BFH III. Senat
FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 3 S 3, FGO § 116 Abs 6, EStG § 63 Abs 1 S 1 Nr 2
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 10. März 2010, Az: 14 K 323/09
Leitsätze
1. NV: Das FG hat dem Amtsermittlungsgrundsatz besondere Bedeutung beizumessen, soweit es sich um Feststellungen handelt, denen nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. In diesen Fällen muss das FG jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen.
2. NV: Es entspricht fehlerfreier Ermessensausübung, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, wenn der geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und es im Falle der Zulassung des Revisionsverfahrens voraussichtlich zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG gekommen wäre.
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) begehrt für seinen im Januar 1989 geborenen Stiefsohn S Kindergeld ab Oktober 2007.
Der Kläger wohnt in der Bundesrepublik Deutschland ‑‑Deutschland‑‑ (Stadt R) und ist als Beamter beschäftigt. Seit August 2006 ist er mit Frau E verheiratet. E, welche die estnische Staatsangehörigkeit besitzt, ist die Mutter der Kinder S, A und U. Der Kläger ist nicht deren leiblicher Vater. Er hat die Kinder auch nicht adoptiert.
Der Kläger beantragte im Oktober 2006 bei der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) Kindergeld für A, U und S. Er teilte der Familienkasse mit, E lebe mit den drei Kindern in einer ‑‑im gemeinsamen Eigentum von ihm und der E stehenden‑‑ Eigentumswohnung in Estland (Stadt X). Der Kläger sei dort mit Zweitwohnsitz gemeldet. E beziehe für ihre Kinder in Estland Kindergeld. Daraufhin setzte die Familienkasse im November 2006 gegenüber dem Kläger Kindergeld für A, U und S ab August 2006 in Höhe von jeweils 134,83 € vorläufig fest.
Nach der Anmeldebestätigung der Stadt R sind E sowie ihre beiden Kinder A und U Ende Juni 2007 in die Wohnung des Klägers in der Stadt R gezogen. Der in Estland verbliebene S studierte an der Technischen Hochschule in Z (Estland).
Mit Bescheid vom September 2007 hob die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für S ab Oktober 2007 nach § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) auf, weil S nicht in den Haushalt des Klägers aufgenommen sei. Der Einspruch blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die daraufhin erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, nach der anwendbaren Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), seien die deutschen Kindergeldvorschriften heranzuziehen (Art. 1, 2, 4, 13 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71). Nach Art. 73 der VO Nr. 1408/71 habe der Kläger als ein in Deutschland wohnender Arbeitnehmer für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnten, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften seines Wohnsitzstaates. Dabei sei S zwar als Familienangehöriger des Klägers nach Art. 1 Buchst. f der VO Nr. 1408/71 zu beurteilen, weil er vom Kläger überwiegend unterhalten werde. Hieraus folge aber nicht zugleich, dass S auch als ein Haushaltsangehöriger im Sinne des maßgeblichen deutschen Kindergeldrechts anzusehen sei. Vielmehr bleibe es bei der Prüfung des deutschen Rechts. Danach scheide eine Berücksichtigung des S aus, weil er nicht ‑‑wie § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG für Stiefkinder voraussetze‑‑ in den Haushalt des Klägers in der Stadt R oder in einen solchen in X (Estland) aufgenommen sei.
Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht der Kläger geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Daneben ‑‑so der Kläger‑‑ erfordere die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Schließlich behauptet der Kläger das Vorliegen eines Verfahrensmangels, weil das FG gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen habe (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Es liegt ein von dem Kläger in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Denn das FG hat seine aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO folgende Pflicht zur Sachaufklärung verletzt.
a) Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Diesen Amtsermittlungsgrundsatz hat das FG ‑‑unbeschadet der Mitwirkungspflicht der Beteiligten‑‑ besonders zu beachten, soweit es sich um Feststellungen handelt, denen nach seinem materiell-rechtlichen Standpunkt entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. In diesen Fällen muss es jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachgehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen (z.B. BFH-Beschluss vom 17. September 2003 I B 18/03, BFH/NV 2004, 207, m.w.N.).
