BFH XI. Senat
UStG § 4 Nr 25 S 2 Buchst a, UStG § 4 Nr 25 S 2 Buchst b DBuchst bb, FGO § 69, EGRL 112/2006 Art 132 Abs 1 Buchst h, EGRL 112/2006 Art 132 Abs 1 Buchst i
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 03. Juli 2013, Az: 6 V 2336/12
Leitsätze
NV: Ob an der BFH-Rechtsprechung festzuhalten ist, wonach es für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter i.S. des Unionsrechts nicht ausreicht, wenn der Unternehmer lediglich als Subunternehmer für eine anerkannte Einrichtung tätig geworden ist, ist nicht in einem ADV-Verfahren, sondern im Hauptsacheverfahren zu klären.
Tatbestand
I. Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin), eine Diplom-Sozialpädagogin, ist seit dem Jahr 2000 als freie Mitarbeiterin für die "… GbR" (GbR) tätig, die gegenüber der Stadt X Leistungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe erbringt und mit Wirkung vom September 2009 als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt wurde. Zudem ist die Antragstellerin seit dem Jahr 2008 auch für den bereits seit dem Jahr 2004 als Träger der freien Jugendhilfe anerkannten Verein "… e.V." (Verein) tätig.
In den Streitjahren 2008 und 2009 betreute die Antragstellerin insgesamt 13 bzw. 12 Familien und erbrachte ‑‑gegenüber der GbR und dem Verein‑‑ hierbei folgende Leistungen:
Hilfe zur Erziehung, sozialpädagogische Familienhilfe für Familien mit Kindern ab Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (§§ 27, 31 des Achten Buches Sozialgesetzbuch ‑‑SGB VIII‑‑),
Hilfe zur Erziehung, Erziehungsbeistand (§§ 27, 30 SGB VIII),
Hilfe zur Erziehung, intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§§ 27, 35 SGB VIII),
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§§ 27, 35a SGB VIII),
Hilfe für junge Volljährige, Nachbetreuung (§§ 27, 41 SGB VIII).Zwischen der Antragstellerin und den sie beauftragenden Trägern der freien Jugendhilfe wurde für jede betreute Familie eine gesonderte Entgelt- und Honorarvereinbarung geschlossen; Umsatzsteuer wurde nicht gesondert ausgewiesen.
Die Antragstellerin behandelte die betreffenden Umsätze als steuerbefreit.
Im Anschluss an eine Außenprüfung ging der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) davon aus, dass diese Umsätze nicht nach § 4 Nr. 25 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb des Umsatzsteuergesetzes in der für die Streitjahre 2008 und 2009 geltenden Fassung (UStG) umsatzsteuerbefreit seien, weil die Antragstellerin keine Leistungen erbracht habe, die in dem Jahr, das dem Jahr, für das die Steuerbefreiung beansprucht wird, vorangeht, ganz oder zum überwiegenden Teil durch Träger der öffentlichen Jugendhilfe oder Einrichtungen nach Buchst. a der Vorschrift vergütet worden sind. Die Antragstellerin sei ab dem Jahr 2009 überwiegend für den anerkannten Verein tätig geworden, sodass insoweit eine Umsatzsteuerbefreiung erst ab dem Jahr 2010 möglich sei. Auch die an die GbR ausgeführten Umsätze der Antragstellerin seien nicht umsatzsteuerbefreit. Die GbR sei mit Bescheid vom 26. Oktober 2009 als Träger der freien Jugendhilfe anerkannt worden; eine Umsatzsteuerbefreiung sei daher ebenso erst im darauffolgenden Kalenderjahr möglich.
Das FA schätzte die abziehbaren Vorsteuern nach Maßgabe der Prüfungsfeststellungen und setzte mit Datum vom 3. Mai 2012 die Umsatzsteuer für die Streitjahre 2008 und 2009 entsprechend fest.
Hiergegen legte die Antragstellerin jeweils Einspruch ein und beantragte jeweils die Aussetzung der Vollziehung (AdV).
Mit Verfügung vom 17. Oktober 2012 lehnte das FA die AdV der streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheide ab und wies den Einspruch der Antragstellerin hinsichtlich der Umsatzsteuerfestsetzung für 2009 mit Einspruchsentscheidung vom 13. November 2012 als unbegründet zurück.Die Antragstellerin erhob gegen den Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr 2009 und die Einspruchsentscheidung vom 13. November 2012 am 10. Dezember 2012 Klage, über die das Finanzgericht (FG) noch nicht entschieden hat.
