BFH III. Senat
BGB § 1610a, EStG § 74 Abs 1 S 4, FGO § 96 Abs 2, FGO § 126 Abs 4, GG Art 103 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3
vorgehend FG Nürnberg, 12. April 2011, Az: 7 K 913/2008
Leitsätze
1. NV: Nimmt das FG Ausführungen eines Beteiligten nicht zur Kenntnis oder zieht es sie ersichtlich nicht in Erwägung, so ist die Revision dennoch nicht wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs zuzulassen, wenn das übergangene Vorbringen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt entscheidungserheblich ist .
2. NV: Hat die Familienkasse die Ermessensentscheidung über die Abzweigung von Kindergeld für ein behindertes Kind darauf gestützt, dass der Kindergeldberechtigte eigene Unterhaltsaufwendungen nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht habe, so kommt es bei der finanzgerichtlichen Überprüfung nicht auf die Frage an, ob Blindengeld als Einkommen des behinderten Kindes anzusehen ist. Übergeht das FG entsprechendes Vorbringen, so führt dies nicht zur Revisionszulassung wegen eines Verfahrensfehlers .
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter eines behinderten Sohnes (S). Dieser lebt seit April 2001 in einem Wohnheim für Blinde. Der Beigeladene (Bezirk X) trug die Unterbringungskosten von monatlich 4.800 €, hinzu kamen ein Barbetrag und Aufwendungen für die Bekleidung. Die Klägerin bezog Kindergeld für S. Mit Bescheid vom 30. Dezember 2005 zweigte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) einen Betrag von monatlich 23 € an den Beigeladenen ab. Gegen die Abzweigung wandte sich die Klägerin mit dem Einspruch, der ohne Erfolg blieb. Die Familienkasse führte in der Einspruchsentscheidung vom 14. Mai 2008 aus, es sei zwar unstreitig, dass die Klägerin im Rahmen von regelmäßigen Besuchen des S Unterhaltsaufwendungen in Form von Verpflegung und anteiligen Kosten der Wohnung und der Haushaltsführung getragen habe. Die Klägerin habe jedoch, trotz einer entsprechenden Aufforderung, nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht, dass der von ihr geleistete Unterhalt mindestens die Höhe des Kindergeldes abzüglich des abgezweigten Betrages erreicht habe.
Das Finanzgericht (FG), das den Beigeladenen am Verfahren beteiligt hatte, wies die Klage ab, mit welcher die Klägerin geltend gemacht hatte, sie trage weitaus höhere Unterhaltsaufwendungen für S als die Familienkasse dies annehme. Nach Ansicht des FG war die Ermessensausübung der Familienkasse nicht zu beanstanden.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin in erster Linie einen Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Sie habe im finanzgerichtlichen Verfahren vorgetragen, dass das Blindengeld kein rechtlich relevantes Einkommen des S darstelle und nach der gesetzlichen Vermutung des § 1610a des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) in voller Höhe verbraucht werde. Das FG habe gleichwohl ohne jegliche Begründung das Blindengeld als Einkommen des S angesetzt. Es habe damit ihren, der Klägerin, Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Aus dem Urteil ergebe sich, dass das FG ihr Vorbringen zum Blindengeld entweder nicht zur Kenntnis genommen oder jedenfalls bei der Entscheidung nicht erwogen habe. Ohne Berücksichtigung des Blindengeldes hätten die Unterhaltsaufwendungen die monatlichen Einkünfte von S überstiegen.
Die Revision sei darüber hinaus wegen der Erforderlichkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO). Das FG habe auch den vom Vater gezahlten Unterhalt von monatlich 349,21 € berücksichtigt, obwohl der Unterhaltsanspruch ab August 2004 auf den Beigeladenen übergeleitet worden sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Die von der Klägerin vorgebrachten Zulassungsgründe liegen nicht vor oder wurden nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Weise dargelegt.
