BFH V. Senat
AO § 240 Abs 1 S 4, AO § 227, AO § 361, FGO § 69
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 19. Februar 2013, Az: 8 K 1587/12
Leitsätze
Säumniszuschläge sind in vollem Umfang zu erlassen, wenn eine rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird und der Steuerpflichtige zuvor alles getan hat, um die AdV zu erreichen und diese ‑‑obwohl möglich und geboten‑‑ abgelehnt worden ist (Fortführung der Rechtsprechung) .
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob ein vollständiger (und nicht nur hälftiger) Erlass von Säumniszuschlägen gemäß § 227 der Abgabenordnung (AO) geboten ist, wenn bei einer rechtswidrigen Steuerfestsetzung zuvor Anträge des Steuerpflichtigen auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) und Finanzgericht (FG) versagt geblieben sind.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) handelte in den Streitjahren 2002 und 2003 mit polygrafischen Maschinen.
Nachdem das FA zunächst am 12. Oktober 2005 Umsatzsteuern für 2002 und 2003 festgesetzt hatte und das FG einem Aussetzungsantrag stattgegeben hatte, setzte das FA die Umsatzsteuer auf Einspruch der Klägerin für das Jahr 2002 herab und wies den Einspruch hinsichtlich 2003 zurück. Ein weiterer Antrag auf AdV für den Zeitraum nach Ergehen der Einspruchsentscheidung wurde vom FA am 10. Juni 2008 und vom FG am 28. April 2010 zurückgewiesen.
Im Hauptsacheverfahren gab das FG der Klage statt und setzte die Umsatzsteuer 2002 auf den unstreitigen und pünktlich bezahlten Betrag herab und hob die Festsetzung für 2003 vollständig auf. Aufgrund einer Abrechnung vom 6. Februar 2008 forderte das FA für den Zeitraum von der Einspruchsentscheidung bis zur Aufhebung der Steuerfestsetzungen im November 2010 Säumniszuschläge in Höhe von 11.476 € für 2002 und 16.922,50 € für 2003, die das FA auf Erlassantrag der Klägerin zur Hälfte erließ. Den Erlass der weiteren Hälfte lehnte es ab.
Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das FG das FA zum vollständigen Erlass der Säumniszuschläge. Zwar seien gemäß § 240 Abs. 1 Satz 4 AO die Säumniszuschläge aufgrund der formellen Steuerfestsetzung durch das FA unabhängig von ihrer späteren Aufhebung entstanden, da die Aussetzungsanträge erfolglos geblieben waren. Nach Lage des Falles seien jedoch die verwirkten Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit gemäß § 227 AO vollständig zu erlassen. Die Klägerin habe aufgrund ihrer Aussetzungsanträge beim FA und beim FG alles ihr Mögliche getan, um das Entstehen von Säumniszuschlägen zu verhindern. Die Ablehnung dieser Anträge könne der Klägerin nicht zum Nachteil gereichen. Aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 20. Mai 2010 V R 42/08 (BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955) folge, dass das Ermessen des FA in einem solchen Falle auf einen vollständigen Erlass der Säumniszuschläge reduziert sei.
Hiergegen wendet sich das FA mit der Revision. Säumniszuschläge hätten nach der Rechtsprechung des BFH nicht nur den Sinn, eine Gegenleistung für das Hinausschieben der formell festgesetzten, nicht bezahlten Steuer zu bilden, sondern auch, als Druckmittel den Steuerpflichtigen zur pünktlichen Zahlung der Steuern anzuhalten. Da der Steuerpflichtige nach der (rechtswidrigen) Ablehnung der AdV an sich die Steuer hätte zahlen müssen, behalte die Verwirkung von Säumniszuschlägen auch bei späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung ihren Sinn. Säumniszuschläge seien deshalb nur zur Hälfte zu erlassen.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und ist deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Zutreffend hat das FG das FA verpflichtet, die Säumniszuschläge zu erlassen. Diese Ermessensentscheidung lässt keinen Rechtsfehler erkennen.