Die beim FG beantragte AdV der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre 2008 und 2009 sowie der Zinsbescheide zur Umsatzsteuer für 2008 und 2009 hatte Erfolg. Das FG setzte die Vollziehung der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide sowie die in diesem Zusammenhang ergangenen Zinsbescheide aus und hob die insoweit verwirkten Säumniszuschläge auf. Das FG führte hierzu aus, zwar lägen die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach nationalem Recht gemäß § 4 Nr. 25 UStG nicht vor. Die Antragstellerin könne sich jedoch unmittelbar auf die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. h bzw. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) berufen.
Hiergegen wendet sich das FA mit der vom FG gemäß § 128 Abs. 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zugelassenen Beschwerde. Es bringt vor, die Vorentscheidung weiche von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ab, der mit Urteil vom 8. November 2007 V R 2/06 (BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634) zu § 4 Nr. 25 UStG a.F. entschieden habe, dass es für die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter nicht ausreiche, dass der Unternehmer ‑‑wie hier die Antragstellerin‑‑ ohne direkte vertragliche Beziehung mit dem örtlichen Träger der sozialen Sicherheit lediglich ‑‑als Subunternehmer‑‑ mit einem gemeinnützigen Verein, der wiederum mit dem Jugendamt Verträge abgeschlossen habe, tätig werde. Diese Rechtsgrundsätze seien weiterhin anwendbar.
Das FA beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung aufzuheben.
Entscheidungsgründe
II. Die gemäß § 128 Abs. 3 FGO zulässige Beschwerde des FA ist unbegründet; sie ist daher durch Beschluss zurückzuweisen (§ 132 FGO).
1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
a) Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung, vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom 20. Juli 2012 V B 82/11, BFHE 237, 545, BStBl II 2012, 809, Rz 9; vom 3. April 2013 V B 125/12, BFHE 240, 447, BFH/NV 2013, 1049, Rz 12; vom 11. Juli 2013 XI B 41/13, BFH/NV 2013, 1647, Rz 16, jeweils m.w.N.). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (ständige Rechtsprechung, vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse vom 7. September 2011 I B 157/10, BFHE 235, 215, BStBl II 2012, 590, Rz 12; in BFHE 237, 545, BStBl II 2012, 809, Rz 9; in BFHE 240, 447, BFH/NV 2013, 1049, Rz 12; in BFH/NV 2013, 1647, Rz 16, jeweils m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (ständige Rechtsprechung, vgl. dazu z.B. BFH-Beschlüsse in BFHE 237, 545, BStBl II 2012, 809, Rz 9; in BFHE 240, 447, BFH/NV 2013, 1049, Rz 12; in BFH/NV 2013, 1647, Rz 16, jeweils m.w.N.).
b) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes in diesem Sinne können sich u.a. aus einem möglichen Verstoß des Steuergesetzes gegen eine unionsrechtliche Bestimmung ergeben (vgl. BFH-Beschluss vom 30. November 2000 V B 187/00, BFH/NV 2001, 657, unter II.3.; ferner Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz 88, m.w.N.).
2. Nach diesen Maßstäben bestehen im Streitfall ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre 2008 und 2009.
a) Die in den angefochtenen Umsatzsteuerbescheiden besteuerten Umsätze der Antragstellerin sind zwar nicht nach § 4 Nr. 25 UStG steuerfrei, weil sie ‑‑nach den unwidersprochenen Feststellungen des FG‑‑ weder eine von der zuständigen Jugendbehörde anerkannte Trägerin der freien Jugendhilfe ist (§ 4 Nr. 25 Satz 2 Buchst. a UStG) noch Leistungen erbracht hat, die im jeweils vorangegangenen Kalenderjahr ganz oder zum überwiegenden Teil durch Einrichtungen nach Buchst. a ‑‑im Streitfall von der zuständigen Jugendbehörde anerkannte Träger der freien Jugendhilfe‑‑ vergütet wurden (§ 4 Nr. 25 Satz 2 Buchst. b Doppelbuchst. bb UStG).
b) Ernstlich zweifelhaft ist aber, ob sich die Antragstellerin ‑‑wovon das FG zu Recht ausgegangen ist‑‑ für die Steuerbefreiung der umstrittenen Umsätze nicht auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. h bzw. i MwStSystRL ‑‑vormals Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. h bzw. i der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG)‑‑ berufen kann.
aa) Danach befreien die Mitgliedstaaten folgende Umsätze von der Steuer:
"[...]
