BFH I. Senat
FGO § 96 Abs 1 S 2, FGO § 96 Abs 2, FGO § 118 Abs 2, FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 2, EStG § 26, GG Art 103 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, EStG § 1 Abs 1
vorgehend FG Köln, 21. November 2011, Az: 10 K 4200/08
Leitsätze
NV: Das FG ist in einem Klageverfahren gegen einen den Kläger einzeln veranlagenden Steuerbescheid nicht an tatsächliche Feststellungen gebunden, die es in einem (vom BFH nach Revision später aufgehobenen) Urteil in einem zuvor geführten Rechtsstreit gegen einen den Kläger mit dessen seinerzeitiger Ehefrau zusammen veranlagenden Bescheid zu der identischen Tatfrage getroffen hatte. Das gilt auch dann, wenn der BFH sich in dem früheren Revisionsverfahren an die tatsächlichen Feststellungen des seinerzeitigen FG-Urteils gebunden gesehen hatte .
Tatbestand
I. Streitig ist, ob die Einkünfte des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) aus dessen in Polen ansässigem Einzelunternehmen im Inland zu versteuern sind.
Der Kläger lebte mit seiner damaligen Ehefrau (E) und den beiden gemeinsamen Kindern seit 1994 in einem den Ehegatten je zur Hälfte gehörenden Haus im Inland. In welchem Umfang der Kläger dort im Streitjahr (1999) noch lebte bzw. ob er seinen Lebensmittelpunkt in dieser Zeit bereits in Polen hatte, ist zwischen den Beteiligten im Streit.
Der Kläger unterhielt u.a. im Streitjahr im Inland einen Gewerbebetrieb, der den Vertrieb und den Export von Textilien zum Gegenstand hatte. Außerdem betrieb er in Polen das Einzelunternehmen M ‑‑das sich mit Lohnveredelung und dem Handel mit Konfektionsware befasste‑‑. Mit M erwirtschaftete der Kläger im Streitjahr einen Gewinn von umgerechnet 385.527 DM; die Gewinn- und Verlustrechnung weist Handelsumsätze von 5.516.390 polnischen Złoty (PLN), Finanzerträge von 15.965.027 PLN und "sonstige betriebliche Erträge" von 425.768 PLN aus.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr behandelten der Kläger und E die von M herrührenden Einkünfte des Klägers als unter Progressionsvorbehalt steuerfrei. Dem folgte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) nicht; er erließ einen Steuerbescheid, in dem der Kläger und E zusammen zur Einkommensteuer veranlagt und die genannten Einkünfte in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer einbezogen wurden. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) ab (FG Köln, Urteil vom 7. Juni 2006 10 K 6348/02, Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2006, 1490). Nachdem der erkennende Senat jenes FG-Urteil mit Urteil vom 24. Juli 2007 I R 64/06 (BFH/NV 2007, 1893) aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen hatte, weil nicht geklärt war, ob im Streitjahr noch die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung der Eheleute gegeben waren, hob das FG den Bescheid wegen Fehlens der Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung auf (Urteil vom 14. Februar 2008 10 K 3320/07).
Das FA erließ daraufhin im Juli 2008 die nunmehr streitgegenständlichen, den Kläger einzeln veranlagenden Bescheide (Einkommensteuer 1999, gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 1999 und auf den 31. Dezember 2001), in denen es wiederum die von M stammenden Einkünfte in die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer einbezog. In seiner dagegen erhobenen Klage macht der Kläger erneut geltend, trotz zunächst anderslautender Angaben gegenüber dem FA seinen ausschließlichen Wohnsitz, jedenfalls aber seinen Lebensmittelpunkt im Streitjahr in Polen gehabt zu haben. Außerdem ist er weiterhin der Auffassung, die von M stammenden Einkünfte seien in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des im Streitjahr anzuwendenden Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 18. Dezember 1972 (BGBl II 1975, 645, BStBl I 1975, 666) i.d.F. des Protokolls vom 24. Oktober 1979 (BGBl II 1981, 306, BStBl I 1981, 466) ‑‑DBA-Polen 1972/1979‑‑ nicht im Rahmen der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, sondern nur im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Das FG Köln hat die Klage mit Urteil vom 22. November 2011 10 K 4200/08 (EFG 2013, 637) als unbegründet abgewiesen.
Gegen dieses FG-Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der dieser die Verletzung materiellen Rechts geltend macht und Verfahrensmängel rügt.
Der Kläger beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen, hilfsweise, die angefochtenen Bescheide ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist im Hinblick auf den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 2001 unbegründet und deshalb in diesem Punkt gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Revision begründet und führt insoweit gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. In Bezug auf den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2001 hat das FG die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Einwendungen des Klägers betreffen der Sache nach ausschließlich die Höhe der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer 1999. Soweit diese mittelbar letztlich auch die Höhe des festzustellenden verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 2001 beeinflusst, beruht dies darauf, dass der Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs des jeweiligen Vorjahrs Grundlagenbescheid für den Bescheid des jeweiligen Folgejahrs ist (§ 10d Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes 1997 i.d.F. des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999, BGBl I 1999, 402, BStBl I 1999, 304 ‑‑EStG 1997‑‑, § 182 Abs. 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑). Die diesbezüglichen Einwendungen können deshalb gemäß § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 2 AO nur im Rechtsbehelfsverfahren gegen jenen Bescheid geltend gemacht werden, in dem der Verlustabzug fehlerhaft ermittelt worden ist, nicht aber in den Verfahren gegen die Folgebescheide (vgl. z.B. Senatsurteile vom 20. April 2011 I R 2/10, BFHE 233, 251, BStBl II 2011, 761; vom 12. Oktober 2010 I R 99/09, BFH/NV 2011, 650, m.w.N.).
