BFH XI. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 32 Abs 6, BGB § 1569, BGB § 1360, BGB § 1360a, BGB § 1361, BGB § 16151l, EStG VZ 2010 , BGB §§ 1569ff
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 13. März 2012, Az: 2 K 1569/11 (Kg)
Leitsätze
NV: Lebt ein Kind mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes in einem gemeinsamen Haushalt, ist bei der Grenzbetragsprüfung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum Veranlagungszeitraum 2011 geltenden Fassung im Einzelnen zu ermitteln, ob und ggf. in welchem Umfang es Bar- oder Naturalleistungen von dem anderen Elternteil oder von einem Dritten bezogen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307).
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten im Revisionsverfahren über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2010.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter der 1986 geborenen Tochter (T), die selbst Mutter eines im 2009 geborenen Kindes ist. Seit September 2010 ist T mit dem Kindesvater verheiratet. Die Klägerin bezog für T Kindergeld.
Nach einem Urlaubssemester bis August 2009 setzte T ihr Studium fort. Die Exmatrikulation erfolgte nach im Oktober 2010 bestandener Abschlussprüfung im Februar 2011.
T wohnte 2010 und 2011 mit dem Vater ihres Kindes ‑‑nach der Heirat im September 2010 ihr Ehemann‑‑ in einer gemeinsamen Wohnung.
Die frühere Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob mit Bescheid vom 11. Juli 2011 die Festsetzung des Kindergeldes für T von Januar bis Oktober 2010 auf und forderte von der Klägerin überzahltes Kindergeld zurück. Sie ging dabei davon aus, dass ein Kindergeldanspruch der Klägerin ausgeschlossen sei, weil gegenüber T nach § 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) vorrangig der Vater des 2009 geborenen Kindes unterhaltspflichtig sei.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage nach erfolglosem Einspruch im Streitpunkt des Revisionsverfahrens ‑‑der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2010‑‑ statt.
Das FG führte zur Begründung im Wesentlichen aus, dass T für den Zeitraum von Januar bis Oktober 2010 gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) als Kind berücksichtigungsfähig sei, da sie studiert habe und ihr Einkommen den anteiligen Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht überstiegen habe.
Die Unterhaltsverpflichtung der Klägerin gegenüber T sei nicht entfallen. Der Vater des Kindes der T sei dieser gegenüber nicht unterhaltsverpflichtet gewesen. T habe entgegen § 1615l Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach von der Mutter wegen der Pflege oder Erziehung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden könne, nicht auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verzichtet, sondern ihre Ausbildung fortgesetzt.
Der Kindergeldanspruch für T sei auch durch ihre Heirat im September 2010 nicht entfallen. Der Anspruch auf Kindergeld für ein volljähriges Kind setze eine typische Unterhaltssituation der Eltern voraus, die nach der Eheschließung des Kindes grundsätzlich nicht mehr bestehe, weil ab diesem Zeitpunkt dem Kind in erster Linie der Ehepartner zum Unterhalt nach § 1608 Satz 1 BGB i.V.m. den §§ 1360, 1360a BGB verpflichtet sei. Eine Ausnahme gelte für den Fall, dass das Einkommen des Ehepartners so gering sei, dass er zum (vollständigen) Unterhalt nicht in der Lage sei, das Kind ebenfalls nicht über ausreichende eigene Einkünfte verfüge und die Eltern deshalb weiterhin für das Kind aufkommen müssten. Ein solcher Mangelfall sei anzunehmen, wenn ‑‑wie hier‑‑ die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes einschließlich der Unterhaltsleistungen des Ehepartners unterhalb des steuerrechtlichen Existenzminimums lägen.
Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Sie bringt vor, die Vorentscheidung gehe zu Unrecht davon aus, dass eine Unterhaltsverpflichtung des Kindesvaters nach § 1615l BGB von Januar 2010 bis zum Zeitpunkt der Eheschließung im September 2010 nicht bestanden habe. Der Kindergeldanspruch der Eltern entfalle mangels vorrangiger Unterhaltspflicht. Er bestehe nur bei fehlender Leistungsfähigkeit des Kindesvaters (Mangelfall), die im Streitfall nicht gegeben sei.
Dem Unterhaltsanspruch nach § 1615l BGB stehe nicht entgegen, dass sich das Kind ‑‑hier die T‑‑ im streitigen Zeitraum in Berufsausbildung befunden habe, wovon auch die Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes unter Abschn. 31.2.3 Abs. 1 Satz 7 f. ausgehe.
