BFH III. Senat
AO § 236 Abs 1, AO § 236 Abs 2 Nr 1, AO § 236 Abs 3, FGO § 72, FGO § 137 S 1, FGO § 138 Abs 2
vorgehend Thüringer Finanzgericht , 25. Januar 2012, Az: 2 K 440/11
Leitsätze
1. Ein Anspruch auf Prozesszinsen bei Klagerücknahme nach Bescheidänderung kann nicht allein deswegen verneint werden, weil der Steuerpflichtige Tatsachen früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen .
2. Eine "Erledigung des Rechtsstreits" i.S. des § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO ist auch dann gegeben, wenn die Klage nach Ergehen von Änderungsbescheiden zurückgenommen wird (Anschluss an das BFH-Urteil vom 13. Juli 1994 I R 38/93, BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37) .
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) begehrt die Festsetzung von Prozesszinsen gemäß § 236 der Abgabenordnung (AO) für einen von ihr geführten Rechtsstreit betreffend u.a. die Gewährung einer Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001.
Im Rahmen dieses Rechtsstreits stritten die Klägerin und der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) im Wesentlichen darüber, ob die Voraussetzung des Verbleibens der von der Klägerin angeschafften Wirtschaftsgüter im Fördergebiet (§ 2 Satz 1 Nr. 2 des Investitionszulagengesetzes ‑‑InvZulG‑‑ 1991 bzw. 1996, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InvZulG 1999) erfüllt waren. Diesbezüglich reichte die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 1. August 2003 ‑‑unvollständige‑‑ Nachweise für das Verbleiben im Fördergebiet ein. Nachdem sie weitere Unterlagen mit Schreiben vom 3. März 2004 vorgelegt hatte, fand am 30. August 2007 ein erster Erörterungstermin statt. In der Folge reichte die Klägerin am 5. Dezember 2007 weitere Unterlagen ein. In dem zweiten Erörterungstermin am 5. November 2008 erläuterte sie nochmals den Sachverhalt anhand der nachgereichten Listen und Unterlagen. Daraufhin legte der Berichterstatter des Senats des Finanzgerichts (FG) dar, dass die Investitionszulage dem Grunde nach zwingend zu gewähren sei. Das FA sollte daraufhin abhelfen. In dem Protokoll des zweiten Erörterungstermins war festgehalten: "Im Falle einer Abhilfe könne der Beklagte wegen verspäteter Vorlage der Unterlagen nicht mit Gerichts- und Steuerberaterkosten belastet werden."
Mit Datum vom 18. Februar 2009 erließ das FA entsprechende Änderungsbescheide über die Investitionszulage für die Kalenderjahre 1993 bis 2001. Für die Jahre 1993, 1996, 1997, 1999 bis 2001 ergab sich jeweils ein Guthaben zugunsten der Klägerin. Mit gerichtlichem Schreiben vom 3. März 2009 wurde die Klägerin um Stellungnahme zu den Änderungsbescheiden gebeten. Gleichzeitig wurde die Rücknahme der Klage angeregt. Daraufhin nahm die Klägerin mit Schreiben vom 31. März 2009 die Klage zurück. Mit Beschluss vom 1. April 2009 wurde das Verfahren nach § 72 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eingestellt.
Mit Schreiben vom 23. Dezember 2010 beantragte die Klägerin die Festsetzung von Prozesszinsen nach § 236 AO unter Verweis auf das Klageverfahren in dem Rechtsstreit betreffend die Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001. Gegen den Ablehnungsbescheid vom 12. Januar 2011 legte die Klägerin Einspruch ein, der jedoch keinen Erfolg hatte.
Das FG gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1020 veröffentlichten Urteil statt. Im Rubrum des FG-Urteils lautete der Sachbetreff "wegen Prozesszinsen auf Investitionszulage 1993 bis 2003". In der Sache selbst entschied das FG, der Klägerin stünden nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO die beantragten Prozesszinsen zu. Da im Streitfall die Klage nach Ergehen der Änderungsbescheide zur Investitionszulage 1993 bis 2001 zurückgenommen worden sei, habe sich der Rechtsstreit nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO erledigt.
