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Urteil vom 22. Dezember 2011, III R 65/10

Berücksichtigungsfähigkeit eines Kindes trotz ausgeübter Vollzeiterwerbstätigkeit - Vertrauensschutz bei Änderung von Bescheiden

BFH III. Senat

EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst c, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 70 Abs 4, AO § 176

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 01. März 2009, Az: 16 K 377/08

Leitsätze

1. NV: Die Vollzeiterwerbstätigkeit eines Kindes schließt seine Berücksichtigung als Kind, das sich in einer Übergangszeit befindet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) oder auf einen Ausbildungsplatz wartet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG), nicht aus.

2. NV: Änderungen der Rechtsauffassung durch Rechtsprechung oder Verwaltungsanweisung fallen, soweit sie sich auf Einkünfte und Bezüge beziehen, nicht unter § 70 Abs. 4 EStG.

Tatbestand

  1. I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter eines im Mai 1988 geborenen Sohnes (S). Dieser beendete im Februar 2008 seine Ausbildung im Fach Elektroniker/Energie- und Gebäudetechnik. Unmittelbar anschließend bewarb er sich um eine Schulausbildung an der Fachoberschule Technik und erhielt einen Schulplatz für das Schuljahr 2008/2009. Ab September 2008 nahm er diese Ausbildung auf. In der Zwischenzeit, d.h. von März 2008 bis August 2008, war er in seinem bisherigen Ausbildungsbetrieb vollzeiterwerbstätig. Bezogen auf das gesamte Kalenderjahr 2008 überschritten seine Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag von 7.680 €, bezogen auf die Monate Januar und Februar 2008 sowie September bis Dezember 2008 unterschritten sie den (anteiligen) Jahresgrenzbetrag.

  2. Im Hinblick auf das voraussichtliche Ende der Berufsausbildung hatte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) im März 2006 Kindergeld zunächst bis einschließlich Februar 2008 festgesetzt. Im September 2008 hob die Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar und Februar 2008 auf und lehnte den zwischenzeitlich gestellten Antrag der Klägerin auf Festsetzung von Kindergeld ab September 2008 ab, da S im gesamten Kalenderjahr 2008 als Kind zu berücksichtigen sei, seine voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge in dieser Zeit aber den Jahresgrenzbetrag überschreiten würden. Den hiergegen gerichteten Einspruch der Klägerin wies sie im Oktober 2008 zurück.

  3. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage, mit der die Klägerin Kindergeld für S für die Monate Januar und Februar 2008 sowie für September bis Dezember 2008 begehrte, mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 1403 veröffentlichten Urteil statt.

  4. Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) und nimmt u.a. auf das Senatsurteil vom 17. Juni 2010 III R 34/09 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982) Bezug.

  5. Sie beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  6. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

  7. S habe sich noch im Februar 2008 um einen Schulplatz an der Fachoberschule bewerben müssen, um die Bewerbungsfrist einzuhalten. Unmittelbar nach Beendigung der Ausbildung habe er noch nicht gewusst, ob er ein Fachabitur machen sollte, um anschließend zu studieren, oder im Ausbildungsberuf arbeiten sollte, um nach einer angemessenen Gesellenzeit die Meisterschule zu besuchen. Um sich die Option "Studium" offen zu halten, habe er sich bei der Fachoberschule beworben. Die Berücksichtigung des S als Kind auch in den Monaten März bis August 2008 führe zu einem nicht hinnehmbaren Ergebnis im Vergleich zu demjenigen, der sich kurzfristig entscheide, eine Schulausbildung aufzunehmen, sich verspätet bewerbe und im Nachrückverfahren einen Platz erhalte. Zudem sei das Vertrauen der Klägerin schutzwürdig. Nach der im Zeitpunkt der Entscheidung der Familienkasse im September 2008 noch geltenden ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs sei ein Kind während der Monate einer Vollzeiterwerbstätigkeit nicht als Kind zu berücksichtigen gewesen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision der Familienkasse ist hinsichtlich der Monate September bis Dezember 2008 begründet (unten 1.). Insoweit führt die Revision zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Abweisung der Klage, da die Familienkasse den Antrag der Klägerin, ihr für diese Monate Kindergeld zu gewähren, zu Recht abgelehnt hat (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Hinsichtlich der Monate Januar und Februar 2008 ist die Revision der Familienkasse als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Denn die Familienkasse war zu einer (rückwirkenden) Aufhebung der bestandskräftigen Festsetzung für diese Monate nicht berechtigt (unten 2.).

  2. 1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das, wie S in 2008, das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG u.a. dann Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge 7.680 € im Kalenderjahr nicht übersteigen.

  3. a) In Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG befindet sich, wer sein Berufsziel noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 24. Februar 2010 III R 3/08, BFH/NV 2010, 1262). Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ist ein Kind zu berücksichtigen, wenn es eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann. Das ist nicht nur dann der Fall, wenn das Kind noch keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, sondern auch dann, wenn ihm ein Ausbildungsplatz bereits zugesagt wurde, es diesen aber aus schul-, studien- oder betriebsorganisatorischen Gründen erst zu einem späteren Zeitpunkt antreten kann (z.B. Senatsurteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982).

