BFH X. Senat
FGO § 51 Abs 1 S 1, FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 124 Abs 2, GG Art 103 Abs 2, ZPO § 42, MRK Art 6 Abs 2, FGO § 76 Abs 2, AO § 169 Abs 2 S 2
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 09. Oktober 2012, Az: 2 K 13285/10
Leitsätze
1. NV: Ein die Ablehnung von Gerichtspersonen zurückweisender Beschluss des FG kann nur dann zur Revisionszulassung wegen Verfahrensmangel führen, wenn die Zurückweisung willkürlich ist und deshalb die Vorenthaltung des gesetzlichen Richters zur Folge hat.
2. NV: Das Unterlassen richterlicher Hinweise führt bei sachkundig vertretenen Beteiligten zu keinem Verfahrensfehler.
Gründe
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Zu Unrecht sehen die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) einen Verfahrensmangel darin, dass der von ihnen abgelehnte Berichterstatter als Einzelrichter das angefochtene Urteil gefällt hat. Eine Zulassung der Revision aus diesem Grund kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil das Ablehnungsgesuch wegen Befangenheit durch Beschluss des Finanzgerichts (FG) abgelehnt wurde und diese Ablehnung nach § 128 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) unanfechtbar ist.
Nach § 124 Abs. 2 FGO unterliegen dem Endurteil vorausgegangene Entscheidungen, die nach der FGO unanfechtbar sind, nicht der Beurteilung durch die Revision. Daher kann eine Nichtzulassungsbeschwerde grundsätzlich nicht auf die Ablehnung eines Befangenheitsgesuchs gestützt werden (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13. Januar 2003 III B 51/02, BFH/NV 2003, 640, und vom 4. August 2008 VIII B 82/08, nicht veröffentlicht).
Allerdings schließt § 124 Abs. 2 FGO die Rüge solcher Verfahrensmängel nicht aus, die als Folge der beanstandeten Vorentscheidung fortwirken und damit dem angefochtenen Urteil anhaften, sofern die Vorentscheidung gegen das Willkürverbot verstößt oder ein Verfahrensgrundrecht verletzt wird, wie der Anspruch auf rechtliches Gehör oder auf den gesetzlichen Richter (BFH-Urteil vom 21. Februar 1980 V R 71-73/79, BFHE 130, 157, BStBl II 1980, 457; BFH-Beschluss vom 25. November 1999 VII B 140/99, BFH/NV 2000, 589). Ein derartiger Verstoß durch Zurückweisung eines Ablehnungsgesuchs kann indessen nur dann als Verfahrensmangel i.S. der §§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 Nr. 1 und 3 FGO geltend gemacht werden (vgl. Begründung zum Zweiten Gesetz zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 zu Art. 1 Nr. 18 in BTDrucks 14/4061, S. 11 f.; ferner BFH-Beschluss vom 19. August 2002 VIII B 112/02, BFH/NV 2003, 65, m.w.N.), wenn der Beschluss über die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs greifbar gesetzwidrig und damit willkürlich ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21. Oktober 1999 VII R 15/99, BFHE 190, 47, BStBl II 2000, 88; in BFH/NV 2003, 640; vom 3. Juni 2005 XI S 7/04 (PKH), BFH/NV 2005, 1556; vom 28. Juli 2005 II B 81/04, BFH/NV 2005, 2221).
Für eine solche willkürliche Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs bestehen im Streitfall keine Anhaltspunkte. Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 42 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Ein derartiger Grund besteht, wenn ein Beteiligter von seinem Standpunkt aus ‑‑jedoch nach Maßgabe einer vernünftigen, objektiven Betrachtung‑‑ davon ausgehen kann, der Richter werde nicht unvoreingenommen, sondern unsachlich oder willkürlich entscheiden. Im Allgemeinen lassen die von dem Richter vorgenommenen Verfahrenshandlungen keinen Schluss auf dessen Befangenheit zu. Dabei rechtfertigen auch fehlerhafte Entscheidungen grundsätzlich keine Richterablehnung; vielmehr hat die Überprüfung richterlicher Entscheidungen im Rechtsmittelweg zu erfolgen (ständige Rechtsprechung, s. z.B. BFH-Beschluss vom 14. Juni 1994 VII B 34/94, BFH/NV 1995, 131; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 51 Rz 47, jeweils m.w.N.). Dies gilt auch für behauptete Rechtsverstöße eines Richters in einem Parallelverfahren.