b) Im Streitfall hat das FG ‑‑ohne eigene Aufklärungsmaßnahmen (s. dazu z.B. § 79, § 79b Abs. 2 FGO) ergriffen zu haben- eine Aufnahme von S in einen Haushalt des Klägers in X (Estland) mit der Begründung abgelehnt, es fehle bereits an einem entsprechenden Vortrag des Klägers. So habe der Kläger nicht hinreichend dargelegt, S sei in den dortigen Haushalt eingebunden gewesen. Aber selbst wenn dies bejaht werden müsste, habe der Kläger ‑‑so das FG‑‑ nicht dargetan, dort überhaupt einen gemeinsamen Haushalt mit E geführt zu haben. Er habe nicht substantiiert behauptet, dass er seine Wohnung in X (Estland) regelmäßig aufgesucht und dort auch ein hauswirtschaftliches Leben stattgefunden habe.
Allerdings hat der Kläger mehrfach vorgetragen, in X (Estland) eine ‑‑im gemeinsamen Eigentum von ihm und E stehende- Eigentumswohnung zu besitzen. Zudem hielt sich S nach Aktenlage während des Streitzeitraums weiterhin in Estland für Studienzwecke auf. Danach bestanden ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass S möglicherweise in einen gemeinsamen Haushalt des Klägers und E in X (Estland) aufgenommen war.
Zur abschließenden Beurteilung dieser Frage bedarf es weiterer Aufklärung. Einen Haushalt besitzt jemand dort, wo er allein oder mit anderen eine Wohnung innehat, in der hauswirtschaftliches Leben herrscht, an dem er sich persönlich oder finanziell beteiligt (BFH-Urteil vom 13. Dezember 1985 VI R 203/84, BFHE 145, 551, BStBl II 1986, 344). Eine Haushaltsaufnahme des Kindes liegt vor, wenn es in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist (Senatsbeschluss vom 24. Oktober 2006 III S 3/06 (PKH), BFH/NV 2007, 238). Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller Art (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (BFH-Urteil vom 20. Juni 2001 VI R 224/98, BFHE 195, 564, BStBl II 2001, 713). Dabei ist ausreichend, dass das Kind in einen gemeinsamen Haushalt des Berechtigten und des mit ihm verheirateten Elternteils aufgenommen wird (BFH-Beschluss vom 27. August 1998 VI B 236/97, BFH/NV 1999, 177). Nach alledem sind weitere tatsächliche Feststellungen des FG erforderlich.
2. Auch hat der Kläger das Recht zur Rüge mangelnder Sachaufklärung nicht verloren. Zwar kann dies bei verzichtbaren Verfahrensmängeln ‑‑wie dem der unzureichenden Sachverhaltsaufklärung‑‑ auch durch bloßes Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge geschehen (§ 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung). Diese Folge wird vom BFH allerdings nur für den Fall angenommen, dass der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren ‑‑anders als im Streitfall‑‑ rechtskundig vertreten war (BFH-Beschluss vom 27. Oktober 2011 VI B 79/11, www.bundesfinanzhof.de, m.w.N.).
3. Liegt ein die Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel vor, kann der BFH statt der Zulassung der Revision das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO). Die Zurückverweisung ist ermessensgerecht, wenn es auch im Falle der Zulassung des Revisionsverfahrens voraussichtlich zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG gekommen wäre (Senatsbeschluss vom 9. November 2009 III B 188/08, BFH/NV 2010, 667).
So verhält es sich hier. Die Vorschrift des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG setzt nach ihrem Wortlaut ‑‑wovon offensichtlich auch das FG ausgegangen ist‑‑ nicht voraus, dass es sich um einen inländischen Haushalt des Kindergeldberechtigten handelt. Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des FG könnte der Senat im Falle der Zulassung der Revision aber über die Frage, ob der Kläger S in einen gemeinsamen Haushalt in X (Estland) aufgenommen hat, nicht abschließend entscheiden.