BFH XI. Senat
AO § 37 Abs 2, FGO § 40 Abs 2, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 67 S 2, EStG § 70 Abs 2, EStG VZ 2008 , EStG VZ 2009 , EStG VZ 2010 , EStG § 74 Abs 1 S 1
vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt , 05. März 2012, Az: 4 K 1484/10
Leitsätze
1. Ein Kind, an das die Familienkasse das gegenüber seiner kindergeldberechtigten Mutter festgesetzte Kindergeld gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG ausgezahlt hat, ist befugt, sowohl gegen einen gegenüber ihm ergangenen Rückforderungsbescheid als auch gegen einen in diesem Zusammenhang gegenüber seiner Mutter ergangenen Aufhebungsbescheid zu klagen.
2. Vollendet das Kind das 25. Lebensjahr und erreicht damit eine den Anspruch auf Kindergeld ausschließende Altersgrenze, stellt dies eine die Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld rechtfertigende Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG dar.
Tatbestand
I.
Der im Juni 1983 geborene Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) begann im September 2007 eine Ausbildung zum Maler und Lackierer, die bis zum August 2010 andauern sollte. Auf entsprechende Anträge des Klägers sowie seiner kindergeldberechtigten Mutter setzte die vormalige Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 8. November 2007 für die Zeit ab September 2007 Kindergeld fest und zweigte den gesamten Betrag an den Kläger ab; in der internen Bewilligungsverfügung/Kassenanordnung wurde die Zahlung bis Juni 2010 befristet.
Mit an die Mutter des Klägers gerichtetem Bescheid vom 28. Juni 2010 hob die Familienkasse gestützt auf § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) die Kindergeldfestsetzung ab Juli 2008 auf und forderte unter Hinweis auf diesen Bescheid vom Kläger mit "Erstattungsbescheid" vom selben Tage gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) das ihm gezahlte Kindergeld für die Zeit von Juli 2008 bis Juni 2010 in Höhe von ... € zurück. Zur Begründung führte sie aus, nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG könne Kindergeld nur bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ‑‑im Falle des Klägers also nur bis einschließlich Juni 2008‑‑ gewährt werden; etwaige Verlängerungstatbestände (Ableistung des Grundwehrdienstes bzw. Zivildienstes) lägen nicht vor bzw. seien nicht nachgewiesen worden.
Den Einspruch des Klägers wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 10. September 2010 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides begehrte, durch Urteil aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 1479 veröffentlichten Gründen statt. Die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung habe nicht rückwirkend erfolgen dürfen. Als der Kläger sein 25. Lebensjahr vollendete, sei keine Änderung der Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG eingetreten. Das Geburtsdatum eines Kindes und damit der Zeitpunkt der Vollendung seines 25. Lebensjahres stünden von vornherein fest und seien der Behörde bei Erlass des ursprünglichen Bescheides bekannt. Dieser Zeitpunkt unterliege keinerlei Veränderungen, was diesen Umstand von allen anderen für die Berücksichtigung eines Kindes maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen unterscheide.
Mit der Revision rügt die aufgrund Organisationsakts nunmehr zuständige Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Sie macht geltend, die Vorentscheidung beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung des § 70 Abs. 2 EStG. Nach § 32 Abs. 4 EStG bestehe ein Anspruch auf Kindergeld nur bis zu einem bestimmten Lebensalter des Kindes. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb im Hinblick auf Änderungen in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, zwischen dem Lebensalter des Kindes und übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Kindergeldanspruchs unterschieden werden sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stehe der Anwendung des § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht entgegen, dass der Behörde schon im Zeitpunkt der Festsetzung bekannt war, dass künftig eine Änderung der Verhältnisse eintreten werde.
Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 70 Abs. 2 EStG lägen im Streitfall nicht vor. Die Vollendung des 25. Lebensjahres stelle keine neue Tatsache bzw. keine Änderung der Verhältnisse dar. Die von der Familienkasse in Bezug genommenen Entscheidungen des BFH seien zu Sachverhalten ergangen, in denen jeweils eine neue Tatsache eingetreten sei.
Entscheidungsgründe
II.
Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden; Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse X (vgl. Anlage 1 zum Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit vom 18. April 2013 Nr. 21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit 2013, S. 5/12). Das Rubrum des Verfahrens ist daran anzupassen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, Rz 11; vom 5. September 2013 XI R 12/12, BFHE 242, 404, BStBl II 2014, 39, Rz 16; vom 26. August 2014 XI R 1/13, BFH/NV 2015, 15, Rz 14).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt (vgl. § 40 Abs. 2 FGO).
Zwar wendet sich der Kläger mit der Klage nicht nur gegen den ihm gegenüber erlassenen Rückforderungsbescheid vom 28. Juni 2010, sondern auch gegen den Aufhebungsbescheid gleichen Datums, der nicht gegen ihn, sondern gegen seine Mutter als der Kindergeldberechtigten ergangen ist. Gleichwohl ist der Kläger auch durch diesen Aufhebungsbescheid i.S. von § 40 Abs. 2 FGO betroffen.
Nach § 67 Satz 2 EStG kann außer dem Kindergeldberechtigten einen entsprechenden Antrag auch stellen, wer ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes hat. Hierzu rechnet auch das Kind, an das das Kindergeld ausgezahlt werden kann (vgl. § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG). Durch § 67 Satz 2 EStG können demnach Personen und Stellen, die an sich nur eine Rechtsstellung im Auszahlungsverfahren haben, sowohl im außergerichtlichen Vorverfahren (vgl. § 78 Nr. 1 AO) als auch im anschließenden gerichtlichen Verfahren eine Beteiligtenstellung im Festsetzungsverfahren erlangen. Demzufolge kann der Kläger als Zahlungsempfänger des Kindergeldes im Klagewege auch gegen den Aufhebungsbescheid von 28. Juni 2010 vorgehen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 12. Januar 2001 VI R 181/97, BFHE 194, 368, BStBl II 2001, 443, unter 1.; vom 26. November 2009 III R 67/07, BFHE 228, 42, BStBl II 2010, 476, unter II.1.b, m.w.N.).
