Wirtschafts-Briefe 2011, 2191, 2198).
Dieses Ergebnis folgt entgegen der Auffassung des FA auch aus der Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 17/2249, S. 51 f.). Denn mit der Neufassung von § 10d Abs. 4 Satz 4 und 5 EStG durch das JStG 2010 wollte der Gesetzgeber gezielt die Rechtsprechung des BFH aushebeln, wonach ein verbleibender Verlustvortrag auch dann erstmals gemäß § 10d Abs. 4 Satz 1 EStG gesondert festzustellen ist, wenn der Einkommensteuerbescheid für das Verlustentstehungsjahr zwar bestandskräftig ist, darin aber keine ausgeglichenen negativen Einkünfte berücksichtigt worden sind (vgl. BFH-Urteil vom 17. September 2008 IX R 70/06, BFHE 223, 50, BStBl II 2009, 897, m.w.N.). Dieser Rechtsprechung lag aber eine zuvor ergangene Einkommensteuerfestsetzung zu Grunde. Daher geht auch die Gesetzesbegründung durchgängig davon aus, dass der Erlass eines Feststellungsbescheids dann unterbleiben soll, wenn der entsprechende Einkommensteuerbescheid bestandskräftig ist und verfahrensrechtlich nicht mehr geändert werden kann. Die hier einschlägige Fallgestaltung, bei der kein Einkommensteuerbescheid vorliegt, wird in der Gesetzesbegründung nicht angesprochen und ist nicht Gegenstand der Neuregelung (vgl. BTDrucks 17/2249, S. 51 f.; Hallerbach in Hermann/Heuer/Raupach, § 10d EStG Rz 127; Meyer/Ball, DStR 2011, 345, 348).
b) Daran gemessen ist im Streitfall die Durchführung einer Verlustfeststellung auf die streitigen Feststellungszeitpunkte 31. Dezember 2005, 31. Dezember 2006 und 31. Dezember 2007 möglich. Denn eine Einkommensteuerveranlagung, die mit ihrer Bindungswirkung der Berücksichtigung der streitigen Besteuerungsgrundlagen entgegensteht, ist mit der Aufhebung der Einkommensteuerbescheide 2005 bis 2007 nicht mehr vorhanden.
2. In der Folge der Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch die Entscheidung des FG befindet sich die Klägerin wieder im Einspruchsverfahren. Damit ruht nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO das Einspruchsverfahren kraft Gesetzes. Denn wegen der Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 6 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG sind unter den Az. 2 BvL 22-27/14 Normenkontrollverfahren beim BVerfG anhängig. In diesen Verfahren ist streitig, ob der Ausschluss der Aufwendungen für eine erstmalige Berufsausbildung oder für ein Erststudium außerhalb eines Dienstverhältnisses vom Werbungskostenabzug mit dem GG vereinbar ist. Sollte sich in diesem Verfahren die Verfassungswidrigkeit des § 9 Abs. 6 EStG i.d.F. des BeitrRLUmsG herausstellen, kann die von der Klägerin beantragte Verlustfeststellung noch durchgeführt werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.