Der Anspruch auf die Prozesszinsen entfalle auch nicht nach § 236 Abs. 3 AO. Der Wortlaut des § 236 Abs. 3 AO erscheine eindeutig. Danach erfolge keine Verzinsung, soweit dem Beteiligten die Kosten nach § 137 Satz 1 FGO auferlegt worden seien. Erforderlich sei eine Kostenentscheidung des Gerichtes, die auf § 137 Satz 1 FGO beruhe. Eine Ausweitung des § 236 Abs. 3 AO über den Wortlaut hinaus sei abzulehnen. Im Übrigen stehe der Geltendmachung des Zinsanspruchs auch nicht der Einwand von Treu und Glauben entgegen.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es führt sinngemäß aus, dass der Prozesszinsenanspruch Rechtshängigkeit voraussetze, dagegen im Falle der Rücknahme der Klage der Rechtsstreit nach § 155 FGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) als nicht anhängig geworden anzusehen sei. Deshalb würden die prozessualen und materiell-rechtlichen Folgen der Rechtshängigkeit rückwirkend beseitigt werden.
Weiter verweist das FA auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13. Juli 1994 I R 38/93 (BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37), wonach der Normzweck des § 236 AO darin bestehe, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals eine Entschädigung zu gewähren, da ihm die Möglichkeit der Kapitalnutzung entzogen worden sei. Der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, dass der Kläger für die erzwungene Kapitalüberlassung an das FA entschädigt werden müsse. Dagegen sei im vorliegenden Fall die Kapitalüberlassung nicht erzwungen gewesen, da die Klägerin für die fehlende Kapitalnutzung selbst die Verantwortung trage. Im Rahmen einer an Sinn und Zweck orientierten Gesetzesauslegung dürfe das verspätete Vorbringen nicht mit Prozesszinsen belohnt werden, unabhängig davon, ob der Kläger die Kosten des Klageverfahrens gemäß § 137 FGO oder wegen der Rücknahme gemäß § 136 Abs. 2 FGO tragen müsse.
Wenn § 236 Abs. 3 AO regele, dass bei einer Kostenauferlegung nach § 137 Satz 1 FGO keine Zinsen anfielen, müsse dies erst recht im Fall der Klagerücknahme gelten.
In Bezug auf die Aussage des FG, dass § 236 Abs. 3 AO explizit eine Kostenentscheidung des Gerichts erfordere, die auf § 137 Satz 1 FGO beruhe, und es nicht Sache der beteiligten Finanzbehörde sein könne, anstelle des Gerichts hypothetisch zu prüfen, ob die Kosten dem Steuerpflichtigen gemäß §§ 138, 137 Satz 1 FGO hätten auferlegt werden können, sei eine solche Prüfung des FA nicht erforderlich: Da im Streitfall die Niederschrift über den am 5. November 2008 durchgeführten Erörterungstermin den ausdrücklichen Hinweis des Gerichts enthalten habe, dass das FA im Fall einer Abhilfe nicht mit Kosten belastet werden dürfe, sei offenkundig gewesen, dass die Kostenlast die Klägerseite getroffen habe. Im Streitfall habe also bereits festgestanden, wie die Kostenentscheidung des Gerichts nach § 137 Satz 1 FGO ausgefallen wäre.
Im Übrigen könne das FA in einem wie im Streitfall gelagerten Fall eine Klagerücknahme nur schwerlich verhindern.
Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt, wendet sich aber sinngemäß gegen die Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Zu Recht hat das FG Prozesszinsen gemäß § 236 Abs. 1 und 2 AO festgesetzt.
1. Das Rubrum des angefochtenen Urteils ist gemäß § 107 FGO dahin zu berichtigen, dass der Sachbetreff "wegen Prozesszinsen auf Investitionszulage 1993 bis 2001" lautet. Die Klägerin begehrt ausweislich der Klageschrift Prozesszinsen nach § 236 AO im Hinblick auf das Klageverfahren in dem Rechtsstreit betreffend die Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001.
