BFH III. Senat
EWGV 1408/71 Art 12 Abs 2, EWGV 574/72 Art 7 Abs 1, EStG § 1 Abs 3, EStG § 65 Abs 1 S 1 Nr 2, EWGV 1408/71 Art 2 Abs 1, EWGV 1408/71 Art 1 Buchst a, FGO § 96 Abs 1, FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 2, FGO § 76 Abs 1, FGO § 81 Abs 1, EStG VZ 2006
vorgehend FG München, 06. Januar 2010, Az: 5 K 4146/07
Leitsätze
1. NV: Für die Annahme, ein Kindergeldberechtigter werde nicht vom Anwendungsbereich der EWGV Nr. 1408/71 erfasst, genügt nicht die Feststellung, der Anspruchsteller gehöre in seinem Herkunftsland keinem System der Alterssicherung an. Für die Anwendbarkeit der Verordnung genügt vielmehr die Zugehörigkeit zu irgendeinem Zweig der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU (Anschluss an BFH-Urteil vom 4.8.2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619) .
2. NV: Bescheinigungen ausländischer Behörden, die für die Gewährung von Kindergeld nach deutschem Recht von Bedeutung sein können, dürfen nicht deshalb unbeachtet bleiben, weil sie in ausländischer Sprache vorgelegt wurden (BFH-Urteil vom 15.3.2012 III R 51/08, BFH/NV 2012, 1765) .
Tatbestand
I. Der aus Polen stammende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) selbständig tätig. Er beantragte Kindergeld für seine vier Kinder, die in Polen bei der Mutter leben. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte zunächst die Festsetzung von Kindergeld durch einen Bescheid vom 14. November 2006 ab.
Im Verlauf des anschließenden Einspruchsverfahrens hob die Familienkasse den Ablehnungsbescheid auf und setzte durch Bescheid vom 21. Dezember 2006 Kindergeld ab Juli 2004 für die drei älteren Kinder in Höhe von monatlich jeweils 77 € und für das jüngste Kind in Höhe von 89,50 € fest. Die Beträge entsprechen der Hälfte der Beträge, die nach § 66 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2004 geltenden Fassung (EStG) vorgesehen sind. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, der Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach nationalem Recht konkurriere mit dem Anspruch auf Familienleistungen der in Polen lebenden Ehefrau nach polnischem Recht. Der Anspruch auf Familienleistungen in Polen schließe nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG den Anspruch auf Kindergeld in Deutschland aus. Dies sei jedoch mit Sinn und Zweck der gemeinschaftsrechtlichen Konkurrenzvorschriften nicht vereinbar. Es sei daher auf die allgemeine Konkurrenzvorschrift des Art. 12 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71) ‑‑in der für den streitigen Zeitraum geltenden Fassung‑‑ zurückzugreifen, ebenso auf Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung. Somit sei Kindergeld in halber Höhe zu gewähren. Der Kläger begehrte Kindergeld in voller Höhe. Dies lehnte die Familienkasse ab (Einspruchsentscheidung vom 25. Oktober 2007).
Auf die anschließend erhobene Klage hin hob das Finanzgericht (FG) den Bescheid vom 21. Dezember 2006 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung insoweit auf, als die Familienkasse die Gewährung von Kindergeld ab April 2006 über einen Monatsbetrag von 320,50 € hinaus abgelehnt hatte. Es verpflichtete die Familienkasse, den Kläger unter Beachtung seiner Rechtsauffassung zu bescheiden. Das FG führte im Wesentlichen aus, der Kläger falle nicht in den Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71. Sein Anspruch auf Kindergeld könne nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein, weil seine Ehefrau in Polen Familienbeihilfe für die Kinder erhalten habe. Dies lasse sich jedoch nicht abschließend beantworten. Die Familienkasse werde zu prüfen haben, ob eine polnische Bescheinigung, wonach die Ehefrau des Klägers Familienleistungen von Mai 2004 bis August 2006 bezogen habe, sich auf alle vier Kinder beziehe. Die Familienkasse werde auch zu prüfen haben, ob die Ehefrau des Klägers ab September 2006 einen Anspruch auf polnische Familienleistungen gehabt hätte, wenn sie in Polen einen entsprechenden Antrag gestellt hätte. Darüber hinaus werde sie zu klären haben, ob die polnischen Familienleistungen mit dem deutschen Kindergeld vergleichbar sind i.S. von § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG.
Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, der Kläger werde nicht vom Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst. Anzuwenden sei die nationale Konkurrenzvorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Zur Vermeidung eines vollständigen Leistungsausschlusses werde in derartigen Fällen aus Billigkeitsgründen die allgemeine Konkurrenzvorschrift des Art. 12 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 und ihre Konkretisierung in Art. 7 Abs. 1 der VO Nr. 574/72 entsprechend angewandt.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, das polnische Kindergeld sei mit dem deutschen nicht vergleichbar. Zum einen sei die polnische Familienbeihilfe eine sozialversicherungsrechtliche Leistung, zum anderen habe sie mit umgerechnet 18 € nur eine geringfügige Höhe.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Entscheidungsgründe
II. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … ‑‑Familienkasse‑‑ eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Die Feststellungen des FG tragen nicht seine rechtliche Annahme, die Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sei im Streitfall deshalb anwendbar, weil der Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet sei.
a) Nach der Senatsentscheidung vom 4. August 2011 III R 55/08 (BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619) ist für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 erforderlich und ausreichend, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union versichert ist. Hierzu hat das FG im Tatbestand des angefochtenen Urteils den Vortrag des Klägers wiedergegeben, wonach dieser als Selbständiger nicht in einer Alterssicherung versicherungs- oder beitragspflichtig sei. Eigene Feststellungen hat das FG nicht getroffen, weder zu einer Zugehörigkeit des Klägers zu einem System der Alterssicherung noch zu einem anderen Zweig der Sozialversicherung.
b) Das Fehlen ausreichender tatsächlicher Feststellungen stellt einen materiell-rechtlichen Mangel dar, der ‑‑auch ohne besondere Rüge‑‑ zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt (Senatsurteil vom 26. Juli 2012 III R 70/10, BFH/NV 2012, 1971, m.w.N.). Das FG wird die entsprechenden Feststellungen nachzuholen haben.
2. Für den zweiten Rechtsgang weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Das FG wird zunächst festzustellen haben, ob der Kläger in Deutschland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte und deshalb nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG anspruchsberechtigt ist. Im Bescheid der Familienkasse vom 21. Dezember 2006 heißt es, der Kläger sei nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt worden. Entsprechende Feststellungen fehlen (s. hierzu Senatsurteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897, sowie vom 18. Juli 2013 III R 59/11, BFHE 242, 228).
b) Das FG wird auch zu beachten haben, dass Bescheinigungen ausländischer Behörden, die für die Gewährung von Kindergeld nach deutschem Recht von Bedeutung sein können, nicht deshalb unbeachtet bleiben dürfen, weil sie in ausländischer Sprache vorgelegt wurden. Gegebenenfalls ist eine Übersetzung zu veranlassen (s. Senatsurteil vom 15. März 2012 III R 51/08, BFH/NV 2012, 1765). In der Kindergeldakte findet sich nicht nur die im Urteil erwähnte, ins Deutsche übersetzte Bescheinigung des Gemeindezentrums für Sozialhilfe in A vom 12. Januar 2007, sondern darüber hinaus auch die in polnischer Sprache ausgefüllten Vordrucke E 401 und E 411. Die letztgenannte Bescheinigung enthält in den Rubriken, die für die Angabe der ausländischen Familienleistungen vorgesehen sind, für alle Kinder Eintragungen. Das FG wird die Bescheinigungen im zweiten Rechtsgang in Betracht ziehen müssen.
c) Das FG hat die Frage, ob nach ausländischem Recht ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, die dem deutschen Kindergeld vergleichbar sind, selbst zu prüfen (Senatsurteil vom 13. Juni 2013 III R 63/11, BFHE 242, 34).