BFH XI. Senat
FGO § 96 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6, FGO § 119 Nr 3, ZPO § 227 Abs 1, GG Art 103 Abs 1, FGO § 104 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 02. November 2011, Az: 2 K 147/09
Leitsätze
1. NV: Einem Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl er einen Antrag auf Terminsverlegung gemäß § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 der ZPO gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat .
2. NV: Zu den erheblichen Gründen i.S. von § 227 ZPO gehört auch, wenn der Beteiligte selbst oder sein Bevollmächtigter gleichzeitig einen anderen früher anberaumten Termin wahrnehmen muss .
3. NV: Bestehen auf Seiten des Gerichts Zweifel am Vorliegen des behaupteten Verhinderungsgrundes, darf es den Antrag auf Terminsänderung weder übergehen noch ablehnen, sondern muss gemäß § 227 Abs. 2 ZPO die Glaubhaftmachung des Verhinderungsgrundes verlangen, wenn diese noch bis zu dem anberaumten Termin erfolgen kann .
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) verlegte den ursprünglich auf den 27. Oktober 2011 anberaumten Termin der mündlichen Verhandlung mit an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), Frau Rechtsanwältin C.B. gerichteten Schreiben vom 4. Oktober 2011 von Amts wegen auf Donnerstag, den 3. November 2011, 11:00 Uhr. Die Prozessbevollmächtigte beantragte mit beim FG am 14. Oktober 2011 eingegangenen Schreiben vom 12. Oktober 2011 den Termin auf einen anderen Tag zu verlegen. Sie könne den Termin nicht wahrnehmen, weil sie zu der Zeit bereits einen Termin vor dem Verwaltungsgericht habe.
Auf dem Antrag findet sich die mit Datum vom 2. November 2011 versehene handschriftliche Notiz "Mir vorgelegt am 1.11.11!".
Das FG führte die mündliche Verhandlung am 3. November 2011, zu der für die Klägerin niemand erschienen war ‑‑nach Telefonaten mit der Prozessbevollmächtigten und mit einem ihrer Mitarbeiter‑‑ um 12:00 Uhr durch und wies die Klage durch am selben Tag um 12:25 Uhr verkündetes Urteil ab.
Die Klägerin rügt mit der Beschwerde die Verletzung rechtlichen Gehörs.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde führt gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung. Der von der Beschwerde in zulässiger Weise geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑, § 96 Abs. 2 FGO) liegt vor und das Urteil des FG beruht auch auf diesem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2, § 119 Nr. 3 FGO).
1. Einem Verfahrensbeteiligten wird rechtliches Gehör versagt, wenn das Gericht mündlich verhandelt und in der Sache entscheidet, obwohl er einen Antrag auf Terminsverlegung gemäß § 155 FGO i.V.m. § 227 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) gestellt und dafür erhebliche Gründe geltend gemacht hat. Das FG ist in einem solchen Falle verpflichtet, den anberaumten Verhandlungstermin zu verlegen (z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 16. November 2006 IX B 83/06, BFH/NV 2007, 476, und vom 1. Februar 2002 II B 38/01, BFH/NV 2002, 938, m.w.N.). Denn dem Verfahrensbeteiligten steht es frei, seine Rechte (einschließlich des Anspruchs auf rechtliches Gehör) durch einen Prozessbevollmächtigten wahrnehmen zu lassen (BFH-Urteile vom 22. Mai 1979 VIII R 93/76, BFHE 128, 310, BStBl II 1979, 702; vom 26. Mai 1992 VII R 26/91, BFH/NV 1993, 177, unter 2.b).
Zu den erheblichen Gründen i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO gehört auch, wenn der Beteiligte selbst oder sein Bevollmächtigter gleichzeitig einen anderen früher anberaumten Termin wahrnehmen muss (BFH-Beschluss vom 12. Januar 2004 VII B 122/03, BFH/NV 2004, 654; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 91 Rz 4, m.w.N. zur Rechtsprechung).
2. Indem die Beschwerde geltend macht, dass das FG die mündliche Verhandlung durchgeführt hat, obwohl die Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter Angabe eines erheblichen Grundes, nämlich einer Überschneidung des anberaumten Termins zur mündlichen Verhandlung mit einem anderen Gerichtstermin, um eine Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vor dem FG gebeten habe, wird ein Verfahrensmangel in ausreichend schlüssiger Weise i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt. Die schlüssige Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör, weil das Gericht verfahrensfehlerhaft in Abwesenheit des Klägers bzw. seines Bevollmächtigten aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden habe, erfordert keine Ausführungen darüber, was bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen worden wäre und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können (BFH-Beschluss vom 3. September 2001 GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802).