Die Familienkasse beantragt, die Vorentscheidung wegen Kindergeld für Januar bis Oktober 2010 aufzuheben und die diesbezügliche Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Entscheidungsgründe
II. Der während des Revisionsverfahrens durch den Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit vom 18. April 2013 Nr. 21/2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) eingetretene Zuständigkeitswechsel führt zu einem gesetzlichen Beteiligtenwechsel (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 22. August 2007 X R 2/04, BFHE 218, 533, BStBl II 2008, 109, m.w.N.).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils entsprechend dem Revisionsantrag und insoweit zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG.
Die Feststellungen des FG lassen keine Entscheidung darüber zu, ob ein Kindergeldanspruch der Klägerin ausgeschlossen ist, weil zu berücksichtigende Bezüge des Kindes vorlagen, die zu einer Überschreitung des anteiligen Grenzbetrags des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG führen.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist entsprechend dem Revisionsantrag und der Revisionsbegründung der Familienkasse lediglich die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Januar bis Oktober 2010. Die Vorentscheidung ist, soweit sie die mit der Revision nicht angegriffene Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum November 2010 bis April 2011 betrifft, rechtskräftig (vgl. dazu z.B. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 120 FGO Rz 171; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 6, jeweils m.w.N.).
2. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass T im streitigen Zeitraum von Januar bis Oktober 2010 grundsätzlich kindergeldrechtlich zu berücksichtigen ist.
a) Für ein über 18 Jahre altes Kind, das ‑‑wie T im Streitzeitraum 2010‑‑ das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, besteht nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge den für den Streitzeitraum maßgeblichen Grenzbetrag nicht übersteigen.
b) Nach den Feststellungen des FG führte T ihr Studium im Streitzeitraum von Januar bis Oktober 2010 fort. Sie wurde im Streitzeitraum mithin für einen Beruf ausgebildet.
c) Im Rahmen der Tatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG ist ‑‑entgegen der Ansicht der Familienkasse‑‑ nicht zu prüfen, ob das Kind trotz einer gegenüber der Unterhaltspflicht der Eltern vorrangigen Unterhaltsverpflichtung des Ehegatten oder nach § 1615l BGB des anderen Elternteils eines nichtehelichen Kindes weiterhin beim Kinderfreibetrag oder beim Kindergeld berücksichtigt werden kann.
aa) Nach der Rechtsprechung des III. Senats des BFH ist eine typische Unterhaltssituation kein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der einzelnen Berücksichtigungstatbestände i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG. Ob ein Kind wegen eigener Einkünfte oder Bezüge typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen der Eltern angewiesen und deshalb nicht als Kind zu berücksichtigen ist, wird nach der gesetzlichen Regelung nicht bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG ermittelt, sondern erst auf einer zweiten Stufe bei der Prüfung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der im Streitfall bis zum Veranlagungszeitraum 2011 geltenden Fassung, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden Grenzbetrag überschreiten (vgl. BFH-Urteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, m.w.N.).
bb) Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an und verweist zur weiteren Begründung auf die Ausführungen im BFH-Urteil in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 12.
3. Der Kindergeldanspruch der Klägerin setzt voraus, dass T im streitigen Zeitraum von Januar bis Oktober 2010 keine Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, über dem anteiligen Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Satz 7 EStG ‑‑im Streitfall 6.670 €‑‑ hatte.
a) Bezüge sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden, also nicht steuerbare oder steuerfreie Einnahmen (vgl. dazu BFH-Urteile vom 17. Dezember 2009 III R 74/07, BFHE 228, 72, BStBl II 2010, 552; in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, jeweils m.w.N.). Auch Unterhaltsleistungen des verheirateten oder geschiedenen Ehegatten (§§ 1360, 1360a, 1361, 1569 ff. BGB) oder des Vaters aus Anlass der Geburt eines nichtehelichen Kindes (§ 1615l BGB) sind danach als Bezüge i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG unabhängig davon zu erfassen, ob diese freiwillig, aufgrund einer vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtspflicht erbracht werden (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 15).
b) Insoweit kommt es ‑‑entgegen der Vorentscheidung‑‑ nicht darauf an, ob der Vater des Kindes der T dieser gegenüber in der Zeit von Januar 2010 bis zum Zeitpunkt der Heirat im September 2010 nach § 1615l BGB zum Unterhalt verpflichtet gewesen ist. Entscheidend ist hingegen, ob und in welcher Höhe T ‑‑die nach den Feststellungen des FG mit dem Vater und dem Kind im streitigen Zeitraum gemeinsam in einer Wohnung lebte‑‑ tatsächlich Unterhaltsleistungen zugeflossen sind.