2. Die Klage ist jedoch nicht begründet.
Entgegen der Auffassung des FG hat die Familienkasse zu Recht die Kindergeldfestsetzung vom 8. November 2007 gemäß § 70 Abs. 2 EStG mit Wirkung ab Juli 2008 aufgehoben und das ab diesem Zeitraum an den Kläger ausgezahlte Kindergeld zurückgefordert.
a) Nach § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG ist, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, die Festsetzung des Kindergeldes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern. Die Voraussetzungen hierfür sind im Streitfall erfüllt.
aa) Die Regelung betrifft den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (z.B. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564, unter II.1.a; vom 3. März 2011 III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722, Rz 10; Blümich/Treiber, § 70 EStG Rz 23; Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 70 Rz 8; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 70 EStG Rz 13; Greite in Korn, § 70 EStG Rz 15).
bb) Mit Ablauf des Monats Juni 2008, in dem der Kläger sein 25. Lebensjahr vollendete, ist die Kindergeldfestsetzung vom 8. November 2007 nachträglich unrichtig geworden. Denn der Kläger war gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG fortan nicht mehr als Kind zu berücksichtigen. Die Familienkasse hätte unter den nunmehr objektiv vorliegenden Verhältnissen Kindergeld nicht mehr wie geschehen festsetzen dürfen (vgl. Felix, in: Kirchhof/Söhn/ Mellinghoff, EStG, § 70 Rz C 9; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70 Rz 110; Seewald/ Felix, Kindergeldrecht, EStG § 70 Rz 43).
cc) Danach stellt auch das Überschreiten der Altersgrenze ‑‑im Streitfall Vollendung des 25. Lebensjahres (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG)‑‑ eine Änderung der Verhältnisse, die i.S. des § 70 Abs. 2 EStG für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, dar (Urteil des FG Düsseldorf vom 10. Januar 2013 16 K 1255/12 Kg, EFG 2013, 461, rkr., mit zustimmender Anm. Siegers; Reuß, EFG 2012, 1481; Bergkemper, Aufhebung oder Änderung einer Kindergeldfestsetzung, Finanz-Rundschau 2000, 136, unter II.; Tiedchen, Die Änderung von bestandskräftigen Kindergeldbescheiden, Deutsche Steuer-Zeitung 2000, 237, unter II.1.b.aa; Reuß in Bordewin/Brandt, § 70 EStG Rz 53a; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 13; a.A. Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 33. Aufl., § 70 Rz 5).
Der Auffassung des FG, das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze sei keine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG, folgt der Senat nicht. Es trifft zwar zu, dass aufgrund des Geburtsdatums eines Kindes das Erreichen einer bestimmten Altersgrenze (hier: der Zeitpunkt der Vollendung des 25. Lebensjahres) von vornherein feststeht und der Behörde bei Erlass der ursprünglichen Bescheide bekannt ist. Dies ändert aber nichts daran, dass mit dem späteren tatsächlichen Eintritt dieses Ereignisses eine Änderung der für den Kindergeldanspruch maßgeblichen Verhältnisse i.S. des § 70 Abs. 2 EStG eintritt (zutreffend Reuß, EFG 2012, 1481, 1482).
dd) Bei einer für den Kindergeldanspruch wesentlichen Änderung der Verhältnisse ‑‑hier das Überschreiten der Altersgrenze‑‑ ist die Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 EStG vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben. Die Familienkasse hat insoweit keinen Ermessensspielraum. Auf das Verschulden des Kindergeldberechtigten kommt es ebenso wenig an wie auf eine etwaige Verletzung der Amtsermittlungspflicht durch die Familienkasse (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 564, unter II.3.).
b) Der Kläger ist gemäß § 37 Abs. 2 AO verpflichtet, das an ihn für die Zeit von Juli 2008 bis Juni 2010 ausbezahlte Kindergeld in Höhe von ... € zu erstatten.
aa) Ist eine Steuervergütung wie das Kindergeld (§ 31 Satz 3 EStG) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegenüber dem Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages. Diese Rechtsfolge tritt auch dann ein, wenn der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt (§ 37 Abs. 2 Satz 2 AO). Durch die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ist der rechtliche Grund für die Zahlung des Kindergeldes an den Kläger ab Juli 2008 weggefallen.
bb) Der Rückforderung steht die bloße Weiterzahlung des Kindergeldes nicht entgegen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722, Rz 15, m.w.N.).
Dem Verhalten der Familienkasse ist keine (konkludente) Zusage zu entnehmen, dass der Kläger mit einer Rückforderung des Kindergeldes nicht zu rechnen brauchte (vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom 28. Januar 2010 III B 37/09, BFH/NV 2010, 837, Rz 3, m.w.N.; vom 6. Februar 2012 VI B 147/11, Zeitschrift für Steuern und Recht 2012, R486, Rz 3, m.w.N.). Bei der Bewilligungsverfügung/Kassenanordnung, mit der die Zahlung bis einschließlich Juni 2010 befristet wurde, handelt es sich um ein Verwaltungsinternum ohne Außenwirkung.