BFH XI. Senat
FGO § 54 Abs 2, FGO § 56 Abs 1, FGO § 56 Abs 2 S 1, FGO § 56 Abs 2 S 4, FGO § 65 Abs 1 S 1, FGO § 65 Abs 2 S 1, FGO § 65 Abs 2 S 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 1, FGO § 116 Abs 2 S 1, FGO § 116 Abs 3 S 1, FGO § 116 Abs 6, FGO § 155, AO § 164 Abs 2, ZPO § 85 Abs 2, ZPO § 222 Abs 1, BGB § 187 Abs 1, BGB § 188 Abs 2
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 08. März 2012, Az: 6 K 1070/10
Leitsätze
1. NV: Ergibt sich der Gegenstand des Klagebegehrens mit hinreichender Klarheit aus der Zusammenschau von Klageantrag, Steuerbescheid und Einspruchsentscheidung, darf das FG keine Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO setzen und die Klage nicht als unzulässig abweisen.
2. NV: Einem Beteiligten ist Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdefrist zu gewähren, wenn die Beschwerdeschrift so zeitig beim FG eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an den BFH im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) beantragte mit ihrer Klage vom 13. Juli 2010, den Bescheid des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) über Umsatzsteuer für 2003 vom 3. Juli 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Juni 2010 aufzuheben. Der Klageschrift waren Kopien des angefochtenen Umsatzsteuer-Änderungsbescheids und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung beigefügt. Im Verlauf des finanzgerichtlichen Verfahrens gingen beim Finanzgericht (FG) weder eine Klagebegründung noch eine Prozessvollmacht ein.
Das FG setzte mit beim Prozessbevollmächtigten am 4. November 2010 eingegangenem Schreiben vom 27. Oktober 2010 fruchtlos eine Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) von einem Monat, innerhalb derer der Gegenstand des Klagebegehrens hätte bezeichnet werden sollen.
Der Prozessbevollmächtigte beantragte durch einen Vertreter unter Vorlage einer von einem Zahnarzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 8. März 2012 fernschriftlich um 15:36 Uhr, den Termin zur mündlichen Verhandlung am 9. März 2012, 11:00 Uhr wegen Erkrankung aufzuheben und neu zu terminieren.
Das FG wies die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung vom 9. März 2012, zu der weder für die Klägerin noch für das FA jemand erschienen war, als unzulässig ab und legte die Kosten des Verfahrens dem als vollmachtlosen Vertreter aufgetretenen Prozessbevollmächtigten auf.
Es führte im Wesentlichen aus, dass der Termin zur mündlichen Verhandlung nicht aufzuheben gewesen sei. Die übermittelte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hätte mit "... Beschwerden 4. Quadrant" keine Umschreibung eines konkreten Krankheitsbildes enthalten, nach der die Verhandlungsfähigkeit des Prozessbevollmächtigten in der angesichts des kurz bevorstehenden Termins gebotenen Schnelligkeit hätte beurteilt werden können.
Die Klägerin sei der Aufforderung, den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen, innerhalb der vom Gericht mit Schreiben vom 27. Oktober 2010 gesetzten Ausschlussfrist nicht nachgekommen. Es sei nicht ausreichend, mit der Klageerhebung die ersatzlose Aufhebung eines Steuerbescheids zu beantragen.
In der Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Entscheidung hat das FG darauf hingewiesen, dass eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) einzulegen sei.
Das Urteil vom 9. März 2012 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 16. März 2012 zugestellt.
Die an das FG gerichtete Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, mit der die Klägerin zugleich ihre Beschwerdegründe darlegt, ging bei diesem am Donnerstag, dem 5. April 2012 fernschriftlich ein. Das FG leitete die Beschwerde mit am 19. April 2012 eingegangenem Schreiben vom 16. April 2012 an den BFH weiter.
Mit Schreiben vom 23. April 2012, das dem Prozessbevollmächtigten am 26. April 2012 zugestellt wurde, setzte der BFH die Klägerin unter Hinweis auf § 56 FGO darüber in Kenntnis, dass die gemäß § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO beim BFH einzulegende Beschwerde verspätet eingegangen sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG.