3. Die zulässige Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs ist auch begründet.
a) Nach § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO kann der Vorsitzende bzw. das FG aus erheblichen Gründen einen Termin aufheben oder verlegen bzw. eine mündliche Verhandlung vertagen. Bestehen auf Seiten des Gerichts Zweifel am Vorliegen des behaupteten Verhinderungsgrundes, darf es den Antrag auf Terminsänderung weder übergehen noch ablehnen, sondern muss gemäß § 227 Abs. 2 ZPO die Glaubhaftmachung des Verhinderungsgrundes verlangen, wenn diese noch bis zu dem anberaumten Termin erfolgen kann (BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 654). Wenn erhebliche Gründe i.S. des § 227 ZPO vorliegen, verdichtet sich das in dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen zu einer Rechtspflicht, d.h. der Termin muss in diesen Fällen zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs verlegt werden, selbst wenn das Gericht die Sache für entscheidungsreif hält und die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird. Der durch Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gesicherte Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör verpflichtet also das FG, einen Termin zur mündlichen Verhandlung auf Antrag des Beteiligten aufzuheben oder zu verlegen, wenn dafür nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Prozessstoff oder den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten bzw. seines Prozessbevollmächtigten erhebliche Gründe vorliegen. Bei der Prüfung der Gründe muss das FG zugunsten des Beteiligten berücksichtigen, dass es einzige Tatsacheninstanz ist und der Beteiligte ein Recht darauf hat, seine Sache in der mündlichen Verhandlung selbst zu vertreten (ständige Rechtsprechung, BFH-Beschluss vom 9. Januar 1992 VII B 81/91, BFH/NV 1993, 29; BFH-Urteil vom 6. Februar 1992 V R 38/85, BFH/NV 1993, 102, jeweils m.w.N.).
b) Im Streitfall hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin fast drei Wochen vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung schriftlich um eine Verlegung des Termins gebeten, weil sie an demselben Vormittag zu einem Termin vor dem Verwaltungsgericht geladen worden sei. Da ein erheblicher Grund i.S. des § 227 Abs. 1 ZPO benannt wurde, hätte der Antrag auf Terminsverlegung jedenfalls ohne weitere Aufklärung weder übergangen noch abgelehnt werden dürfen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 654).
Soweit in der angefochtenen Vorentscheidung ausgeführt wird, der Antrag habe die notwendige Präzisierung der erheblichen Gründe i.S. des § 227 Abs. 1 ZPO vermissen lassen und es habe an der Glaubhaftmachung der Verhinderung gefehlt, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen hätte es dann gemäß § 227 Abs. 2 ZPO dem Vorsitzenden bzw. dem Gericht oblegen, die Glaubhaftmachung des rechtzeitig vor dem Termin geltend gemachten Verhinderungsgrundes durch die Prozessbevollmächtigte zu verlangen, da hierfür bis zum Tag der mündlichen Verhandlung noch ausreichend Zeit gewesen wäre. Wenn es dazu nicht gekommen ist, so lag dies zum anderen, wie sich aus dem entsprechenden Aktenvermerk vom Tag vor der mündlichen Verhandlung ergibt, nicht an den unzureichenden Angaben des Antrags sondern daran, dass der Verlegungsantrag dem zuständigen Richter erst am Vortag und damit zweieinhalb Wochen nach seinem Eingang vorgelegt worden ist. Die verspätete Vorlage durch die Gerichtsverwaltung ist der Klägerin nicht anzulasten.
c) Da nach alledem das FG die mündliche Verhandlung an dem angesetzten Tag nicht ohne Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durchführen konnte, ist es im Weiteren unerheblich, ob der Richter auf Grund der am Morgen des Termins mit der Prozessbevollmächtigten und mit ihrem Büro geführten Telefongespräche davon ausgehen durfte, dass sie zu dem Termin kommen werde, oder ob es sich insoweit um ein entschuldbares Missverständnis der Prozessbevollmächtigten bzw. ihres Büros handelte, die nach ihren Angaben davon ausgegangen waren, es handele sich um einen Anruf des Verwaltungsgerichts.
Jedenfalls ‑‑und das ist im Streitfall entscheidend‑‑ bestand angesichts der nicht eindeutig geklärten Sachlage kein hinreichender Grund, das Urteil bereits am Sitzungstag um 12:25 Uhr gemäß § 104 Abs. 1 FGO zu verkünden (vgl. auch BFH-Beschlüsse vom 23. November 2001 V B 224/00, BFH/NV 2002, 520, unter II.2.c; vom 10. April 2007 XI B 58/06, BFH/NV 2007, 1672, unter II.2.b, m.w.N.; vom 6. Dezember 2011 XI B 64/11, BFH/NV 2012, 747). Durch die Verkündung wurde das Urteil wirksam; eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung kam nun nicht mehr in Betracht (vgl. z.B. Gräber/von Groll, a.a.O., § 104 Rz 7; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 104 FGO Rz 6 ff.).
4. Von einer weiteren Begründung des Beschlusses wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.