4. Die Vorentscheidung beruht auf einer anderen Rechtsauffassung. Sie war daher entsprechend dem Revisionsantrag aufzuheben.
5. Die Sache ist nicht spruchreif. Aufgrund der Feststellungen des FG kann der Senat nicht beurteilen, in welcher Höhe T Einkünfte und Bezüge im Streitzeitraum zuzurechnen sind.
a) Leben ‑‑wie im Streitfall bis zur Eheschließung im September 2010‑‑ die nichtverheirateten Eltern eines Kindes in einem gemeinsamen Haushalt, kann aufgrund der Unterschiede zum Ehegattenunterhalt (vgl. dazu BFH-Urteile vom 23. November 2011 III R 76/09, BFHE 236, 79, BStBl II 2012, 413; in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 18 ff., jeweils m.w.N.) für die Schätzung von Unterhaltsleistungen ‑‑entgegen dem Revisionsvorbringen der Familienkasse‑‑ nicht von dem Erfahrungssatz ausgegangen werden, dass die Elternteile sich das verfügbare Einkommen des Alleinverdieners oder das beider Elternteile hälftig teilen (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 21).
b) In Fällen des gemeinsamen Haushalts unverheirateter Eltern ist hingegen im Einzelnen zu ermitteln, ob und ggf. in welchem Umfang im jeweiligen Anspruchszeitraum gegenüber dem selbst als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG zu berücksichtigenden Elternteil Bar- oder Naturalleistungen durch den anderen Elternteil oder durch einen Dritten erbracht wurden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 22).
Das FG wird im zweiten Rechtsgang im Rahmen der Prüfung, in welcher Höhe T Einkünfte und Bezüge im Streitzeitraum Januar bis Oktober 2010 zuzurechnen sind, Feststellungen dazu zu treffen haben, ob T von Januar 2010 bis einschließlich August 2010 solche Leistungen bezogen hat.
6. Der Senat weist für den zweiten Rechtsgang ohne Bindungswirkung im Folgenden darauf hin:
a) Es bestehen keine Bedenken, bei der Bewertung von etwaigen von der T in der Zeit von Januar bis August 2010 bezogenen Naturalleistungen ‑‑z.B. Verpflegung, Unterkunft oder Wohnung‑‑ diese in Anlehnung an die Werte der ab 1. Januar 2007 geltenden Verordnung über die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung von Zuwendungen des Arbeitgebers als Arbeitsentgelt (Sozialversicherungsentgeltverordnung) in der jeweils geltenden Fassung zu schätzen, sofern nicht im Einzelfall abweichende Werte festgestellt werden können (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 241, 255, BFH/NV 2013, 1307, Rz 24).
b) Bei der Ermittlung der Bezüge der T ist ‑‑worauf die Familienkasse zu Recht hinweist‑‑ eine Kostenpauschale in Höhe von 180 € i.S. von R 32.10 Abs. 4 der Einkommensteuer-Richtlinien 2008 abzuziehen, wenn nicht höhere Aufwendungen, die im Zusammenhang mit dem Zufluss der entsprechenden Einnahmen stehen, nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden.
c) Die Unterhaltsleistungen eines Kindes an sein eigenes Kind mindern dessen Einkünfte und Bezüge nicht. Die vom Kind der T ausgelösten Unterhaltslasten der T werden ausschließlich durch den für dieses Kind bestehenden Anspruch auf Kindergeld oder die Freibeträge des § 32 Abs. 6 EStG berücksichtigt und sind mit diesem Anspruch abgegolten. Zur Vermeidung einer Doppelberücksichtigung desselben Aufwands dürfen sie daher nicht noch einmal im Rahmen der Grenzbetragsberechnung für das Kind ‑‑vorliegend der T‑‑ abgezogen werden (vgl. dazu BFH-Urteile vom 9. Februar 2012 III R 73/09, BFHE 236, 407, BStBl II 2012, 463; vom 24. Januar 2013 V R 42/11, BFH/NV 2013, 918, Rz 28, jeweils m.w.N.).