1. Die Klägerin rügt als Verfahrensmangel, das FG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO), weil es ihren Vortrag übergangen habe, wonach das Blindengeld nicht zum Einkommen des S gezählt werden dürfe. Das FG habe das Blindengeld bei Prüfung der Frage, ob der Klägerin Unterhaltsaufwendungen entstanden seien, zu den Einkünften des S gezählt.
a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das FG, die Beteiligten über den Verfahrensstoff zu informieren und ihnen Gelegenheit zur Äußerung zu geben, ihre Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen, in Erwägung zu ziehen und sich mit dem entscheidungserheblichen Kern ihres Vorbringens auseinanderzusetzen. Das rechtliche Gehör ist verletzt, wenn sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (z.B. Senatsbeschluss vom 27. Juli 2007 III S 8/07, BFH/NV 2007, 2135).
b) Im Streitfall hat sich das FG in den Entscheidungsgründen nicht mit dem Vortrag der Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren auseinandergesetzt, wonach das Blindengeld entsprechend der Vermutung des § 1610a BGB nicht als Einkommen des S angesetzt werden dürfe. Das FG hat vielmehr das Blindengeld bei der Ermittlung der "Einkünfte" des S berücksichtigt.
c) Gleichwohl scheidet eine Revisionszulassung aus. Die Vorschrift des § 126 Abs. 4 FGO, wonach eine Revision trotz Rechtsverletzung zurückzuweisen ist, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig darstellt, ist nach ständiger Rechtsprechung auch im Beschwerdeverfahren entsprechend anwendbar (z.B. Senatsbeschluss vom 23. Dezember 2004 III B 160/03, BFH/NV 2005, 1075; BFH-Beschluss vom 30. November 2006 VIII B 104/06, BFH/NV 2007, 486). Bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs kommt es auf das Vorliegen dieses Verfahrensverstoßes nicht an, wenn das vom FG übergangene Vorbringen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt entscheidungserheblich ist (BFH-Urteile vom 11. April 1990 I R 80/89, BFH/NV 1991, 440, und vom 19. Januar 1994 XI R 72/90, BFH/NV 1994, 591; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 119 FGO Rz 232; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 119 Rz 11).
d) Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier vor. Das FG hatte über den Abzweigungsbescheid der Familienkasse vom 30. Dezember 2005 sowie über die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 14. Mai 2008 zu entscheiden. Die Abzweigung von Kindergeld beruht auf einer Ermessensentscheidung der Familienkasse (vgl. § 74 Abs. 1 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes). Bei der Überprüfung einer Ermessensentscheidung der Finanzbehörde durch das FG ist auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung abzustellen (Gräber/von Groll, a.a.O., § 102 Rz 13; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 61 ff., jeweils m.w.N.). Die Familienkasse hat ihre Ermessensausübung im Wesentlichen darauf gestützt, dass die Klägerin nicht glaubhaft gemacht oder nachgewiesen habe, dass ihr Unterhaltsaufwendungen für S entstanden seien, die über den Betrag von 131 € hinausgegangen seien. Die Familienkasse hat nicht das für S gezahlte Blindengeld zu dessen Bezügen gezählt, ebenso wenig Unterhaltsleistungen des Vaters. Dies war für sie bei der Ermessensausübung nicht entscheidungserheblich. Die Frage, ob diese Zuflüsse als Bezüge zu erfassen seien, war von der Klägerin nicht problematisiert worden, so dass für die Familienkasse auch kein Anlass bestand, hierauf in der Einspruchsentscheidung einzugehen. Dementsprechend durfte es für das FG nicht darauf ankommen, ob das Blindengeld oder die Unterhaltszahlungen zu den Bezügen von S gehörten, sondern nur darauf, ob die Familienkasse bei ihrer Entscheidung es zu Recht als ausschlaggebend angesehen hatte, dass die Klägerin das Entstehen höherer Unterhaltsaufwendungen als 131 € nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht hatte. Ein Einbeziehen des Blindengeldes und der Unterhaltsleistungen in die Bezüge des S konnte letztlich nicht entscheidungserheblich sein. Auf das diesbezügliche Vorbringen der Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren kam es nicht an.
2. Soweit mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Erforderlichkeit einer Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geltend gemacht wird (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO), hat sie schon deshalb keine Aussicht auf Erfolg, weil sie insoweit unzulässig ist. Dieser Zulassungsgrund führt zur Revision, wenn das FG seiner Entscheidung einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der mit der näher angeführten Rechtsprechung eines anderen Gerichts nicht übereinstimmt (z.B. Senatsbeschluss vom 27. April 2011 III B 62/10, BFH/NV 2011, 1379) oder wenn dem FG bei der Auslegung und Anwendung des Rechts ein Fehler von so erheblichem Gewicht unterlaufen ist, dass er das Vertrauen in die Rechtsprechung beschädigen könnte, wenn er nicht vom Rechtsmittelgericht korrigiert würde (z.B. BFH-Beschluss vom 24. April 2008 VII B 262/07, BFH/NV 2008, 1448). Aus dem Vortrag der Klägerin ergibt sich kein Anhaltspunkt, der eine Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO rechtfertigen könnte.