1. Nach § 116 Abs. 1 FGO kann die Nichtzulassung der Revision durch Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde) angefochten werden. Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim BFH einzulegen (§ 116 Abs. 2 Satz 1 FGO). Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach der Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen (§ 116 Abs. 3 Satz 1 FGO).
a) Das Urteil vom 9. März 2012 ging dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 16. März 2012 zu. Die Einlegungsfrist des § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO endete mithin mit Ablauf des 16. April 2012 (§ 54 Abs. 2 FGO, § 222 Abs. 1 der Zivilprozessordnung ‑‑ZPO‑‑ i.V.m. § 187 Abs. 1 und § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Die Beschwerde ‑‑zugleich auch Beschwerdebegründung‑‑ ging beim BFH aber erst am 19. April 2012 und damit verspätet ein.
b) Der Klägerin war jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO zu gewähren. Sie war ohne Verschulden verhindert, die Frist zur Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde einzuhalten.
aa) Einer Wiedereinsetzung steht nicht entgegen, dass die Klägerin gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO keinen Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses am 26. April 2012 stellte. Vorliegend bedurfte es gemäß § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO keines formellen Wiedereinsetzungsantrags, weil die Rechtshandlung ‑‑hier Beschwerdeerhebung‑‑ am 19. April 2012 nachgeholt worden war.
bb) Die verspätete Einlegung der vorliegenden Beschwerde ist der Klägerin zwar als Verschulden anzulasten. Die Fristversäumnis ist darauf zurückzuführen, dass die Klägerin die Beschwerdeschrift entgegen § 116 Abs. 2 Satz 1 FGO und der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung des FG nicht an den BFH, sondern an das FG gerichtet hat. Als Klägerin trägt sie das Risiko des verspäteten Eingangs der Beschwerde beim BFH (vgl. BFH-Beschlüsse vom 27. Oktober 2004 XI B 130/02, BFH/NV 2005, 563; vom 15. Januar 2009 XI B 99/08, BFH/NV 2009, 778, jeweils m.w.N.). Ein etwaiges Verschulden des Prozessbevollmächtigten ist ihr zuzurechnen (§ 155 FGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO).
cc) Jedoch ist eine Mitverantwortung der Geschäftsstelle des FG für die Fristversäumnis mit der Folge gegeben, dass sich das Verschulden der Klägerin nicht auswirkt. Das FG, das mit der Sache bereits befasst gewesen war, musste den bei ihm eingereichten fristgebundenen Schriftsatz für das Beschwerdeverfahren an den BFH als das zuständige Rechtsmittelgericht weiterleiten. Einem Beteiligten ist ‑‑wie hier‑‑ Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn ein solcher Schriftsatz ‑‑hier am 5. April 2012‑‑ so zeitig eingereicht worden ist, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Rechtsmittelgericht im ordentlichen Geschäftsgang ‑‑hier bis zum 16. April 2012‑‑ ohne weiteres erwartet werden kann (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 1995 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99, unter C.II.2.b; vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835; BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2005, 563; in BFH/NV 2009, 778, jeweils m.w.N.).
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet. Das vorinstanzliche Urteil beruht auf einem Verfahrensfehler. Es war daher aufzuheben und der Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Weist das FG die Klage zu Unrecht als unzulässig ab, liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil beruht (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 24. Februar 2006 II B 97/05, BFH/NV 2006, 1129; vom 22. Juni 2010 VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846). Ein solcher Verfahrensmangel kann auch gegeben sein, wenn das FG zu Unrecht annimmt, der Kläger habe den Gegenstand des Klagebegehrens i.S. des § 65 Abs. 1 FGO nicht in ausreichender Weise bezeichnet (vgl. BFH-Beschluss vom 9. Juni 2011 X B 47/10, BFH/NV 2011, 1713).