Die Erwägungen des FG im Beschluss vom 5. September 2012, in dem es das Ablehnungsgesuch der Kläger zurückgewiesen hat, orientieren sich erkennbar an dieser Rechtsprechung. Die Ausführungen setzen sich mit den vorgebrachten Ablehnungsgründen auseinander und kommen zu dem jeweils gut nachvollziehbaren Schluss, dass aus objektiver Sicht für eine Voreingenommenheit des abgelehnten Richters den Klägern gegenüber keine Anhaltspunkte bestehen. Die Beschlussgründe sind keineswegs greifbar gesetzwidrig und damit willkürlich, oder mit anderen Worten: völlig unvertretbar.
Eine greifbare Gesetzwidrigkeit folgt insbesondere auch nicht daraus, dass die vom FG beauftragte Gerichtsprüferin in den Ermittlungsakten gegen den Kläger und einer Internetplattform recherchiert hat. Zum einen wäre das Verhalten der Gerichtsprüferin ‑‑worauf das FG zutreffend hingewiesen hat‑‑ dem abgelehnten Richter nicht zuzurechnen. Zum anderen gilt im finanzgerichtlichen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG kann und muss den Sachverhalt auch ohne entsprechende Anträge der Beteiligten erforschen. Im Übrigen kam die Gerichtsprüferin in ihrer Stellungnahme zu der Geldverkehrsrechnung zu insgesamt geringeren Ausgabeüberschüssen als der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt) und dieses hat auf Anregung des abgelehnten Richters auf dieser Grundlage geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 2003 und 2004 erlassen. Weshalb die Kläger durch die Kostenentscheidung im Urteil deutlich bestraft worden sein sollen, ist nicht nachvollziehbar. Das FG hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen, bei der Kostenentscheidung jedoch berücksichtigt, dass die Änderungsbescheide zum Verfahrensgegenstand geworden sind und deshalb die Kosten gegeneinander aufgehoben. Die Entscheidung, ob den Klägern Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren ist, obliegt nicht der Beurteilung der Revision.
2. Die Kläger rügen ferner einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung gemäß Art. 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 (zutreffend wohl Art. 6 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). Das FG habe die Vorschriften des Strafprozesses ausweislich des angefochtenen Urteils nicht eingehalten. Hätte das FG beachtet, dass der Kläger nicht Straftäter, schuldig der Steuerhinterziehung sei, hätte es nicht von einer Festsetzungsverjährung von zehn Jahren ausgehen dürfen. Die Schätzungen wären anders ausgefallen, die Kostenentscheidung anders getroffen worden und den Klägern wäre Prozesskostenhilfe bewilligt worden.
Mit diesem Vorbringen legen die Kläger einen Verfahrensmangel schon deshalb nicht schlüssig dar, weil das Verfahren vor dem FG kein Strafprozess ist. Das Verfahren vor dem FG richtet sich nach der FGO. Dies gilt auch insoweit, als das FG im Rahmen der Prüfung der Festsetzungsverjährung nach § 169 Abs. 2 Satz 2 AO zu beurteilen hat, ob objektiv und subjektiv der Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist. Zwar ist insoweit auch im Besteuerungsverfahren der Grundsatz "in dubio pro reo" zu beachten (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 29. Januar 2002 VIII B 91/01, BFH/NV 2002, 749, m.w.N.). Die Kläger haben aber nicht schlüssig dargelegt, dass das FG diesen Grundsatz verletzt hätte. Dieser greift nur ein, so lange Zweifel nicht zu beheben sind. Er untersagt dem FG indes nicht, aufgrund vielfältiger Feststellungen zu der vollen Überzeugung zu gelangen, dass eine Steuerhinterziehung zu bejahen ist. Ebenso wenig steht der Grundsatz "in dubio pro reo" der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen entgegen, da der Steuerpflichtige im Besteuerungsverfahren zur Mitwirkung verpflichtet bleibt (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 23. Januar 2002 XI R 10, 11/01, BFHE 198, 7, BStBl II 2002, 328; Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12. Januar 2005 5 StR 191/04, BFH/NV 2005, Beilage 2, 125).
