BFH X. Senat
AO § 233a, AO § 227, StPO § 111d Abs 2, StPO § 111d Abs 5, StPO § 111g, StPO § 111h
vorgehend FG Düsseldorf, 08. Dezember 2009, Az: 4 K 137/08 AO
Leitsätze
NV: Nachforderungszinsen sind nicht allein deshalb wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, weil der Steuerpflichtige vorhandene Liquidität als Sicherheit zur Außervollzugsetzung eines Haftbefehls verwendet oder Vermögen aufgrund eines strafprozessualen dinglichen Arrests sichergestellt wird.
Tatbestand
I. Gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) war im Oktober 2003 Anklage wegen verschiedener Wirtschaftsstraftaten erhoben worden. Im August 2004 wurde die Anklage u.a. um die Vorwürfe der Hinterziehung von Einkommensteuer in drei Fällen für die Jahre 1998, 2000 und 2001 erweitert. Wegen der aus den Taten erlangten Vorteile ordnete das zuständige Amtsgericht mit Beschlüssen vom 17. Juni 2003 und 17. Oktober 2003 den dinglichen Arrest (§ 111b Abs. 2 und 5, § 111d, § 111e Abs. 1 der Strafprozessordnung ‑‑StPO‑‑) in Höhe von … € sowie … € in das Vermögen des Klägers an. Auf Grund eines Haftbefehls vom 26. Juni 2003 saß der Kläger zudem bis zum 25. Juli 2003 in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl wurde gegen die Stellung einer Sicherheitsleistung in Höhe von … € außer Vollzug gesetzt. Mit Urteil vom 10. Mai 2005 wurde der Kläger wegen der ihm zur Last gelegten Einkommensteuerhinterziehung sowie der unrichtigen Darstellung nach § 331 Nr. 1 des Handelsgesetzbuchs zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.
Auf Grund einer Steuerfahndungsprüfung änderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Einkommensteuerfestsetzungen des Klägers für die Jahre 1995 bis 2001. Zugleich änderte er die Zinsfestsetzungen nach § 233a der Abgabenordnung (AO). Bis auf das Jahr 1999, für das Erstattungszinsen festgesetzt wurden, ergaben sich Nachzahlungszinsen.
Der Kläger beantragte im September 2005, die für die Jahre 1995 bis 1998, 2000 und 2001 festgesetzten Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit insoweit zu erlassen, als diese auf die Zeit ab dem 1. Juli 2003 entfielen. Zur Begründung berief er sich auf die Arrestanordnungen, die ihn wirtschaftlich handlungsunfähig gemacht hätten. Ergänzend wies der Kläger im Einspruchsverfahren auf den von ihm zur Außervollzugsetzung des Haftbefehls als Sicherheit hinterlegten und nur gering verzinsten Betrag in Höhe von … € hin. Das FA lehnte den Antrag ab und wies den dagegen eingelegten Einspruch zurück.
Die Klage hatte aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 549 veröffentlichten Gründen keinen Erfolg.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung der §§ 227 und 233a AO.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil sowie den Ablehnungsbescheid vom 30. Januar 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 12. Dezember 2007 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die festgesetzten Zinsen zur Einkommensteuer 1995 bis 1998, 2000 und 2001 insoweit zu erlassen, als sie auf die Zeit ab dem 1. Juli 2003 entfallen.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Finanzgericht (FG) hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Ablehnung des Erlassantrags durch das FA nicht ermessensfehlerhaft war. Erst recht steht dem Kläger kein Anspruch auf den begehrten teilweisen Erlass der Nachzahlungszinsen zu. Die Erhebung der streitigen Nachforderungszinsen ist nicht unbillig i.S. des § 227 AO.
1. Nach § 227 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erlassen, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Zu diesen Ansprüchen gehören auch Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen wie z.B. Zinsen (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 4 AO).
a) Die Entscheidung über den Erlass ist eine Ermessensentscheidung der Behörde (Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603) und unterliegt deshalb gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Zu prüfen ist daher bei einer Erlassablehnung nur, ob die Finanzbehörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
b) Im Einzelfall kann der Ermessensspielraum aber so eingeengt sein, dass nur eine Entscheidung ermessensgerecht ist (sog. Ermessensreduzierung auf null). Ist nur der Erlass eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis ermessensgerecht, kann das Gericht gemäß § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zum Erlass aussprechen (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom 16. November 2005 X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, m.w.N.).