Der fehlerhafte Sachbetreff beruht auf einer offenbaren Unrichtigkeit. Eine offenbare Unrichtigkeit kann alle Bestandteile des Urteils, also insbesondere auch das Rubrum betreffen (z.B. BFH-Urteil vom 29. März 2007 IV R 55/05, BFHE 217, 103, BStBl II 2007, 655). Der erkennende Senat ist für die Berichtigung der Vorentscheidung im Rahmen des Revisionsverfahrens zuständig (BFH-Urteil in BFHE 217, 103, BStBl II 2007, 655, m.w.N.).
2. Die Voraussetzungen des § 236 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 236 Abs. 1 Satz 1 AO waren ‑‑wie das FG zutreffend ausgeführt hat‑‑ gegeben, weil die Klägerin ihre Klage nach Ergehen der Änderungsbescheide zur Investitionszulage 1993 bis 2001 zurückgenommen hat.
a) Wird durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt, so ist gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO der zu erstattende oder zu vergütende Betrag vorbehaltlich des Absatzes 3 der Vorschrift vom Tag der Rechtshängigkeit an bis zum Auszahlungstag zu verzinsen. Nach § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO ist die Vorschrift des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO entsprechend anzuwenden, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlass des beantragten Verwaltungsakts erledigt.
Bei Investitionszulagen sind die für Steuervergütungen geltenden Vorschriften der AO entsprechend anzuwenden (§ 7 Abs. 1 Satz 1 InvZulG 1991 bzw. 1996, § 6 Abs. 1 Satz 1 InvZulG 1999).
b) Der I. Senat des BFH hat in seinem Urteil in BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37 ausgeführt, dass die in § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO geforderte "Erledigung des Rechtsstreits" die Beendigung der Rechtshängigkeit nach § 66 FGO bedeute. Diese ende mit der rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung, der Erledigung der Hauptsache oder der Rücknahme der Klage (ebenso BFH-Urteil vom 14. Juli 1993 I R 33/93, BFH/NV 1994, 438, m.w.N.). Dem stehe auch nicht entgegen, dass gemäß § 155 FGO i.V.m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO nach Rücknahme der Klage der Rechtsstreit als nicht anhängig geworden anzusehen sei. Der Prozesszinsenanspruch setze zwar Rechtshängigkeit voraus. Jedoch entfielen mit der Klagerücknahme zunächst uneingeschränkt nur die verfahrensrechtlichen Wirkungen der Rechtshängigkeit. § 236 AO sei jedoch eine materiell-rechtliche Folge der Rechtshängigkeit und der Wegfall der prozessualen Folgen beseitige nicht per se die materiell-rechtlichen Folgen der Rechtshängigkeit. Sinn und Zweck der Prozesszinsenregelung und eine rechtshistorische Betrachtung des § 236 AO bzw. dessen Vorgängerregelungen sprächen dafür, dass ein Prozesszinsenanspruch auch nach Klagerücknahme bestehe.
c) Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Die verfahrensrechtliche Beendigung der Rechtshängigkeit ist im Hinblick auf den Normzweck des § 236 AO, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs bzw. eines Vergütungsanspruchs eine Entschädigung für die Nichtüberlassung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zu gewähren, irrelevant. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entstehungsgeschichte der Norm.
d) Die Klägerin nahm ihre Klage im Rechtsstreit betreffend die Investitionszulage für die Jahre 1993 bis 2001 nach Ergehen der Änderungsbescheide zurück. Damit hat sich der Rechtsstreit gemäß § 236 Abs. 2 Nr. 1 AO erledigt. Da sich aufgrund der Änderungsbescheide vom 18. Februar 2009 über die Investitionszulage für die Kalenderjahre 1993, 1996, 1997, 1999 bis 2001 ein Guthaben zugunsten der Klägerin ergab, führten diese insoweit zu einer Steuervergütung nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO.
3. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass der Anspruch auf Prozesszinsen im vorliegenden Fall auch nicht entfallen ist.
a) Eine Versagung der Verzinsung ergibt sich nicht aus § 236 Abs. 3 AO.
aa) Gemäß § 236 Abs. 3 AO wird ein zu erstattender oder zu vergütender Betrag nicht verzinst, soweit dem Beteiligten die Kosten des Rechtsbehelfs nach § 137 Satz 1 FGO auferlegt worden sind.
bb) Der Wortlaut des § 236 Abs. 3 AO setzt voraus, dass dem Beteiligten die Kosten tatsächlich nach § 137 Satz 1 FGO auferlegt worden sind. Erforderlich ist damit eine Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO (ggf. i.V.m. § 138 FGO). Da im Falle der Klagerücknahme der Kläger gemäß § 136 Abs. 2 AO zwingend die Kosten zu tragen hat, ist für eine Auferlegung der Kosten nach Maßgabe des § 137 Satz 1 FGO durch das Gericht kein Raum (BFH-Urteil in BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37), so dass im Falle der Klagerücknahme nicht der Anspruch auf Prozesszinsen nach § 236 Abs. 3 AO versagt werden kann.
cc) Etwas anderes ergibt sich insbesondere nicht aus dem Normzweck des § 236 Abs. 3 AO, wie er aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift hervorgeht.
(1) Wie das FG zutreffend ausgeführt hat, geht die Vorschrift des § 236 AO auf § 155 der Reichsabgabenordnung (RAO) zurück, der erstmalig eine Regelung über Prozesszinsen enthielt und mit dem Steueränderungsgesetz (StändG) 1961 vom 13. Juli 1961 (BGBl I 1961, 981) eingeführt wurde. § 155 Abs. 2 RAO enthielt einen Ausschluss der Verzinsungspflicht, "soweit dem Steuerpflichtigen die Kosten des Rechtsmittels auferlegt worden sind, weil die Herabsetzung auf Tatsachen beruht, die der Steuerpflichtige früher hätte geltend machen können und müssen". Die Nachfolgevorschriften § 111 Abs. 3 FGO a.F. sowie § 4b Abs. 3 des Steuersäumnisgesetzes enthielten wie § 236 Abs. 3 AO einen Verweis auf § 137 Satz 1 FGO.
Mit dem Ausschluss der Verzinsungspflicht in § 155 Abs. 2 RAO wollte der Gesetzgeber die Verzinsung nicht eintreten lassen, wenn die Herabsetzung der Steuerschuld auf Tatsachen beruht, die der Steuerpflichtige hätte früher geltend machen können und müssen, da dann die Zahlung von Zinsen nach Auffassung des Gesetzgebers nicht gerechtfertigt erscheine, weil für die zu hohe Festsetzung das Verhalten des Steuerpflichtigen ursächlich gewesen sei (Begründung des Entwurfes eines Steueränderungsgesetzes 1961, BTDrucks III/2573, S. 36 f.). Da den Gesetzesbegründungen der Nachfolgevorschriften (Begründung des Regierungsentwurfs einer Finanzgerichtsordnung, BTDrucks IV/1446, S. 51; Begründung des Regierungsentwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes, BTDrucks 7/2852, S. 48; Begründung des Entwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks VI/1982, S. 172) keine Aussagen des Gesetz-gebers zu dem Zweck des Ausschlusses der Verzinsungspflicht zu entnehmen sind, ist davon auszugehen, dass dieser gesetzgeberische Wille fortbestand.
(2) Auch wenn sich in den Gesetzesmaterialien keine ausdrückliche Aussage zu dem vom Gesetzgeber gewollten Anwendungsbereich des § 236 Abs. 3 AO finden lässt, so ist es ‑‑angesichts des klaren Wortlautes des § 236 Abs. 3 AO‑‑ naheliegend, dass der Gesetzgeber typisierend daran anknüpfen wollte, dass eine Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO auch tatsächlich getroffen worden ist. Denn allein durch das Anknüpfen an die gerichtliche Ermessensentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO erscheint die Ausnahmevorschrift in der Praxis umsetzbar; zudem werden weitere Rechtsstreitigkeiten vermieden, die sich bei einer ‑‑alternativen‑‑ finanzbehördlichen Prüfung der Voraussetzungen des § 137 Satz 1 FGO ergeben könnten.