1. Ein Erlass von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen gemäß § 227 AO ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht zu rechtfertigen ist, obwohl der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Erhebung der Säumniszuschläge aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang, vgl. BFH-Urteile vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727; vom 14. September 1978 V R 35/72, BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58).
a) In der Rechtsprechung des BFH ist anerkannt, dass Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen sind, wenn die Steuerfestsetzung später aufgehoben worden ist und der Steuerpflichtige alles getan hat, um die AdV eines Steuerbescheides zu erreichen, das FA aber die Aussetzung "obwohl möglich und geboten" abgelehnt hat. Demgemäß hat der BFH entschieden, dass ein Erlass von Säumniszuschlägen nach Aufhebung der Steuerfestsetzung zwar dann nicht in Betracht komme, wenn der Steuerpflichtige sich nicht um die AdV bemüht hat oder wenn die Vollziehung deshalb nicht ausgesetzt worden ist, weil ‑‑z.B. in Schätzungsfällen‑‑ keine ernstlichen Zweifel bestanden und der Steuerbescheid erst aufgrund nachgereichter Steuererklärungen aufgehoben worden ist (BFH-Urteil vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906).
b) Hat der Steuerpflichtige jedoch im Aussetzungsverfahren alles Erdenkliche getan, um den einstweiligen Rechtsschutz zu erreichen, und ist ihm dieser gleichwohl fehlerhaft versagt worden, liegt eine unbillige Härte vor, wenn trotz späterer Aufhebung der Steuerfestsetzung Säumniszuschläge erhoben wurden (BFH-Urteile in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906; vom 16. September 1992 X R 169/90, BFH/NV 1993, 510; BFH-Beschluss vom 18. März 2003 X B 66/02, BFH/NV 2003, 886). Dementsprechend hat der Senat mit Urteil in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 entschieden, dass ein Anspruch auf vollständigen Erlass der Säumniszuschläge dann besteht, wenn dem Steuerpflichtigen die AdV aufgrund einer gesetzlichen Sonderregelung des § 361 Abs. 2 Satz 4 AO in einer dem Sinn und Zweck dieser Regelung nicht entsprechenden Weise verwehrt ist. Nichts anderes gilt, wenn eine rechtswidrige Steuerfestsetzung aufgehoben wird und der Steuerpflichtige zuvor alles getan hat, um die AdV zu erreichen und diese ‑‑obwohl möglich und geboten‑‑ abgelehnt worden ist (Fortführung der Rechtsprechung).
2. Bei der Höhe des gebotenen Erlasses ist zu berücksichtigen, dass Säumniszuschläge zwar zum einen Druckmittel zur Durchsetzung fälliger Steuern sind und zum anderen Entgelt für eine verspätet gezahlte Steuer, denn der säumige Steuerpflichtige soll nicht besser gestellt werden, als hätte er Stundungs- oder Aussetzungszinsen (§ 238 AO) zu zahlen (BFH-Urteile in BFHE 126, 9, BStBl II 1979, 58; vom 23. Mai 1985 V R 124/79, BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489). Bei rechtswidriger Steuerfestsetzung ist jedoch die gesetzgeberische Wertung des § 237 AO zu beachten, wonach der Steuerpflichtige bei Gewährung der AdV zwar grundsätzlich Aussetzungszinsen zu zahlen hat, dies aber dann nicht gilt, wenn der Steuerpflichtige mit seinem Rechtsbehelf Erfolg gehabt hat (§ 239 Abs. 1 Satz 1 AO). Erweist sich eine im Eilverfahren gewährte AdV somit im Ergebnis als berechtigte Abwehr gegen eine rechtswidrige Steuerforderung, hat der Steuerpflichtige keinerlei Aussetzungszinsen ‑‑auch nicht zur Hälfte‑‑ zu tragen. Wird dem Steuerpflichtigen die gebotene AdV zu Unrecht versagt, ist er im Billigkeitsverfahren so zu stellen, als hätte er den gebotenen einstweiligen Rechtsschutz erlangt, sodass er nach § 237 AO keinerlei Säumniszuschläge zu zahlen hat (so auch BFH-Beschluss vom 2. Februar 2011 V B 141/09, BFH/NV 2011, 961, unter 3.b; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 240 AO Rz 57; Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 240 AO Rz 114).
3. Der Senat weicht nicht von Entscheidungen anderer Senate des BFH ab. Soweit sich das FA auf den BFH-Beschluss vom 4. Februar 1999 IX B 170/98 (BFH/NV 1999, 908) bezieht, liegt keine Divergenz vor, weil der BFH dort die Rechtsfrage eines Erlasses von Säumniszuschlägen bei rechtswidriger Versagung der AdV im Hinblick auf die Besonderheiten des Streitfalles als in einer Revision nicht klärungsfähig bezeichnet hat. In dem BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 886 ging es um die anders gelagerte Problematik eines Erlasses von Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit, bei der der Normzweck der Säumniszuschläge als Druckmittel eigener Art zur pünktlichen Steuerzahlung wegen Insolvenz nicht mehr erreicht werden kann. Soweit der erkennende Senat mit Urteil in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906 bei zu Unrecht verweigerter AdV nur zu einem hälftigen Erlass von Säumniszuschlägen gelangt ist, ist diese Entscheidung durch das vom FG seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Urteil des Senats in BFHE 229, 83, BStBl II 2010, 955 überholt.