2. Das FG hat nach diesem Prüfungsmaßstab zu Recht eine fehlerhafte Ermessensausübung verneint. Die Entscheidung des FA, dass die Erhebung der Nachforderungszinsen zur Einkommensteuer im Streitfall auch insoweit nicht sachlich unbillig ist, als diese auf den Zeitraum ab Juli 2003 entfallen, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
a) Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen ‑‑auf die der Kläger seinen Erlassantrag allein stützt‑‑ ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dann anzunehmen, wenn ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis zwar nach dem gesetzlichen Tatbestand besteht, seine Geltendmachung aber mit dem Zweck des Gesetzes nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist und dessen Wertungen zuwiderläuft (vgl. z.B. Senatsurteil in BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155, m.w.N.). Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands bewusst in Kauf genommen hat, können keinen Billigkeitserlass rechtfertigen. Die generelle Geltungsanordnung des Gesetzes darf durch eine Billigkeitsmaßnahme nicht unterlaufen werden. Dies gilt auch für den Erlass nach § 233a AO festgesetzter Zinsen (BFH-Urteil vom 23. Oktober 2003 V R 2/02, BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.2.a).
b) Zweck der Regelungen in § 233a AO ist es, einen Ausgleich dafür zu schaffen, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zwar jeweils spätestens zum Jahresende entstehen, aber zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden (Begründung zum Gesetzentwurf, BTDrucks 11/2157, S. 194). Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potentiellen Zinsvorteil hat. Dieser Vorteil ist umso größer, je höher der nachzuzahlende Betrag ist und je später die Steuer festgesetzt wird. Durch die Sollverzinsung sollen der Liquiditätsvorteil des Steuerpflichtigen und seine damit verbundene erhöhte steuerliche Leistungsfähigkeit abgeschöpft werden. Gleichzeitig soll der vorhandene Zinsnachteil des Fiskus, der den nicht gezahlten Steuerbetrag nicht anderweitig nutzen kann, ausgeglichen werden (Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts ‑‑BVerfG‑‑ vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115). Ob die möglichen Zinsvorteile tatsächlich bestanden, ist grundsätzlich unbeachtlich (BFH-Urteil in BFHE 203, 410, BStBl II 2004, 39, unter II.2.b aa). Daher greift die Regelung grundsätzlich unabhängig davon, aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob und inwiefern tatsächlich die Liquiditätsvorteile genutzt wurden (vgl. BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2009, 2115).
c) Danach hat das FG zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger im Streitfall tatsächlich einen Liquiditätsvorteil hatte. Dadurch, dass die Einkommensteuer für die Streitjahre erst im Anschluss an die Steuerfahndungsprüfung zutreffend festgesetzt wurde, war er von der Zahlung der geschuldeten Steuer vorerst "freigestellt". Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO in so einem Fall grundsätzlich rechtmäßig (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 19. März 2009 V R 48/07, BFHE 225, 215, BStBl II 2010, 92, m.w.N.). Das weitere Schicksal des Zins- oder Liquiditätsvorteils, namentlich die Frage, inwieweit er wirtschaftlich dem Steuerpflichtigen verbleibt, ist unerheblich (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Januar 2010 X B 64/09, BFH/NV 2010, 1233). Ob dieser die durch die vorläufige Nichtzahlung der Steuern gewonnene Liquidität etwa in Form einer zinsbringenden Anlage oder zur Tilgung anderweitiger Verbindlichkeiten genutzt hat, ist folglich ebenfalls gleichgültig. § 233a AO stellt allein auf das Steuerschuldverhältnis zwischen dem Steuerpflichtigen und dem FA ab (vgl. BFH-Urteil vom 24. Februar 2005 V R 62/03, BFH/NV 2005, 1220).
d) Außergewöhnliche eine Unbilligkeit begründende Umstände liegen im Streitfall weder in der Hinterlegung des Geldbetrags zur Aussetzung des Vollzugs des gegen den Kläger erlassenen Haftbefehls als Sicherheit noch in den strafprozessualen dinglichen Arresten in sein Vermögen. Weder der Liquiditätsvorteil des Klägers noch der Zinsnachteil des Fiskus wurden hierdurch beseitigt.
