BFH III. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, EStG § 74 Abs 1, AO § 47
vorgehend FG Nürnberg, 21. März 2012, Az: 4 K 1457/10
Leitsätze
1. NV: Ist das Kindergeld nach Erlass eines die anteilige Abzweigung vorsehenden Bescheids in Höhe des Restbetrags an den Kindergeldberechtigten ausgezahlt worden, kann es in Höhe dieses Restbetrags nicht mehr an das Kind abgezweigt werden.
2. NV: Der für eine Divergenz i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO erforderliche abweichende abstrakte Rechtssatz kann sich zwar aus scheinbar nur fallbezogenen Ausführungen des FG ergeben. Das FG muss die Rechtsfrage aber entschieden und darf sie nicht übersehen haben.
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte und Beschwerdeführerin (Familienkasse) das Kindergeld für die Monate August und September 2010 (Streitzeitraum) in zutreffender Höhe an die Klägerin und Beschwerdegegnerin (Klägerin) abgezweigt hat.
Die Klägerin ist die Tochter des Beigeladenen (B). Sie beantragte, das zugunsten des B festgesetzte Kindergeld in voller Höhe an sie auszuzahlen (Abzweigung). Die Familienkasse lehnte dies ab. Der hiergegen eingelegte Einspruch war teilweise erfolgreich. Mit Änderungsbescheid vom 2. September 2010 in Verbindung mit der Einspruchsentscheidung vom 6. September 2010 wurde das Kindergeld in Höhe von 109 € ab August 2010 an die Klägerin abgezweigt (§ 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes). Im Übrigen wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. B sei bis einschließlich Juli 2010 seiner Unterhaltsverpflichtung mindestens in Höhe des Kindergelds nachgekommen. Ab August 2010 leiste er noch einen Unterhalt in Höhe von 75 € monatlich, so dass eine Abzweigung in Höhe von 109 € (184 € bis 75 €) ermessensgerecht sei.
Die hiergegen erhobene Klage, mit der sich die Klägerin gegen die nur teilweise Abzweigung des Kindergelds ab August 2010 wandte, war erfolgreich. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse unter Aufhebung des Änderungsbescheids vom 2. September 2010 und der Einspruchsentscheidung vom 6. September 2010, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu verbescheiden. Im Streitfall habe die Familienkasse nicht aufgeklärt, ob die Vereinbarung zwischen der Klägerin und B dahin gehe, Unterhalt von 75 € zuzüglich das Kindergeld zu zahlen. Um eine sachgerechte Ermessensentscheidung treffen zu können, hätte die Familienkasse aufklären und entsprechend würdigen müssen, welche Vereinbarungen zwischen der Klägerin und B im Einzelnen getroffen worden seien.
Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde begehrt die Familienkasse die Zulassung der Revision, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordere (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
1. Die Familienkasse Bayern Süd der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 1 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit Regensburg ‑‑Familienkasse‑‑ eingetreten (s. dazu BFH-Beschluss vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.).
2. Der von der Familienkasse geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO) liegt nicht vor.
a) Eine Divergenz ist anzunehmen, wenn das FG mit einem das angefochtene Urteil tragenden und entscheidungserheblichen Rechtssatz von einem eben solchen Rechtssatz einer anderen Gerichtsentscheidung abgewichen ist. Das angefochtene Urteil und die vorgebliche Divergenzentscheidung müssen dabei dieselbe Rechtsfrage betreffen und zu gleichen oder vergleichbaren Sachverhalten ergangen sein (Senatsbeschluss vom 12. Oktober 2011 III B 56/11, BFH/NV 2012, 178, m.w.N.).
b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.
aa) Zur Begründung der geltend gemachten Divergenz führt die Familienkasse im Wesentlichen aus, das FG habe, da im Streitfall der nicht an die Klägerin abgezweigte Kindergeldbetrag von 75 € bereits an B ausgezahlt worden sei, den abstrakten Rechtssatz aufgestellt, eine Abzweigung von Kindergeld sei auch noch dann möglich, wenn der Kindergeldberechtigte bereits das Kindergeld erhalten habe. Dieser Rechtssatz widerspreche dem in dem Senatsurteil vom 26. August 2010 III R 21/08 (BFHE 231, 520) aufgestellten Rechtssatz, wonach die Abzweigung von bereits ausgezahltem Kindergeld nicht möglich sei.
