BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst b, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst c, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 70 Abs 4
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 06. Juli 2010, Az: 2 K 141/09
Leitsätze
1. NV: Die Vollzeiterwerbstätigkeit eines Kindes schließt dessen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b oder c EStG (Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten bzw. Warten auf einen Ausbildungsplatz) nicht aus.
2. NV: Die Änderung einer Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG scheidet aus, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge keine tatsächlichen Änderungen gegenüber der Annahme in der Prognose ergeben haben und allein die Einbeziehung der Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit in Folge einer geänderten Rechtsauffassung zur nachträglichen Feststellung der Grenzbetragsüberschreitung geführt hat.
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog Kindergeld für seinen im Jahr 1987 geborenen Sohn (S), der seit September 2005 eine Ausbildung zum Fertigungsmechaniker absolvierte. Das Ausbildungsverhältnis endete am 30. Juni 2008. Ab Juli 2008 wurde S von seinem bisherigen Ausbildungsbetrieb für zwei Monate in ein Arbeitsverhältnis mit Vollzeitbeschäftigung übernommen. Bereits ab September 2008 befand sich S wieder in Berufsausbildung, da er eine Berufsschule besuchte. Der Kläger bezog für S laufend Kindergeld. Im September 2008 beantragte er die Weiterzahlung des Kindergeldes. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob die Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes in der für das Jahr 2008 geltenden Fassung (EStG) durch Bescheid vom 10. Oktober 2008 ab Januar 2008 auf. Sie war der Ansicht, die voraussichtlich im Jahr 2008 anfallenden Einkünfte und Bezüge des S einschließlich der Vergütung aus der Vollzeiterwerbstätigkeit würden über dem Jahresgrenzbetrag von 7.680 € nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG liegen. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt, mit welcher sich der Kläger gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Monate Januar bis Juni 2008 sowie ab September 2008 gewandt hatte. Es war der Ansicht, S habe in den Monaten Juli und August 2008 eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt und deshalb den Berücksichtigungstatbestand nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nicht erfüllt. Die auf diese beiden Monate entfallenden Einkünfte seien daher bei der Prüfung eines Überschreitens des Jahresgrenzbetrags außer Betracht zu lassen. Die Einkünfte und Bezüge, die auf die übrigen Monate des Jahres 2008 entfielen, lägen unter dem anteiligen Grenzbetrag.
Zur Begründung der Revision trägt die Familienkasse vor, aufgrund des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Juni 2010 III R 34/09 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982) führe eine Vollzeiterwerbstätigkeit während einer Übergangszeit oder während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b bzw. Buchst. c EStG) nicht dazu, dass ein Kind bereits aus diesem Grund kindergeldrechtlich nicht zu berücksichtigen sei.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, er habe für die Monate Juli und August 2008 ausdrücklich kein Kindergeld beantragt. Es verbleibe daher dabei, dass die Einkünfte und Bezüge des S den Grenzbetrag auch unter Berücksichtigung der geänderten BFH-Rechtsprechung nicht überschritten hätten.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben, die Streitsache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Dessen Feststellungen reichen nicht aus, um darüber entscheiden zu können, ob dem Kläger Kindergeld für S zusteht.
1. Kindergeld wird nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 EStG u.a. für Kinder gewährt, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und einen der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG genannten Tatbestände erfüllen. Darüber hinaus dürfen die Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht den Grenzbetrag überschreiten, der sich im Jahr 2008 auf 7.680 € belief (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).
2. Im Streitfall war S im gesamten Jahr als Kind zu berücksichtigen, sofern die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nicht überschritten haben sollten. In den Monaten Januar bis Juni 2008 sowie in den Monaten September bis Dezember 2008 wurde S für einen Beruf ausgebildet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG), in den beiden Monaten Juli und August 2008 erfüllte er den Tatbestand nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG (Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten), möglicherweise auch den nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG (Warten auf einen Ausbildungsplatz).
3. Die in den Monaten Juli und August 2008 ausgeübte Vollzeiterwerbstätigkeit steht einer Berücksichtigung des S als Kind nicht entgegen. Nach dem Senatsurteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982, das erst nach Ergehen des angefochtenen Urteils veröffentlicht worden ist, schließt die Vollzeiterwerbstätigkeit eines Kindes dessen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b oder c EStG nicht aus. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf diese Entscheidung.
4. Das FG hat ‑‑aus seiner Sicht zu Recht‑‑ die Einkünfte und Bezüge des S nur für die streitigen Zeiträume Januar bis Juni 2008 sowie September bis Dezember 2008 ermittelt. Es wird im zweiten Rechtsgang die Einkünfte und Bezüge für das gesamte Jahr festzustellen haben, um über den Kindergeldanspruch entscheiden zu können. Der Umstand, dass der Klageantrag die beiden Monate Juli und August 2008 nicht umfasst, ändert hieran nichts.
5. Bei seiner Entscheidung wird das FG zu berücksichtigen haben, dass ‑‑bei einem Überschreiten des Jahresgrenzbetrags‑‑ eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Januar 2008 nach § 70 Abs. 4 EStG nicht in Betracht kommt, wenn sich hinsichtlich der Einkünfte und Bezüge keine tatsächlichen Änderungen gegenüber der Annahme in der Prognose ergeben haben und allein die Einbeziehung der Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit in Folge einer geänderten Rechtsauffassung zur nachträglichen Feststellung der Grenzbetragsüberschreitung geführt hat (Senatsurteile vom 22. Dezember 2011 III R 64/10, BFH/NV 2012, 927, III R 65/10, BFH/NV 2012, 929, und III R 67/10, BFH/NV 2012, 930).