h) eng mit der Kinder- und Jugendbetreuung verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen;
i) Erziehung von Kindern und Jugendlichen, ... und damit eng verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die mit solchen Aufgaben betraut sind, oder andere Einrichtungen mit von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannter vergleichbarer Zielsetzung;
[...]."bb) Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ‑‑nunmehr Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL‑‑ entschieden, dass es bei einer Auslegung im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität verboten sei, die Mehrwertsteuerbefreiung der von gewerblichen Leistungserbringern erbrachten ambulanten Pflege von einer Bedingung wie der in jenem Ausgangsverfahren in Rede stehenden abhängig zu machen, nach der die Kosten dieser Pflege im vorangegangenen Kalenderjahr in mindestens zwei Drittel der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sein müssen, wenn diese Bedingung nicht geeignet ist, im Rahmen der für die Zwecke dieser Vorschrift erfolgenden Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, die Gleichbehandlung zu gewährleisten (vgl. Urteil vom 15. November 2012 C-174/11 ‑‑Zimmermann‑‑, Umsatzsteuer-Rundschau ‑‑UR‑‑ 2013, 35, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2013, 84, Leitsatz). Zwar hat der EuGH in dieser Entscheidung die Zwei-Drittel-Grenze des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG sowie die dort normierte Bedingung, dass die Kosten für die betreffenden Leistungen der ambulanten Pflege ganz oder zum überwiegenden Teil von den gesetzlichen Sozialversicherungs- oder Sozialhilfeträgern übernommen worden sein müssen, ausdrücklich gebilligt. Durch die in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG normierte Pflicht, diesbezüglich jeweils auf das vorangegangene Kalenderjahr abzustellen, würde jedoch die Anerkennung des "sozialen Charakters" der betreffenden Einrichtung für den Streitzeitraum, in dem sie dem Grunde nach Umsätze i.S. des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG ausgeführt hat, automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen. Hierfür biete Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG keine Grundlage (vgl. dazu EuGH-Urteil ‑‑Zimmermann‑‑ in UR 2013, 35, HFR 2013, 84, Rz 40, 41).
cc) Dementsprechend geht der BFH in der zum EuGH-Urteil ‑‑Zimmermann‑‑ (UR 2013, 35, HFR 2013, 84) ergangenen Nachfolgeentscheidung davon aus, dass, soweit die Anerkennung des sozialen Charakters einer Einrichtung zur ambulanten Pflege kranker und pflegebedürftiger Personen allein an der in § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG normierten Pflicht scheitert, diesbezüglich ausschließlich auf die Verhältnisse des vorangegangenen Kalenderjahres abzustellen, die Umsätze dieser Einrichtung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei seien (vgl. BFH-Urteil vom 19. März 2013 XI R 47/07, BFHE 240, 439, BFH/NV 2013, 1204, Leitsatz).
dd) Die vorgenannten Grundsätze gelten ‑‑wovon die Vorentscheidung ebenso zutreffend ausgegangen ist‑‑ gleichermaßen für Art. 132 Abs. 1 Buchst. h bzw. i MwStSystRL.
Allerdings besteht Klärungsbedarf bezüglich der Frage, in welchem Umfang die Ausführungen des BFH im Urteil in BFHE 219, 428, BStBl II 2008, 634 ‑‑auf das sich das FA in seinem Beschwerdevorbringen bezieht‑‑ in dem hier interessierenden Zusammenhang weiterhin gültig sind (s. dazu auch FG Köln, Urteil vom 20. April 2012 4 K 3627/09, juris).
Nach diesem BFH-Urteil kann für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter auch gewürdigt werden, dass der Leistende die begünstigten Leistungen aufgrund vertraglicher Vereinbarungen mit Trägern der Sozialversicherung erbracht hat. Es reicht jedoch nicht, dass der Unternehmer lediglich als Subunternehmer für eine anerkannte Einrichtung tätig geworden ist.
c) Angesichts dieses ‑‑bereits in der Vorentscheidung dargelegten und nicht von der Hand zu weisenden‑‑ Klärungsbedarfs besteht Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung der den angefochtenen Bescheiden zugrunde liegenden Rechtsfragen.
Das Beschwerdeverfahren gegen die AdV der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide ist aber nicht geeignet, diese Rechtsfragen endgültig zu klären. Die Entscheidung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom 24. Februar 2000 IV B 83/99, BFHE 191, 304, BStBl II 2000, 298; vom 30. Oktober 2007 V B 170/07, BFH/NV 2008, 627; vom 8. August 2011 XI B 39/11, BFH/NV 2011, 2106, jeweils m.w.N.).
3. Die somit zu gewährende AdV war auch nicht von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen.
Eine Gefährdung der umstrittenen Umsatzsteueransprüche für die Streitjahre 2008 und 2009 ist schon weder ersichtlich noch vorgebracht.