bb) Es ist zwar zutreffend, dass nach der Rechtsprechung des Senats ‑‑wie von der Familienkasse ausgeführt‑‑ an den Kindergeldberechtigten bereits ausgezahltes Kindergeld nicht mehr abgezweigt werden kann. Die Abzweigung von bereits ausgezahltem Kindergeld scheidet aus, da der Kindergeldanspruch durch die Auszahlung erlischt (Senatsurteile in BFHE 231, 520, zur Abzweigung an Sozialleistungsträger; vom 27. Oktober 2011 III R 16/09, BFH/NV 2012, 720, zur Abzweigung an Kind). Auch wenn in den bisher vom Senat entschiedenen Fällen das Kindergeld in voller Höhe an den Kindergeldberechtigten ausgezahlt wurde, kann für den Fall, dass nach Erlass eines die anteilige Abzweigung vorsehenden Bescheids der Restbetrag an den Kindergeldberechtigten ausgezahlt wird, nichts anderes gelten. In einem solchen Fall erlischt der Kindergeldanspruch in der Höhe, in der das Kindergeld an den Berechtigten ausgezahlt wird (§ 47 der Abgabenordnung). Bei diesem Ergebnis bliebe es selbst dann, wenn eine Abzweigung des Kindergelds in voller Höhe hätte erfolgen müssen. Dies deshalb, weil das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheids die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten im Auszahlungsverfahren (Erhebungsverfahren) unberührt lässt (Senatsurteil in BFH/NV 2012, 720, unter II.2.c).
cc) Das FG hat aber in dem angegriffenen Urteil ‑‑entgegen den Ausführungen der Familienkasse‑‑ gerade keinen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt.
Ein abweichender abstrakter Rechtssatz kann sich zwar auch aus scheinbar nur fallbezogenen Ausführungen des FG ergeben. Das FG muss die Rechtsfrage aber entscheiden und darf sie nicht übersehen haben (Senatsbeschluss vom 1. Juni 2012 III B 3/11, BFH/NV 2012, 1473, m.w.N.). Im Streitfall hat sich das FG zu der Frage, ob ein anteilig an den Kindergeldberechtigten ausgezahltes Kindergeld noch abgezweigt werden kann, weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht geäußert. Dieser Gesichtspunkt wurde von der Familienkasse auch nicht im erstinstanzlichen Verfahren thematisiert. Dort führte sie aus, die Abzweigungsentscheidung sei rechtmäßig, weil B monatlich Unterhalt in Höhe von 75 € leiste. Vielmehr hat die Familienkasse erstmals in der Beschwerdebegründung vorgetragen, dass für den Streitzeitraum der Restbetrag in Höhe von 75 € bereits an B ausgezahlt worden sei. Dies lässt nur den Rückschluss zu, dass das FG die bezeichnete Rechtsfrage übersehen hat. Es mag zwar sein, dass für das FG Anlass zur Prüfung einer anteiligen Auszahlung des Kindergelds an B bestanden hätte. Es hat aber in den Urteilsgründen den von der Familienkasse bezeichneten abweichenden Rechtssatz weder ausdrücklich noch konkludent aufgestellt.
Der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass sich der Umfang der materiellen Rechtskraft der FG-Entscheidung (Bescheidungsurteil nach § 101 Satz 2 FGO) aus den Entscheidungsgründen ergibt. Die hierin verbindlich zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung bestimmt die Rechtskraftwirkung i.S. des § 110 FGO (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 101 Rz 47, § 110 FGO Rz 66). Danach dürften vom FG weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht geprüfte Gesichtspunkte keine Bindungswirkung entfalten.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO ab.