BFH III. Senat
FGO § 46, FGO § 96 Abs 1 S 2 Halbs 2, GG Art 19 Abs 4, FGO § 115 Abs 2 Nr 3
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 21. März 2011, Az: 8 K 242/10
Leitsätze
1. NV: Beantragt ein Kläger beim FG, das FA zum Erlass einer Einspruchsentscheidung zu verpflichten, und geht aus seinem Vorbringen hervor, dass die materiell-rechtliche Richtigkeit des angefochtenen Bescheids überprüft werden soll, so handelt es sich um eine zulässige Untätigkeitsklage nach § 46 FGO, nicht etwa um eine unzulässige, allein auf den Erlass einer Rechtsbehelfsentscheidung gerichtete Klage. Erklären die Beteiligten in einem derartigen Verfahren die Hauptsache für erledigt, nachdem das FA eine Einspruchsentscheidung erlassen hat, so besteht für eine erneute Klage kein Rechtsschutzbedürfnis .
2. NV: Bei der Auslegung eines Klageantrags ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht .
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wurde für das Jahr 2008 zur Einkommensteuer veranlagt. Gegen den Einkommensteuerbescheid 2008 vom 23. Juli 2009 wandte er sich mit dem Einspruch. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) entschied über den Rechtsbehelf zunächst nicht. Der Kläger erhob mit Schriftsatz vom 3. April 2010 Klage. Darin formulierte er den Klageantrag, das FA zu verpflichten, eine Einspruchsentscheidung zu erlassen. Er führte zur Begründung aus, das FA habe die Einkommensteuer geschätzt, obwohl er die Steuererklärung persönlich eingereicht und zusätzlich eine Kopie übersandt habe. Auf seinen Einspruch hin sei das FA über acht Monate untätig gewesen und habe keine Einspruchsentscheidung erlassen, es vollstrecke jedoch wegen der angeblichen Einkommensteuerschuld.
Im Verlauf des unter dem Aktenzeichen X beim Finanzgericht (FG) registrierten Klageverfahrens wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2010 den Einspruch des Klägers als unbegründet zurück. Es wies darauf hin, dass das anhängige Klageverfahren nicht erledigt sei, sondern fortgesetzt werde, ohne dass eine erneute Klage erforderlich und zulässig sei. Nach Erlass der Einspruchsentscheidung erklärte der Kläger mit Schreiben vom 5. Juli 2010 die Hauptsache für erledigt. Das FA schloss sich der Erledigungserklärung an. Das Verfahren wurde durch einen Kostenbeschluss beendet.
Mit Schreiben vom 29. Juli 2010 erhob der Kläger wegen der Einkommensteuer 2008 eine weitere, unter dem Aktenzeichen Y beim FG registrierte Klage. Die Schätzung der Be-steuerungsgrundlagen sei rechtswidrig. Das FA habe zu Unrecht Einkünfte aus Gewerbebetrieb berücksichtigt.
Das FG wies die Klage ab. Der Kläger habe sich bereits mit der ursprünglichen Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 2008 vom 23. Juli 2009 gewandt. Eine weitere Klage sei unzulässig.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger einen Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG habe zu Unrecht die Klage durch ein Prozessurteil als unzulässig abgewiesen. Die ursprüngliche Klage sei von Anfang an lediglich auf ein Tätigwerden der Finanzbehörde gerichtet gewesen und sei nicht als Anfechtungsklage zu verstehen gewesen. Dies ergebe sich aus dem in der Klageschrift enthaltenen Klageantrag, wonach das FA verpflichtet werden sollte, einen "Einspruchsbescheid auf den Einspruch des Klägers ... auszufertigen". Materiell-rechtliche Anhaltspunkte hätten sich der Klageschrift nicht entnehmen lassen. Nach Erlass der Einspruchsentscheidung habe sich die Klage erledigt. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass sich die Erledigungserklärung auch auf einen materiell-rechtlichen Teil bezogen habe. Da der materielle Gegenstand (Einkommensteuer 2008) noch nicht zum Streitgegenstand geworden sei, habe der weiteren, unter dem Aktenzeichen Y erhobenen Klage keine anderweitige Rechtskraft entgegengestanden. Zu einem vergleichbaren Fall habe der Bundesfinanzhof (BFH) im Beschluss vom 3. Januar 1996 VIII B 33/95 (BFH/NV 1996, 559) bereits entschieden, dass die Rechtsprechung, wonach ein nach § 46 FGO eingeleitetes Klageverfahren nach Erlass einer Einspruchsentscheidung fortgesetzt werde und eine erneute Klage unzulässig sei, nicht einschlägig sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird daher durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).