2. Im Hinblick auf die Festsetzung der Einkommensteuer 1999 und die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1999 ist die Revision begründet und führt zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das Urteil beruht insoweit auf einem Verfahrensmangel und kann deshalb keinen Bestand haben.
a) Das FG hat angenommen, der Kläger sei im Streitjahr unbeschränkt steuerpflichtig i.S. von § 1 Abs. 1 EStG 1997. Diese Feststellung ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.
Ausweislich der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils meinte die Vorinstanz, die Frage des inländischen Wohnsitzes des Klägers im vorliegenden Verfahren "nicht erneut überprüfen" zu müssen, nachdem der erkennende Senat die unbeschränkte Steuerpflicht des Klägers in seinem Urteil in BFH/NV 2007, 1893 bereits bejaht habe. Dem kann nicht beigepflichtet werden.
Das FG war vielmehr gehalten, im streitgegenständlichen Verfahren das Vorliegen der Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers erneut zu prüfen. Zwar hatte der Senat in dem Urteil in BFH/NV 2007, 1893 revisionsrechtlich von der unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers auszugehen. Denn das FG hatte in dem vorangegangenen Urteil vom 7. Juni 2006 im Verfahren 10 K 6348/02 verfahrensfehlerfrei festgestellt, dass der Kläger sich nicht nur besuchsweise in dem ehemals gemeinsamen Haus der Eheleute aufgehalten, sondern dieses weiterhin "als eigenes" genutzt habe. Im vorliegenden Verfahren besteht eine verfahrensrechtliche Bindung an die früheren Feststellungen indessen nicht. Nachdem der Senat das seinerzeitige FG-Urteil aufgehoben und die Sache gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO an das FG zurückverwiesen hatte, bestand schon im zweiten Rechtsgang dieses Vorprozesses keine Beschränkung auf den Streitstoff, der dem Senat seinerzeit vorgelegen hatte; die Beteiligten hätten im zweiten Rechtsgang zur Frage des inländischen Wohnsitzes vielmehr auch neue Tatsachen vortragen oder neue Beweismittel anbieten können, denen das FG hätte nachgehen müssen (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 126 Rz 20, m.w.N.). Erst recht besteht im vorliegenden Rechtsstreit keine verfahrensrechtliche Bindung an die tatrichterlichen Feststellungen im Vorprozess. Denn bei der Klage gegen den Einzelveranlagungsbescheid des FA vom Juli 2008 handelt es sich um ein eigenständiges Verfahren, in dem keine formalen Bindungen an die Feststellungen des FG in dem früheren Verfahren (betreffend den vom FG inzwischen rechtskräftig aufgehobenen Zusammenveranlagungsbescheid) bestehen.
Mithin hätte das FG im hiesigen Verfahren eigenständige Überlegungen und Feststellungen zur Frage der unbeschränkten Steuerpflicht anstellen und dabei das tatsächliche Vorbringen des Klägers zu dieser Frage zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen müssen. Indem die Vorinstanz dies unterlassen hat, hat sie den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes) und außerdem sein Ergebnis unter Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen. Da nicht ausgeschlossen ist, dass das FG bei einer eigenständigen Würdigung des Sachverhalts unter Berücksichtigung des Vorbringens des Klägers (gegebenenfalls nach Durchführung einer Beweisaufnahme) zu einem abweichenden Ergebnis gekommen wäre, ist der Verfahrensmangel als ursächlich für das in dem angefochtenen Urteil gefundene Ergebnis anzusehen.
b) Da die Sache ohnehin der Zurückverweisung unterliegt, bedarf es keiner Entscheidung des Senats, ob auch die weiteren Verfahrensrügen des Klägers (zu den Feststellungen des FG hinsichtlich der Voraussetzungen der Ansässigkeitsfiktion des Art. 4 Abs. 2 Buchst. a DBA-Polen 1972/1979) begründet sind. Auch insoweit gilt im Übrigen für den zweiten Rechtsgang, dass eine Bindung an den bisherigen Streitstoff nicht besteht.
c) Eine Entscheidung des Senats über die materiell-rechtliche Frage, ob die durch M bezogenen Erträge zur Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer des Klägers gerechnet werden können, ist beim gegenwärtigen Verfahrensstand nicht veranlasst. Denn dies könnte allenfalls in Erwägung gezogen werden, wenn der Kläger im Streitjahr im Inland unbeschränkt steuerpflichtig gewesen wäre und wenn er außerdem nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a DBA-Polen 1972/1979 als im Streitjahr im Inland ansässig gegolten hätte. Die diesbezüglichen Feststellungen müssen vom FG im zweiten Rechtsgang noch getroffen werden.
Entgegen der Auffassung des Klägers wäre die Sache auch dann nicht (im Sinne einer Klagestattgabe) entscheidungsreif, wenn die von M stammenden Erträge aus den vom Kläger angeführten oder aus anderen Gründen nicht zur Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer gehören würden. Denn auch in diesem Fall hinge die zutreffende Bemessung der Einkommensteuer noch davon ab, ob der Kläger im Inland unbeschränkt steuerpflichtig gewesen ist. Bei unbeschränkter Steuerpflicht wären die über M vom Kläger bezogenen Einkünfte zumindest bei der Bemessung des Steuersatzes im Rahmen des Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen (§ 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 1997 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 DBA-Polen 1972/1979). Bei lediglich beschränkter Steuerpflicht des Klägers blieben diese Einkünfte hingegen gänzlich ohne Einfluss auf die Höhe der festzusetzenden Einkommensteuer. Zur Entscheidung des Rechtsstreits muss mithin in jedem Fall zunächst geklärt werden, ob der Kläger im Streitjahr unbeschränkt steuerpflichtig war oder nicht.
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.