Eine Auslegung des § 236 Abs. 3 AO dergestalt, dass sich der Anwendungsbereich der Vorschrift auch auf die Fälle der Klagerücknahme erstreckt, ist nicht möglich, da sie über den möglichen Wortsinn der Vorschrift hinausginge (vgl. BFH-Urteil vom 18. April 2012 X R 5/10, BFHE 237, 106, m.w.N. aus der Rechtsprechung).
b) Ein Entfallen des Anspruchs auf Prozesszinsen kommt auch nicht für den Fall in Betracht, dass die "Erledigung des Rechtsstreits" durch Bescheidänderung und Klagerücknahme auf Tatsachen beruhen sollte, die die Klägerin früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen.
aa) Die Frage, ob ein Anspruch auf Prozesszinsen entfällt, wenn die "Erledigung des Rechtsstreits" durch Bescheidänderung und Klagerücknahme auf Tatsachen beruht, die der Kläger früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen, ist bisher vom BFH noch nicht entschieden worden. In seinem Urteil in BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37 konnte der BFH diese Frage ungeprüft lassen, da im dortigen Streitfall unstreitig der Erlass des Körperschaftsteueränderungsbescheids nicht auf Tatsachen beruhte, die die Klägerin früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen, und daher die Kosten gemäß § 137 Satz 1 FGO der Klägerin auch bei einer Erledigung nach § 138 FGO nicht hätten auferlegt werden können.
bb) Nach Auffassung des erkennenden Senats entfällt ein Anspruch auf Prozesszinsen in diesen Fällen nicht.
(1) Ein Entfallen des Prozesszinsenanspruchs ergibt sich ‑‑entgegen der Auffassung des FA‑‑ zum einen nicht bereits aus einer am Normzweck orientierten Auslegung des § 236 AO.
Das FA ist der Ansicht, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass die Verzinsung in § 236 AO eine Entschädigung für eine erzwungene Kapitalüberlassung gewähre. Insoweit verweist das FA auf das BFH-Urteil in BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37, wonach der Normzweck des § 236 AO darin bestehe, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals eine Entschädigung zu gewähren, da ihm die Möglichkeit der Kapitalnutzung entzogen worden sei. Im Fall des schuldhaft verspäteten Geltendmachens bzw. Beweisens von Tatsachen sei die Kapitalüberlassung nicht "erzwungen" gewesen, da der Kläger für die fehlende Kapitalnutzung selbst die Verantwortung trage. Bei einer an Sinn und Zweck orientierten Gesetzesauslegung dürfe verspätetes Vorbringen nicht mit Prozesszinsen belohnt werden, unabhängig davon, ob der Kläger die Kosten des Klageverfahrens gemäß § 137 FGO oder wegen der Rücknahme gemäß § 136 Abs. 2 FGO tragen müsse.
Eine Auslegung, die über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinausgeht, kommt nicht in Betracht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 237, 106). Man ginge über den möglichen Wortsinn des § 236 AO hinaus, wollte man eine Verzinsung in einem solchen Fall des schuldhaft verspäteten Geltendmachens bzw. Beweisens von Tatsachen ausschließen. Im Übrigen weist der erkennende Senat darauf hin, dass die Ausführungen des I. Senats in seinem Urteil in BFHE 175, 496, BStBl II 1995, 37 zum Normzweck des § 236 AO ausdrücklich im Hinblick auf Gläubiger eines Erstattungsanspruches ergangen sind. Zudem beruhte der Erlass des Körperschaftsteueränderungsbescheids im dortigen Streitfall gerade nicht auf Tatsachen, die die Klägerin früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen.
