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Beschluss vom 20. April 2012, III B 36/11

Verfahrensmangel bei zu Unrecht erlassenem Prozessurteil - ordnungsgemäße Darlegung einer Divergenz

BFH III. Senat

FGO § 46 Abs 1 S 1, FGO § 96 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 118 Abs 2

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 20. Dezember 2010, Az: 12 K 272/09

Leitsätze

1. NV: Mit der Rüge, das FG habe das Vorliegen der Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage zu Unrecht verneint, wird der fehlerhafte Erlass eines Prozessurteils und damit ein Verfahrensmangel geltend gemacht. Ein solcher Mangel liegt aber nicht vor, wenn das FG fehlerfrei festgestellt hat, dass der Kindergeldberechtigte für den Streitzeitraum überhaupt keinen Einspruch eingelegt hat .

2. NV: Mit der Rüge, das FG habe sich in Widerspruch zu andern Gerichtsentscheidungen gesetzt ohne dass voneinander abweichende tragende abstrakte Rechtssätze aus dem angegriffenen Urteil und der vermeintlichen Divergenzentscheidung gegenüber gestellt werden, wird keine Divergenz, sondern eine fehlerhafte Rechtsanwendung geltend gemacht .

Gründe

  1. Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO).

  2. 1. Die vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) gerügten Verfahrensmängel sind nicht in der durch § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geforderten Art und Weise dargelegt, jedenfalls liegen sie nicht ‑‑wie § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO voraussetzt‑‑ vor.

  3. a) Soweit der Kläger einen Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO behauptet, ist dieser vermeintliche Mangel nicht hinreichend dargelegt.

  4. Die Rüge eines entsprechenden Verfahrensverstoßes setzt die Darlegung voraus, dass das Finanzgericht (FG) seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt habe, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspreche oder eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen habe (Senatsbeschluss vom 4. Oktober 2010 III B 82/10, BFH/NV 2011, 38). Der Kläger legt jedoch mit seinem Vortrag, es hätten die Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage (§ 46 Abs. 1 Satz 1 FGO) vorgelegen, weil sowohl sein Kindergeldantrag vom 27. September 2007 als auch der hierzu erlassene Ablehnungsbescheid vom 11. Dezember 2007 und sein hiergegen eingelegter Einspruch den Streitzeitraum (Januar bis April 2006) umfasst hätten, keinen Mangel in dem vorstehend genannten Sinn dar. Vielmehr macht er damit sinngemäß geltend, das FG habe unzutreffend ein Prozessurteil erlassen.

  5. b) Die danach vom Kläger sinngemäß erhobene Rüge, das FG habe die Klage zu Unrecht durch ein Prozessurteil als unzulässig abgewiesen, kann zwar einen Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO begründen (Senatsbeschluss vom 20. April 2011 III B 124/10, BFH/NV 2011, 1110). Ein solcher Verstoß liegt im Streitfall aber nicht vor.

  6. aa) Das FG ist zu Recht davon ausgegangen, dass die mit der Klage angegriffene Einspruchsentscheidung vom 14. Juli 2009 lediglich eine Entscheidung für den Zeitraum ab Mai 2006 getroffen hat.

  7. Aus der Sicht des Klägers war der materielle Regelungsgehalt der genannten Einspruchsentscheidung einschließlich deren Begründung dahingehend zu verstehen, dass die Kindergeldansprüche des Klägers für den Zeitraum ab Mai 2006 überprüft werden sollten (zur Auslegung von Verwaltungsakten s. Senatsurteil vom 26. November 2009 III R 93/07, BFH/NV 2010, 856). So wird in deren Begründung einleitend ausgeführt, dass "mit der angefochtenen Entscheidung ... das Kindergeld für die Kinder ... ab Mai 2006 abgelehnt" wurde. Damit beginnt der von der Einspruchsentscheidung überprüfte Zeitraum erkennbar erst mit dem Monat Mai 2006. Im Übrigen wird die Ablehnung mit der Begründung versagt, dass auf den Kläger für den Zeitraum Mai 2006 bis Mai 2007 weiterhin allein die polnischen Rechtsvorschriften anwendbar seien.

  8. bb) Die vom FG sodann vorgenommene Auslegung, dass auch der Einspruch des Klägers erst den Zeitraum ab Mai 2006 betroffen habe, ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

  9. In dem auf Zulassung der Revision gerichteten Verfahren hat das Beschwerdegericht hinsichtlich des Tatsachenstoffs die gleichen Verfahrensbefugnisse wie das Revisionsgericht bei einer auf die gleiche Begründung gestützten Revision (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 30. April 1987 V B 86/86, BFHE 149, 437, BStBl II 1987, 502). Die Auslegung eines Einspruchs ist Gegenstand der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die der BFH grundsätzlich gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO). Danach kann der BFH die vom FG vorgenommene Auslegung eines Einspruchs nur daraufhin überprüfen, ob das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat. In vollem Umfang nachprüfbar ist hingegen, ob ein Einspruch auslegungsbedürftig ist. Hieran fehlt es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat (z.B. BFH-Urteil vom 11. Februar 2009 X R 51/06, BFHE 226, 1, BStBl II 2009, 892, m.w.N.). Da ein Kindergeld-Ablehnungsbescheid ebenso wie der Kindergeld-Festsetzungsbescheid ein ‑‑bezogen auf die einzelnen Monate‑‑ teilbarer Verwaltungsakt ist (zum Festsetzungsbescheid s. BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 163/00, BFHE 196, 274, BStBl II 2002, 174), kann der Einspruchsführer die einzelnen von der Ablehnung umfassten Monate je nach seinem Rechtsschutzbegehren unabhängig voneinander angreifen.