b) Mit der Rüge, das angefochtene Urteil hätte aus "rechtlichen Gesichtspunkten" heraus nicht als klageabweisendes Urteil ergehen dürfen (Beschwerdeschrift, S. 2), hat die Klägerin einen solchen Verfahrensmangel schlüssig geltend gemacht. Denn ihr Vorbringen ist ‑‑rechtsschutzgewährend‑‑ auch dahingehend zu verstehen, dass das FG die Klage nicht durch Prozessurteil hätte abweisen dürfen.
c) Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die Klägerin hatte den Gegenstand des Klagebegehrens in ihrer Klageschrift bereits hinreichend bezeichnet.
aa) Zum notwendigen Inhalt einer Anfechtungsklage gehört gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO ‑‑neben der Angabe des Klägers, des Beklagten und des angefochtenen Verwaltungsaktes sowie der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf‑‑ die Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens. Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder ein von ihm bestimmter Richter (Berichterstatter) den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 65 Abs. 2 Satz 1 FGO). Dem Kläger kann für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung gesetzt werden, wenn es an einem der in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernisse fehlt (§ 65 Abs. 2 Satz 2 FGO). Entspricht die eingereichte Klage den in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernissen, ist eine gleichwohl verfügte Ausschlussfrist hinfällig (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 2002 VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; vom 30. Juni 2004 VI B 89/02, BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.).
bb) Wie weit das Klagebegehren im Einzelnen zu substantiieren ist, hängt der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge von den Umständen des jeweiligen Streitfalles ab, insbesondere von dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktes, der Steuer- und der Klageart. Entscheidend ist, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird, zu erkennen, worin die den Kläger treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt (vgl. BFH-Beschlüsse in BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; in BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.).
Gegebenenfalls muss der Gegenstand des Klagebegehrens im Wege der Auslegung festgestellt werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. November 2003 XI B 213/01, BFH/NV 2004, 514; in BFH/NV 2011, 1713, jeweils m.w.N.). Ein bloßer Aufhebungsantrag kann daher genügen, wenn für das FG zweifelsfrei erkennbar ist, dass der Kläger sich gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids dem Grunde nach wendet (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2004, 1541; in BFH/NV 2011, 1713).
cc) Im Streitfall hat die Klägerin mit der Klageerhebung die Aufhebung des Bescheids über Umsatzsteuer für 2003 vom 3. Juli 2008 ‑‑ein die Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung ändernder Bescheid‑‑ in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11. Juni 2010 beantragt. Aus dem der Klageerhebung beigefügten angefochtenen Bescheid und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung ist zu entnehmen, dass die geänderte Steuerfestsetzung die Nachversteuerung der Umsätze aus den Verkäufen der betrieblichen Fahrzeuge A in Höhe von … € netto und B in Höhe von … € netto betrifft. Im finanzgerichtlichen Verfahren war ‑‑nachdem wie aus der Einspruchsentscheidung vom 11. Juni 2010 entnommen werden konnte, der Einspruch der Klägerin hinsichtlich des Verkaufs des B begründet war‑‑ noch der Verkauf des A streitig. In der Einspruchsentscheidung ist mithin der zwischen der Klägerin einerseits und dem FA andererseits noch verbleibende Streitpunkt unter Schilderung des zugrunde liegenden Lebenssachverhalts aufgeführt. Der Gegenstand des Klagebegehrens i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO ergibt sich dementsprechend im Streitfall mit hinreichender Klarheit aus der Zusammenschau von Klageantrag, Steuerbescheid und Einspruchsentscheidung. Das FG hätte daher die Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht setzen und die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen.
3. Der BFH kann gemäß § 116 Abs. 6 FGO auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern ‑‑wie hier‑‑ die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen.
Es erscheint sachgerecht, entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren, da im Streitfall von einer Revisionsentscheidung keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207; vom 29. Januar 2010 II B 107/09, BFH/NV 2010, 938; vom 22. März 2012 XI B 1/12, nicht veröffentlicht, juris, unter II.3.).
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).