BFH VI. Senat
EStG § 62 Abs 1, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 63 Abs 1 S 3, EStG § 9 Abs 1 S 1, EStG § 9 Abs 1 S 3 Nr 4, AO § 12 S 2 Nr 8, AO § 12 S 1, EStG § 4 Abs 5 S 1 Nr 5, EStG § 63 Abs 1 S 2
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 24. Mai 2012, Az: 6 K 316/06 Kg
Leitsätze
NV: Bauausführungen oder Montagen (§ 12 Satz 2 AO) sind keine regelmäßige Arbeitsstätte i.S.d. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG.
Tatbestand
I. Der 1979 geborene Sohn (S) des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) befand sich bis zum 11. Dezember 1998 aufgrund eines Berufsausbildungsvertrags in einer Ausbildung zum Maurer, die er ohne Abschluss beendete. Im Januar des Streitjahres (1999) meldete er sich arbeitslos. Ab März des Streitjahres nahm er an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme teil, innerhalb derer er seine Ausbildung abschloss. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme wurde vom Verein A e.V. (A) durchgeführt und trug die Bezeichnung "Wohnumfeldgestaltung im Feriendorf (...), Qualifizierung im Bereich Hochbaufacharbeiter". S schloss mit dem A einen befristeten (1. März 1999 bis 29. Februar 2000) Arbeitsvertrag ab. Das Feriendorf befindet sich in einem 9,4 ha großen Waldgrundstück im Außenbereich der Gemeinde G.
S erzielte im Jahr 1999 Einnahmen aus nichtselbstständiger Tätigkeit in Höhe von 22.413 DM, zu denen er Werbungskosten von 4.413 DM erklärte. Sein Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen betrug 4.775 DM. Ferner erhielt er Arbeitslosenbezüge von 1.195,54 DM.
Da sich S nach Auffassung des Klägers auch im Rahmen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (noch) in Ausbildung befand, beantragte er auch für die Zeit von März bis Dezember des Streitjahres die Gewährung des Kindergelds. Dies lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) ab.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob der Kläger Klage, die das Finanzgericht (FG) als unbegründet zurückwies. Zur Begründung führte es u.a. aus: Nach §§ 62 Abs. 1, 32 Abs. 1 und 4 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) bestehe ein Anspruch auf Kindergeld für über 18-jährige Kinder, die für einen Beruf ausgebildet würden und deren Einkünfte und Bezüge nicht mehr als 13.020 DM betrügen.
Die Einkünfte und Bezüge des S hätten diese Grenze im Streitjahr überstiegen. Seine Werbungskosten seien nicht aufgrund einer Einsatzwechseltätigkeit zu erhöhen, da das Feriendorf seine regelmäßige Arbeitsstätte gewesen sei.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei als regelmäßige Arbeitsstätte der Tätigkeitsmittelpunkt eines Arbeitnehmers anzusehen. Das sei der Ort, an dem der Arbeitnehmer seine aufgrund des Dienstverhältnisses geschuldete Leistung zu erbringen habe. Im Regelfall sei dies der Betrieb oder eine Betriebsstätte des Arbeitgebers, der der Arbeitnehmer zugeordnet sei und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, also fortdauernd und immer wieder aufsuche (Senatsurteil vom 19. Januar 2012 VI R 32/11, BFH/NV 2012, 936).
Für S habe die Tätigkeitsstätte im Feriendorf diese Voraussetzungen erfüllt. Sein Arbeitsvertrag habe sich explizit auf die ABM Nr. xxxxx/99, die nur an diesem Ort durchgeführt und auch nur für dieses konkrete Projekt beantragt und bewilligt worden sei, bezogen. S sei ausschließlich für die genannte Maßnahme eingestellt worden. Ein Einsatz außerhalb der für die ABM festgelegten Tätigkeitsstätte sei danach für S nicht vorgesehen gewesen.
Das Feriendorf sei auch eine Betriebsstätte des A gewesen. Gemäß § 12 Satz 2 Nr. 8 der Abgabenordnung (AO) seien als Betriebsstätten insbesondere Bauausführungen oder Montagen, auch örtlich fortschreitende oder schwimmende, anzusehen, wenn die einzelne Bauausführung oder Montage oder eine von mehreren zeitlich nebeneinander bestehenden Bauausführungen oder Montagen oder mehrere ohne Unterbrechung aufeinander folgende Bauausführungen oder Montagen länger als sechs Monate dauerten. Diese Voraussetzung habe die Maßnahme im Feriendorf erfüllt, da dort über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten Bauausführungen stattgefunden hätten. Entgegen der Auffassung des Klägers setze eine solche Betriebsstätte nach § 12 Satz 2 AO weder voraus, dass es sich um eine ortsfeste dauerhafte betriebliche Einrichtung handele, noch müsse diese im Eigentum des Unternehmens stehen, das die Bauausführung vornähme. § 12 Satz 2 AO erweitere die Definition der Betriebsstätte um Einrichtungen, die nicht notwendig die Voraussetzungen des Satzes 1 der Norm erfüllen müssten, um bestimmte Tätigkeiten, wie z.B. Bauausführungen (BFH-Urteil vom 17. September 2003 I R 12/02, BFHE 203, 400, BStBl II 2004, 396, m.w.N.).