  10. Hiervon ausgehend hält das vom FG gefundene Ergebnis einer Nachprüfung stand. Das FG hat die in der Einspruchsschrift vom 23. Januar 2008 angekündigte Begründung vom 30. Januar 2008 zu Recht zur Bestimmung der inhaltlichen Reichweite des Einspruchs mitherangezogen, weil der Kläger in dieser Begründung sein Rechtsschutzbegehren gegenüber der Familienkasse näher konkretisierte. Er brachte hierin klar zum Ausdruck, dass er nur die Kindergeldansprüche ab Mai 2006 (weiter)verfolgen wolle. So führte er in der Begründung aus, es habe in dem beantragten Zeitraum ‑‑wie sich aus der beigefügten Lohnsteuerbescheinigung 2006 ergebe‑‑ eine beitragspflichtige Beschäftigung vorgelegen. Diese Lohnsteuerbescheinigung bestätigt ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis des Klägers für die Zeit vom 2. Mai bis 31. Dezember 2006. Nach alledem wendete er sich aus der Sicht der Familienkasse mit dem Einspruch allein gegen die Versagung der Kindergeldansprüche ab Mai 2006.

  11. 2. Der Kläger hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht in der geforderten Art und Weise (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegt.

  12. a) Wird als Zulassungsgrund eine Abweichung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO geltend gemacht, so muss in der Beschwerdeschrift nicht nur die Entscheidung, von der das Urteil des FG abweichen soll, bezeichnet werden. Es muss darüber hinaus aus der Entscheidung des FG ein diese tragender abstrakter Rechtssatz abgeleitet werden, der zu einem ebenfalls tragenden abstrakten Rechtssatz der Divergenzentscheidung im Widerspruch stehen kann. Die nach Auffassung des Beschwerdeführers voneinander abweichenden Rechtssätze sind dabei gegenüberzustellen. Eine Zulassung unter diesem Gesichtspunkt hätte vorausgesetzt, dass in der Beschwerdebegründung abstrakte Rechtssätze im Urteil des FG und in der Divergenzentscheidung so genau bezeichnet worden wären, dass eine Abweichung erkennbar geworden wäre (Senatsbeschluss vom 16. August 2011 III B 155/10, BFH/NV 2012, 48).

  13. b) Diesen Voraussetzungen entspricht das Vorbringen des Klägers nicht.

  14. Nach dem Vortrag des Klägers habe sich das FG, indem es den Kindergeldantrag des Klägers vom September 2007 zeitlich einschränkend ausgelegt habe, in Widerspruch zu den in der Beschwerdebegründung zitierten FG-Urteilen gesetzt, wonach bei einem Kindergeldantrag ohne zeitliche Einschränkung der Maximalbetrag begehrt werde. Zudem setze sich das FG, weil es den Regelungsumfang des Ablehnungsbescheids vom 11. Dezember 2007 zeitlich einschränke, in Widerspruch zu den in der Beschwerdebegründung angeführten Entscheidungen des BFH, nach denen für die Auslegung öffentlich-rechtlicher Willenserklärungen maßgeblich sei, wie der Adressat die Erklärung verstehen könne. Schließlich weiche das FG mit seiner Auslegung, wonach der Kläger mit seinem Einspruch erst den Zeitraum ab Mai 2006 weiterverfolgt habe, von den in der Beschwerdebegründung genannten Entscheidungen des BFH ab, nach denen die Erklärung eines Steuerpflichtigen als umfassender Rechtsbehelf zu betrachten sei.

  15. Auch wenn der Kläger mit diesem Vortrag noch hinreichend präzise tragende abstrakte Rechtssätze aus den vermeintlichen Divergenzentscheidungen bezeichnet haben sollte, legt er keine ebensolchen ‑‑aus dem angegriffenen Urteil des FG abgeleiteten‑‑ Rechtssätze dar, die im Widerspruch zu den Rechtssätzen aus den vermeintlichen Divergenzentscheidungen stehen könnten. Vielmehr rügt er im Kern eine unrichtige Rechtsanwendung des FG. Damit wird aber keine Abweichung im Grundsätzlichen, sondern eine mögliche Fehlerhaftigkeit im Einzelfall dargelegt, die eine Zulassung der Revision wegen Divergenz nicht rechtfertigt.

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