  4. b) Danach geht das FG zunächst zutreffend davon aus, dass S im gesamten Kalenderjahr 2008 die Voraussetzungen eines Berücksichtigungstatbestands nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG erfüllt hat. In den Monaten Januar und Februar 2008 (Ausbildung im Fach Elektroniker/Energie- und Gebäudetechnik) und in den Monaten September bis Dezember 2008 (Schulausbildung an der Fachoberschule Technik) wurde er i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG für einen Beruf ausgebildet. In den Monaten März bis August 2008 war er als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG zu berücksichtigen, denn er hatte sich nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) unmittelbar im Anschluss an den Abschluss seiner (ersten) Berufsausbildung auf einen Schulplatz an der Fachoberschule für Technik beworben und erst zum September 2008 eine Zusage erhalten. Anhaltspunkte dafür, dass S gleichwohl in der Zeit von März bis August 2008 nicht ausbildungswillig gewesen ist, hat das FG nicht festgestellt.

  5. c) Entgegen der Auffassung des FG wird der Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG jedoch nicht dadurch ausgeschlossen, dass S in den danach auch zu berücksichtigenden Monaten März bis August 2008 einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachging. Insoweit verweist der Senat zur weiteren Begründung auf sein Urteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982. Danach stand die Vollzeiterwerbstätigkeit des S seiner Berücksichtigung als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 EStG nicht entgegen. Bei der Frage, ob der Grenzbetrag überschritten ist, sind daher auch die Einkünfte und Bezüge aus den Monaten März bis August 2008 einzubeziehen. Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) überschritten die Einkünfte und Bezüge des S im Kalenderjahr 2008 den maßgeblichen Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, so dass der Klägerin auch für die Monate Januar und Februar sowie für September bis Dezember 2008 kein Anspruch auf Kindergeld zustand.

  6. Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin darauf, dass sie insoweit schlechter gestellt werde als die Eltern eines Kindes, das sich erst kurzfristig zur Aufnahme einer weiteren Ausbildung entscheide, sich verspätet bewerbe und erst im Nachrückverfahren einen Ausbildungsplatz erhalte. Die Erfüllung eines Berücksichtigungstatbestands kann für den einzelnen Kindergeldberechtigten je nach dem konkreten Einzelfall unterschiedliche Auswirkungen haben. So wäre die Klägerin in dem von ihr gebildeten Fall begünstigt, wenn die Einkünfte und Bezüge ihres Sohnes bezogen auf den gesamten Berücksichtigungszeitraum den maßgeblichen Grenzbetrag nicht überschreiten würden; denn anders als die Eltern des Kindes, das sich erst kurzfristig um den weiteren Ausbildungsplatz bewirbt, erhielte sie für eine längere Wartezeit Kindergeld.

  7. d) Die Familienkasse war auch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht daran gehindert, im September 2008 den Kindergeldantrag der Klägerin für die Monate ab September 2008 abzulehnen. Ein entsprechender Vertrauensschutz ergibt sich insbesondere nicht aus § 176 der Abgabenordnung. Diese Vorschrift schützt nicht das Vertrauen des Steuerpflichtigen in eine ihm günstige Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsanweisung, sondern das Vertrauen in die Bestandskraft von Steuerbescheiden, soweit sie auf einer solchen Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungsanweisung beruhen (z.B. Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFHE 216, 138, BStBl II 2007, 717). Sie ist deshalb bei Erstbescheiden ‑‑hier: die (abgelehnte) erstmalige Festsetzung von Kindergeld ab September 2008‑‑ von vornherein nicht anwendbar (z.B. Klein/ Rüsken, AO, 10. Aufl., § 176 Rz 1, m.w.N.).

  8. 2. Im Ergebnis zu Recht hat das FG allerdings den Bescheid der Familienkasse vom 24. September 2008 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 23. Oktober 2008 aufgehoben, soweit die Familienkasse damit die für Januar und Februar 2008 bereits bestandskräftige Festsetzung von Kindergeld aufgehoben hat. Denn die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung lagen nicht vor (vgl. Senatsurteil vom 21. Oktober 2010 III R 74/09, BFH/NV 2011, 250).

  9. a) Insbesondere kam eine Korrektur der Festsetzung nach § 70 Abs. 4 EStG nicht in Betracht. Denn im Streitfall haben sich nach den Feststellungen des FG hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge keine tatsächlichen Änderungen gegenüber den Annahmen in der Prognose ergeben. Vielmehr hat sich im Jahr 2008 allein die Rechtsauffassung der Verwaltung zur Berücksichtigungsfähigkeit von Kindern, die während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehen, mit der Folge geändert, dass die Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit bei der Prüfung der Grenzbetragsüberschreitung einzubeziehen sind. Eine derartige Änderung der Rechtsauffassung genügt allein aber nicht, um eine Korrektur der Festsetzung gemäß § 70 Abs. 4 EStG zu rechtfertigen. Auch andere Änderungsvorschriften greifen nicht ein. Zur weiteren Begründung wird auf das Urteil in BFH/NV 2011, 250 Bezug genommen.

  10. b) Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass der Anwendungsbereich des § 70 Abs. 4 EStG dann wieder eröffnet ist, wenn nicht allein die Einbeziehung der Einkünfte aus der Vollzeiterwerbstätigkeit in Folge geänderter Rechtsauffassung zur nachträglichen Feststellung der Grenzbetragsüberschreitung führt, sondern sich zusätzlich tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrages der Einkünfte und Bezüge ergeben ‑‑z.B. durch eine bei Erlass der Prognoseentscheidung nicht absehbare Nebenerwerbstätigkeit des Kindes, die parallel zu einer avisierten Ausbildung an einer Schule oder Hochschule aufgenommen wird‑‑ und diese tatsächlichen Änderungen bereits für sich genommen die nachträgliche Feststellung der Überschreitung des (anteiligen) Grenzbetrages ermöglicht hätten. Das Vorliegen eines solchen Sachverhalts hat das FG indes nicht festgestellt.

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