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, den Bescheid vom 4. September 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2006 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für S für die Monate März bis Dezember 1999 zu bewilligen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat das Feriendorf zu Unrecht als regelmäßige Arbeitsstätte des A angesehen.
1. Für ein Kind, das das 18., aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat und sich in Ausbildung befindet, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 13.020 DM im Kalenderjahr hat. Der Begriff der Einkünfte entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 22. Oktober 2009 III R 101/07, BFH/NV 2010, 200).
Darüber hinaus sind nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164) im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Einkünfte ‑‑ebenso wie die Bezüge‑‑ nur zu berücksichtigen, soweit sie zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen (BFH-Urteil vom 9. Februar 2012 III R 73/09, BFHE 236, 407, BStBl II 2012, 463; Senatsurteile vom 5. Juli 2012 VI R 99/10, BFHE 238, 93, BFH/NV 2012, 1870; vom 16. Januar 2013 VI R 14/12, BFHE 240, 125, BStBl II 2013, 449).
a) Werbungskosten i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Aufwendungen, die objektiv durch die berufliche Tätigkeit veranlasst sind und die subjektiv zur Förderung des Berufs getätigt werden. Hierzu können auch Fahrtkosten gehören. Sie sind grundsätzlich in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Kosten für Fahrten mit einem eigenen oder zur Nutzung überlassenen Kraftfahrzeug sind jedoch nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG nur pauschal mit 0,70 DM für jeden Kilometer zu berücksichtigen, soweit es sich um Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte handelt.
Eine regelmäßige Arbeitsstätte kann nur eine ortsfeste, dauerhafte betriebliche Einrichtung des Arbeitgebers sein, der der Arbeitnehmer zugeordnet ist und die er nicht nur gelegentlich, sondern mit einer gewissen Nachhaltigkeit, d.h. fortdauernd und immer wieder aufsucht. Regelmäßig handelt es sich dabei um den Betrieb des Arbeitgebers oder einen Zweigbetrieb, nicht aber um die Tätigkeitsstätte in einer betrieblichen Einrichtung des Kunden des Arbeitgebers (z.B. Senatsentscheidungen vom 10. Juli 2008 VI R 21/07, BFHE 222, 391, BStBl II 2009, 818; vom 9. Juli 2009 VI R 21/08, BFHE 225, 449, BStBl II 2009, 822; VI R 42/08, BFH/NV 2009, 1806; vom 17. Juni 2010 VI R 35/08, BFHE 230, 147, BStBl II 2010, 852; vom 19. Januar 2012 VI R 23/11, BFHE 236, 351, BStBl II 2012, 472; vom 9. Februar 2012 VI R 44/10, BFHE 236, 431, BStBl II 2013, 234; vom 18. September 2012 VI R 65/11, BFH/NV 2013, 517; vom 17. Juni 2010 VI R 20/09, BFHE 230, 533, BStBl II 2012, 32, zum weiträumigen Arbeitsgebiet).
Ist der Arbeitnehmer nicht an einer solchen dauerhaften betrieblichen Einrichtung des Arbeitgebers tätig, liegt regelmäßig eine Auswärtstätigkeit vor mit der Folge, dass die Kosten für beruflich veranlasste Fahrten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG uneingeschränkt zum Abzug zuzulassen sind.
b) Entgegen der Auffassung des FG sind Bauausführungen oder Montagen (§ 12 Satz 2 AO) keine regelmäßigen Arbeitsstätten i.S. von § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG. Zwar kann auch eine Betriebsstätte des Arbeitgebers die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen (s. Senatsurteil vom 13. Juni 2012 VI R 47/11, BFHE 238, 53, BStBl II 2013, 169). Es muss sich dabei jedoch um eine dauerhafte betriebliche Einrichtung handeln, die die Voraussetzungen des § 12 Satz 1 AO erfüllt. Das setzt u.a. eine nicht nur vorübergehende Verfügungsbefugnis des Arbeitgebers über die Einrichtung voraus (BFH-Urteil vom 4. Juni 2008 I R 30/07, BFHE 222, 14, BStBl II 2008, 922).
2. Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung war deshalb aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif.
Das FG wird im zweiten Rechtsgang zunächst zu prüfen haben, ob das Feriendorf nach den genannten Grundsätzen eine betriebliche Einrichtung des A war. Ist das zu verneinen, sind die Kosten für die Fahrten des S von seiner Wohnung dorthin in tatsächlicher Höhe zu berücksichtigen. Das FG hat allerdings keine Feststellungen zur Höhe dieser Aufwendungen getroffen. Die diesbezüglichen Feststellungen wird es im zweiten Rechtsgang ebenso nachzuholen haben wie Feststellungen zur Höhe der übrigen geltend gemachten Werbungskosten einschließlich ggf. angefallener Verpflegungsmehraufwendungen, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen insoweit vorliegen (§ 9 Abs. 5 EStG i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 5 Satz 5 EStG).
Das FG geht offensichtlich davon aus, dass sich S im fraglichen Zeitraum in Ausbildung befand. Zwar hat die Vorinstanz dieses Ergebnis nicht näher begründet. Sie hat allerdings festgestellt, dass S "innerhalb" der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme seine Ausbildung abgeschlossen hat. Der Senat schließt sich dieser auch von den Beteiligten getragenen Auffassung an.