1. Dem FG ist kein Verfahrensfehler unterlaufen. Denn es hat die Klage zu Recht durch Prozessurteil abgewiesen, da für sie kein Rechtsschutzbedürfnis bestand (vgl. BFH-Beschluss vom 5. Oktober 2004 II B 140/03, BFH/NV 2005, 237). Der Einkommensteuerbescheid 2008 vom 23. Juli 2009 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 29. Juni 2010 wurde durch die übereinstimmenden Erledigungserklärungen im Verfahren X bestandskräftig und kann nicht mit einer erneuten Klage angefochten werden.
2. Das FG hat den in der Klageschrift vom 3. April 2010 formulierten Klageantrag zutreffend dahingehend ausgelegt, dass der Kläger nicht den Erlass einer Einspruchsentscheidung begehrte, sondern sich gegen den Einkommensteuerbescheid 2008 vom 23. Juli 2009 wandte. Zwar hat der Kläger den Klageantrag dahin formuliert, dass das FA verpflichtet werden sollte, "einen Einspruchsbescheid auf den Einspruch des Klägers ... auszufertigen". Doch geht aus der Begründung der Klage hervor, dass der Kläger letztlich gegen den Einkommensteuerbescheid 2008, der auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhte, vorgehen wollte.
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der Partei anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln (BFH-Urteil vom 12. Juni 1997 I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38, m.w.N.). Das Wesen der Klage wird nicht durch den ‑‑formalen‑‑ Klageantrag bestimmt, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht (BFH-Urteil vom 29. April 2009 X R 35/08, BFH/NV 2009, 1777, m.w.N.). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung (BFH-Beschluss vom 22. Juni 2010 VIII B 12/10, BFH/NV 2010, 1846; Senatsurteil vom 27. Januar 2011 III R 65/09, BFH/NV 2011, 991).
b) Hiernach kam eine Auslegung des Klageantrags dahin, dass allein der Erlass einer Einspruchsentscheidung begehrt werden sollte, nicht in Betracht. Eine derartige "Untätigkeitsklage" ist gesetzlich nicht vorgesehen. Eine Klage nach § 46 FGO bezweckt den Erlass einer gerichtlichen Entscheidung in der Sache selbst, nicht eine bloße Beendigung der behördlichen Untätigkeit (Steinhauff in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 46 FGO Rz 190, m.w.N.). Die Untätigkeit bildet den Anlass, nicht aber den Gegenstand der Klage (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 46 FGO Rz 1; von Beckerath in Beermann/Gosch, FGO § 46 Rz 36). Ein Rechtsschutzbegehren ist in den Fällen des § 46 FGO auf Aufhebung oder Änderung eines Verwaltungsakts oder auf Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts gerichtet und nicht auf ein Tätigwerden der Behörde überhaupt (BFH-Urteil vom 27. Juni 2006 VII R 43/05, BFH/NV 2007, 396). Zutreffend war demnach allein eine Auslegung des Klagebegehrens im Verfahren X dahin, dass die materiell-rechtliche Richtigkeit des Einkommensteuerbescheids 2008 überprüft werden sollte. Diese Auslegung war möglich, da aus der Klageschrift hervorgeht, dass das FA nach Ansicht des Klägers zu Unrecht einen Schätzungsbescheid erlassen hatte.
3. Ein Fall, in dem ein Kläger eindeutig eine ‑‑unzulässige‑‑ Klage auf Erlass einer Einspruchsentscheidung erhebt und anschließend, nach Hauptsacheerledigung in diesem Verfahren, eine weitere, gegen die Steuerfestsetzung gerichtete, zulässige Klage einreicht, liegt hier somit nicht vor (s. hierzu BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1996, 559, sowie in BFH/NV 2005, 237).