3. Auch das weitere Vorbringen der Kläger rechtfertigt keine Zulassung der Revision wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO).
a) Die Kläger machen zu Unrecht geltend, das FG habe ihren Gehörsanspruch verletzt, weil es entschieden habe ohne Beweise zu erheben, ohne Zwischenergebnisse mit ihnen zu erörtern und Hinweise zu erteilen, auf die sie hätten eingehen können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern des Vorbringens auseinanderzusetzen. Indes ist das Gericht nicht verpflichtet, den Beteiligten die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte anzudeuten, sie mit ihnen umfassend zu erörtern (BFH-Beschluss vom 12. Juli 2012 I B 131/11, BFH/NV 2012, 1815) oder der Rechtsansicht eines Beteiligten zu folgen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 2008 2 BvR 2062/07, Deutsches Verwaltungsblatt 2008, 1056; BFH-Beschluss vom 11. Mai 2011 V B 113/10, BFH/NV 2011, 1523).
Da die Kläger auch im Klageverfahren durch ihre jetzigen Prozessbevollmächtigten vertreten worden sind, stellt auch das Unterlassen eines Hinweises gemäß § 76 Abs. 2 FGO regelmäßig keinen Verfahrensmangel dar (vgl. BFH-Beschlüsse vom 5. August 2011 III B 144/10, BFH/NV 2011, 1915; vom 24. Juli 2006 IX B 48/06, BFH/NV 2006, 2269, m.w.N.). Ein sachkundig vertretener Beteiligter muss gerade bei umstrittener Sach- und/oder Rechtslage grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (vgl. BFH-Beschlüsse vom 14. Oktober 2009 IX B 86/09, BFH/NV 2010, 222, m.w.N.; vom 24. August 2011 IX B 89/11, BFH/NV 2012, 11).
b) Das Recht auf Akteneinsicht (§ 78 FGO) gehört zu den verzichtbaren Verfahrensmängeln (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Mai 2011 VI B 3/11, BFH/NV 2012, 46), denn die Gewährung von Akteneinsicht setzt naturgemäß einen Antrag und die entsprechende Mitwirkung des Beteiligten oder seines Vertreters voraus und ist daher disponibel. Im Übrigen wurde den Klägern nach ihrem Vorbringen im Schreiben vom 4. Januar 2013 Akteneinsicht gewährt. Weshalb in der Tatsache, dass ihnen diese in den Räumen des Amtsgerichts … ermöglicht worden ist, eine Gehörsverletzung liegen soll, ist nicht nachvollziehbar.
c) Das Unterlassen richterlicher Hinweise führt bei sachkundig vertretenen Beteiligten zu keinem Verfahrensfehler (vgl. oben). Deshalb bedurfte es auch keines Hinweises des FG, auf welche Aktenteile ihre "Verteidigung" zu fokussieren war.
d) Eine Gehörsverletzung ist ‑‑entgegen dem Vorbringen in der Beschwerdeschrift‑‑ auch nicht darin zu sehen, dass das Gericht nicht das persönliche Erscheinen der Kläger in der mündlichen Verhandlung angeordnet hat (BFH-Beschluss vom 20. August 2010 IX B 41/10, BFH/NV 2010, 2239). Es blieb ihnen unbenommen, den Termin zur mündlichen Verhandlung ‑‑neben ihrem Prozessbevollmächtigten‑‑ gleichwohl persönlich wahrzunehmen.
4. Das angefochtene Urteil leidet ebenfalls nicht an dem gerügten Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 FGO), weil das FG den von den Klägern im Schriftsatz vom 3. September 2012 gestellten Beweisanträgen (Sachverständigengutachten, Zeugnis des Finanzbeamten X) nicht nachgekommen ist. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit diese Beweisanträge ausreichend substantiiert waren, da die im finanzgerichtlichen Verfahren sachkundig vertretenen Kläger ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 10. Oktober 2012 das Übergehen von Beweisanträgen weder gerügt noch dargelegt haben, warum sie entschuldbar an der Rüge gehindert waren. Bei der Verletzung der Sachaufklärungspflicht handelt es sich um einen verzichtbaren Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 25. März 2013 IX B 180/12, BFH/NV 2013, 968).
5. Im Kern wenden sich die Kläger gegen die (vermeintlich) fehlerhafte Rechtsanwendung durch das FG, die grundsätzlich nicht zur Zulassung der Revision führt (z.B. BFH-Beschluss vom 30. Mai 2008 IX B 216/07, BFH/NV 2008, 1510).