(2) Des Weiteren kommt eine teleologische Extension des § 236 Abs. 3 AO auf den Fall der "Erledigung des Rechtsstreits" durch Bescheidänderung und Klagerücknahme auch dann nicht in Betracht, wenn die Erledigung auf Tatsachen beruht, die der Kläger früher hätte geltend machen oder beweisen können und sollen.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Fachgerichte (vgl. die Nachweise bei Drüen in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 355) und nach der ganz herrschenden Lehre sind die Gerichte zur (ergänzenden) Rechtsfortbildung berechtigt und verpflichtet. Führt die wortgetreue Auslegung des Gesetzes ausnahmsweise zu einem sinnwidrigen Ergebnis, besteht also eine Divergenz zwischen dem Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck, sind die Gerichte nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. die Nachweise bei Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 380) sogar zu einer (gesetzeswortlaut-)abändernden Rechtsfortbildung berufen. Als Instrumente werden hierbei die teleologische Reduktion und die einschlägige Extension verwendet. Eine teleologische Extension zielt darauf ab, den zu engen Wortlaut eines Gesetzes auf dessen weiter gehenden Zweck auszudehnen (vgl. die Nachweise bei Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 382). Allerdings ist sie nicht bereits dann gerechtfertigt, wenn die vom Gesetzgeber getroffene Entscheidung rechtspolitisch fehlerhaft erscheint. Vielmehr muss die auf den Wortlaut abstellende Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis (BFH-Urteil vom 26. Juni 2007 IV R 9/05, BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893), zu einem der wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Ergebnis (BFH-Urteil vom 12. August 1997 VII R 107/96, BFHE 184, 198, BStBl II 1998, 131) oder zu einem so unsinnigen Ergebnis führen, dass es vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann (BFH-Urteil vom 17. Januar 1995 IX R 37/91, BFHE 177, 58, BStBl II 1995, 410).
b) Bei Zugrundelegung dieses Maßstabs ist eine teleologische Extension nicht gerechtfertigt. Wie oben unter II.3.a bb dargestellt, ist es nach Auffassung des erkennenden Senats naheliegend, dass der Gesetzgeber typisierend daran anknüpfen wollte, dass eine Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO auch tatsächlich getroffen worden ist, also eine Divergenz zwischen Gesetzeswortlaut und Gesetzeszweck nicht besteht.
Aber auch wenn man Zweifel an dem vom Gesetzgeber gewollten Anwendungsbereich des § 236 Abs. 3 AO hätte, ergäbe sich kein anderes Ergebnis. Denn zumindest lässt sich ein vom Gesetzeswortlaut abweichender Zweck nicht sicher feststellen, so dass für eine teleologische Extension des Gesetzeswortlauts kein Raum ist (BFH-Urteil vom 17. April 1975 II R 64/72, BFHE 116, 54, BStBl II 1975, 646). Umgekehrt kommt aus den gleichen Gründen eine teleologische Reduktion des § 236 AO nicht in Betracht.
c) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass im vorliegenden Streitfall der Geltendmachung des Zinsanspruchs auch nicht der Einwand von Treu und Glauben entgegensteht.
Der Grundsatz von Treu und Glauben, der im Steuerrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz uneingeschränkt anerkannt ist, gebietet, dass im Steuerrechtsverhältnis jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils angemessen Rücksicht nimmt und sich mit seinem eigenen früheren Verhalten nicht in Widerspruch setzt, auf das der andere vertraut und aufgrund dessen er unwiderrufbar disponiert hat (z.B. BFH-Urteil vom 6. Februar 1991 I R 13/86, BFHE 164, 168, BStBl II 1991, 673). Dieser Grundsatz gilt auch zugunsten des FA (BFH-Urteil vom 10. November 1987 VII R 171/84, BFHE 151, 123, BStBl II 1988, 41).
Da sich der gerichtliche Hinweis in dem Erörterungstermin am 5. November 2008 ausdrücklich allein auf "Gerichts- und Steuerberaterkosten", also nicht auf Prozesszinsen (vgl. § 139 Abs. 1 FGO) bezog, ist bereits deshalb für ein vertrauensbegründendes Verhalten kein Raum.
d) Schließlich kann ein Anspruch auf Prozesszinsen gemäß § 236 AO auch dann nicht verneint werden, wenn die Klage zur Vermeidung einer Kostenentscheidung nach § 137 Satz 1 FGO und damit zur Aufrechterhaltung eines Prozesszinsenanspruchs zurückgenommen wird, ohne dass weitere Umstände hinzukämen.
Unabhängig von der Frage, ob vorliegend überhaupt von einem solchen Verhalten der Klägerin ausgegangen werden könnte, kann eine Versagung des Anspruches auf Prozesszinsen in einem solchen Fall ‑‑trotz der insoweit unbefriedigenden Rechtssituation‑‑ insbesondere nicht auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt werden, ohne dass weitere Umstände hinzukämen. Der erkennende Senat weist darauf hin, dass insoweit der Gesetzgeber berufen ist, gegebenenfalls etwas an dieser Rechtssituation zu ändern.