BFH X. Senat
FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 78 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 5 S 2, FGO § 116 Abs 6
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 20. Dezember 2011, Az: 2 K 1570/11
Leitsätze
1. NV: Es liegt ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des FG vor, wenn Akten nicht beigezogen werden, bei denen es nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich aus ihnen weitere, bislang nicht berücksichtigte Erkenntnisse für das Gericht oder für den Kläger hätten ergeben können.
2. NV: Es besteht kein Anspruch auf Einsicht in Akten, die dem Gericht nicht vorliegen. Es liegt jedoch ein Verfahrensfehler i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor, wenn durch die Nicht-Beiziehung gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht verstoßen wird, da eine unterlassene Beiziehung der den Streitfall betreffenden Akten die Grundordnung des Verfahrens berührt.
Gründe
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Das FG hat dadurch gegen die ihm nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Sachaufklärungspflicht verstoßen, dass es die Akten der Steuerfahndung nicht beigezogen hat. Darüber hinaus liegt eine Gehörsverletzung vor, da dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) im finanzgerichtlichen Verfahren keine Gelegenheit gegeben worden ist, in diese Akten Einsicht zu nehmen. Aufgrund dieser Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
1. Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Im finanzgerichtlichen Verfahren bilden die Akten bzw. der Akteninhalt eine wesentliche Entscheidungsgrundlage. Die beteiligte Behörde hat die den Streitfall betreffenden Akten vorzulegen (§ 71 Abs. 2 FGO). Zur Aufklärung des Sachverhalts kann das Gericht Akten und Urkunden anderer Behörden beiziehen und Auskünfte einholen (§§ 86, 79 Abs. 1 Nr. 3 und 4 FGO). Zwar hängen Umfang und Nachdruck der vom FG anzustellenden Ermittlungen grundsätzlich auch vom Vorbringen der Beteiligten ab; das Gericht braucht den Sachverhalt nicht "ins Blaue hinein" zu erforschen. Das Gericht muss aber von sich aus die Akten beiziehen, die Informationen für die Entscheidung des Rechtsstreits enthalten können (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18. April 1975 III R 159/72, BFHE 115, 527, 530, BStBl II 1975, 741; BFH-Beschluss vom 18. September 1989 IV B 3/89, BFH/NV 1990, 378).
a) Das FG begründet seine Weigerung, die Akten der Steuerfahndung beizuziehen, damit, dass deren Feststellungen bereits Gegenstand des Einspruchsverfahrens gewesen seien und dass dem Prozessbevollmächtigten des Klägers im Januar 2011 Einsichtnahme in die Akten angeboten worden sei. Dieses Angebot habe er aber nicht wahrgenommen. Zudem stützten sich die Ermittlungen der Steuerfahndung auf die Zahlungsaufstellungen anhand der Kontoauszüge, die dem Kläger bereits bekannt sein müssten, da er hierzu Stellung genommen habe. Weitere verwertbare Unterlagen lägen ohnehin nicht vor.
b) Aus diesem Vorbringen ergibt sich ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht des FG (vgl. auch zum Verstoß gegen § 76 FGO wegen unterlassener Beiziehung von Akten BFH-Beschluss vom 24. November 2009 VII B 223/08, BFH/NV 2010, 686; BFH-Urteile vom 15. Dezember 1998 VIII R 52/97, BFH/NV 1999, 943; vom 26. Juni 1996 X R 53/95, BFH/NV 1997, 293), da es im Streitfall nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich aus den umfangreichen Ermittlungsakten der Steuerfahndung weitere, bislang nicht berücksichtigte Erkenntnisse für das Gericht oder für den Kläger hätten ergeben können.
2. In der Nichtgewährung der Akteneinsicht liegt ebenfalls ein Verfahrensverstoß gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
a) Grundsätzlich bezieht sich zwar der durch das Recht der Beteiligten auf Akteneinsicht nach § 78 Abs. 1 FGO konkretisierte Anspruch auf die Gewährung rechtlichen Gehörs nur auf die Gerichtsakten und die vom Gericht als Grundlage seiner Entscheidung als notwendig erachteten und hierfür vorgelegten oder beigezogenen Akten (BFH-Beschlüsse vom 12. November 2003 VII B 347/02, BFH/NV 2004, 511, und vom 14. Januar 2011 VIII B 56/10, BFH/NV 2011, 630). Ein Anspruch auf Einsicht in Akten, die dem Gericht nicht vorliegen, besteht damit ebenso wenig, wie darauf, dass das Gericht zum Zwecke der Gewährung von Akteneinsicht Gerichtsakten beizieht oder sich Verwaltungsakten vorlegen lässt, die es für seine Entscheidung nicht benötigt (BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 511, und in BFH/NV 2011, 630).
b) Anders ist es jedoch, wenn durch die Nicht-Beiziehung gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht verstoßen wird, da eine unterlassene Beiziehung der den Streitfall betreffenden Akten die Grundordnung des Verfahrens berührt (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 1997, 293). Somit durfte im Streitfall der Antrag des Klägers auf Beiziehung der Akten der Steuerfahndung und Akteneinsicht, den er nicht nur in seinem Schriftsatz vom 19. Dezember 2011 kurz vor der mündlichen Verhandlung, sondern bereits auch in seiner Klagebegründung vom 18. Oktober 2011 gestellt hat, nicht abgewiesen werden.
c) Auch der Hinweis des FG, dem Kläger sei bereits vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) angeboten worden, Akteneinsicht zu nehmen, kann nicht dazu führen, ihm die Möglichkeit zu verweigern, erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren die vollständigen Steuerfahndungsakten einzusehen. Zwar kann für die Durchsetzung mehrfacher Akteneinsicht das Rechtsschutzinteresse fehlen, z.B. wenn der Kläger die Akten während des Beschwerdeverfahrens im Rahmen eines anderen Verfahrens eingesehen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 15. Januar 1996 VI B 147/94, BFH/NV 1996, 429). Ein solcher Fall liegt jedoch nicht vor, da der Klägervertreter bislang noch keine Einsicht in die vollständigen 1 403 Seiten umfassenden Ermittlungs- und Strafakten sowie die beiden Akten "Schriftverkehr" genommen hat. Das FA erklärt in seiner Beschwerdeerwiderung selbst, dass ihm letztmals im September 2007 Einsicht in die damaligen Ermittlungsakten gewährt wurde, deren Bestand zu dem Zeitpunkt 393 Seiten betrug. Anschließend ist ihm ‑‑im Januar 2011‑‑ Akteneinsicht zwar angeboten worden, die er aber nicht in Anspruch genommen hat. Dieser Umstand allein schließt seinen Anspruch auf Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren nicht aus.
3. Da das Urteil bereits aufgrund dieser Verfahrensfehler keinen Bestand haben kann, bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen des Klägers.
4. Der beschließende Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren.
5. Von einer weiteren Begründung, insbesondere einer Wiedergabe des Tatbestands, wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Januar 2001 VI B 156/00, BFH/NV 2001, 808).