Durch die verspätete Steuerfestsetzung hatte der Kläger die objektive Möglichkeit eines Zinsvorteils, weil die vorläufige Nichtzahlung der Steuern seine Liquidität erhöht hat.
aa) Der Umstand, dass der Kläger, aus welchen Quellen auch immer, die Sicherheitsleistung hat aufbringen können, spielt im Rahmen einer möglichen Billigkeitsentscheidung weder für noch gegen ihn eine Rolle. Es handelt sich um die Verwendung vorhandener Liquidität, die nicht mit der durch die verspäteten Steuerfestsetzungen geschaffenen Liquidität identisch (stoffgleich) ist. Da es unerheblich ist, was mit der durch die verspäteten Steuerfestsetzungen gewonnenen Liquidität geschieht, ist es auch gleichgültig, ob die Liquidität freiwillig oder ‑‑wie der Kläger geltend macht‑‑ unfreiwillig verwendet wird. Ebenso wenig ist es deshalb von Bedeutung, inwieweit die Verwendung ertragbringend ist oder nicht. Entsprechend geht der Hinweis des Klägers auf die gemäß § 8 der Hinterlegungsordnung nur geringe Verzinsung des hinterlegten Betrages ins Leere.
bb) Schließlich war es auch ermessensgerecht, dass das FA einen Erlass (auch) nicht mit Rücksicht auf die strafprozessualen dinglichen Arreste ausgesprochen hat (vgl. insoweit auch BFH-Urteil vom 5. November 2002 II R 58/00, BFH/NV 2003, 353).
Der dingliche Arrest nach der StPO soll sicherstellen, dass dem Täter die Früchte seiner rechtswidrigen Tat jedenfalls nicht verbleiben, sondern diese ggf. an den Verletzten, der Ersatzansprüche hat, ausgekehrt werden können. Dies ist in Fällen der Steuerhinterziehung grundsätzlich auch zugunsten des Steuerfiskus möglich (§ 111b Abs. 2 und 5 StPO i.V.m. § 73 Abs. 1 Satz 2 des Strafgesetzbuchs, § 111d StPO; vgl. z.B. Beschlüsse der Oberlandesgerichte Hamm vom 26. Februar 2013 III-1 Ws 534/12, Praxis Steuerstrafrecht 2013, 139, und Celle vom 20. Mai 2008 2 Ws 155/08, Niedersächsische Rechtspflege 2008, 285). Der Arrestbeschluss bedarf allerdings der Vollziehung (§ 111d Abs. 2 StPO i.V.m. § 928 und §§ 930 bis 932 der Zivilprozessordnung). Erst hierdurch wird das Vermögen des Schuldners bzw. ein Teil davon in einem vorläufigen Verfahren beschlagnahmt. Eine Befriedigung des Steuerfiskus als Verletzten tritt aber auch durch den vollzogenen Arrest nicht ein. Hierzu bedarf es vielmehr der Überleitung in das Vollstreckungsverfahren nach der AO (§ 111g, § 111h StPO). Bei dem dinglichen Arrest nach der StPO handelt es sich somit lediglich um eine vollstreckungssichernde Maßnahme. Die Arrestvollziehung bewirkt nur eine Verfügungsbeschränkung; sie macht den Arrestschuldner nicht vermögenslos (BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 353, zum dinglichen Arrest nach § 324 AO). Auch bedeutet eine Verfügungsbeschränkung nicht unbedingt, dass das Vermögen keine Erträge mehr abwirft. Dass ein Arrestschuldner ohne die Verfügungsbeschränkung möglicherweise höhere Erträge hätte erwirtschaften können, kann nicht berücksichtigt werden, da es nach den Ausführungen unter II.2.b und c hierauf nicht ankommt.