BFH X. Senat
FGO § 76 Abs 1 S 1, FGO § 116 Abs 3 S 1, FGO § 107
vorgehend FG Köln, 12. April 2011, Az: 4 K 540/05
Leitsätze
1. NV: Das FG verstößt gegen seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, wenn des FA vorträgt, der Steuerpflichtige habe "einen Teil" seiner Einkäufe bei einem bestimmten Lieferanten zur Verschleierung der Verkürzung der entsprechenden Einnahmen nicht gebucht, das FG aber ohne Hinweis oder Sachaufklärung davon ausgeht, der Steuerpflichtige habe seine gesamten Einkäufe bei diesem Lieferanten nicht erfasst .
2. NV: Hat das FG im Wege der objektiven Klagehäufung über mehrere Streitgegenstände (Verwaltungsakte) entschieden und bezieht der Rechtsmittelführer sein Rechtsmittel ausdrücklich auf das gesamte FG-Urteil, ist das Rechtsmittel wegen teilweise fehlender Begründung teilweise unzulässig, soweit die Begründung des Rechtsmittels ausschließlich Umstände anführt, die lediglich für einige, nicht aber für alle Streitgegenstände von Bedeutung sind .
Tatbestand
I. Im Rahmen einer Fahndungsprüfung in einem von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betriebenen Restaurant kam der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) zu dem Schluss, dass die Einnahmen des Jahres 1999 ‑‑das nicht mehr streitbefangen ist‑‑ tatsächlich um 246 % höher lagen als von der Klägerin erklärt. Diesen Prozentsatz wandte das FA auch auf die erklärten Einnahmen und Umsätze der Streitjahre 2000 und 2001 an.
Aus einer Auswertung von Kontrollmaterial ergab sich ferner, dass die Klägerin einen Teil ihrer Wareneinkäufe bei einer Fa. W im Umfang von 1.608 DM (2000) bzw. 2.206,34 DM (2001) nicht in ihrer Buchführung erfasst hatte.
Während des anschließenden Klageverfahrens führte das FA bei den Klägern eine Außenprüfung für die Folgejahre (2002 bis 2004) durch. Es teilte dem Finanzgericht (FG) mit, die Klägerin habe im Jahr 2002 auch "einen Teil" der Wareneinkäufe bei der Fa. C nicht in ihrer Buchführung erfasst. Da die Klägerin im Streitjahr 2001 ebenfalls Waren für 25.678,71 DM von der Fa. C bezogen habe, sei davon auszugehen, dass es auch in diesem Jahr zu Steuerverkürzungen gekommen sei.
Das FG gab der Klage zum überwiegenden Teil statt. Es folgte den Klägern zunächst darin, dass die Umsätze des Jahres 1999 nicht auf die Streitjahre 2000 und 2001 übertragbar seien. Daher sei die Schätzung des FA durch eine eigene Schätzung des FG zu ersetzen. Hierfür zog das FG den nicht erfassten Teil der Wareneinkäufe bei der Fa. W (Streitjahre 2000 und 2001) sowie den Gesamtbetrag der Einkäufe bei der Fa. C (nur Streitjahr 2001) heran und schätzte den Mehrerlös auf der Grundlage eines ‑‑oberhalb der in der Richtsatzsammlung ausgewiesenen Bandbreite liegenden‑‑ Rohgewinnaufschlagsatzes von 320 %.
Mit ihrer Beschwerde rügen die Kläger Verfahrensmängel.
Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Ferner haben die Kläger beantragt, das finanzgerichtliche Urteil wegen offenbarer Unrichtigkeiten (§ 107 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) und anderer Unrichtigkeiten (§ 108 FGO) zu berichtigen. Das FG hat den Antrag, soweit er auf § 108 FGO gestützt wird, am 22. Dezember 2011 abgelehnt und den Antrag, soweit er auf § 107 FGO gestützt wird, dem erkennenden Senat vorgelegt.
Entscheidungsgründe
II. Der Antrag, das Urteil des FG wegen einer offenbaren Unrichtigkeit zu berichtigen, wird abgelehnt.
Die Kläger rügen insoweit Mängel bei der Vorsteueraufteilung sowie der Anwendung der Rohgewinnaufschlagsätze. Nach den vom FG im Schreiben vom 25. Mai 2011 und im Beschluss vom 22. Dezember 2011 abgegebenen Stellungnahmen sind die beanstandeten Berechnungen jedoch bewusst so vorgenommen worden, wie sie im vorinstanzlichen Urteil enthalten sind.
Da die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit voraussetzt, dass ein Versehen des Gerichts, nicht aber eine bewusste Willensentscheidung gegeben ist (vgl. Lange in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 107 FGO Rz 13, m.w.N.), ist eine Urteilsberichtigung nach § 107 FGO vorliegend ausgeschlossen.
III.
1. Die Beschwerde ist wegen des Fehlens der gemäß § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO erforderlichen Beschwerdebegründung unzulässig, soweit sie das Streitjahr 2000 betrifft.
Weder dem Beschwerdeschriftsatz noch der Beschwerdebegründung lässt sich entnehmen, dass das klägerische Begehren, die Revision zuzulassen, auf das Jahr 2001 beschränkt werden sollte. Vielmehr benennen die Kläger stets das gesamte finanzgerichtliche Urteil, in dem über insgesamt sechs angefochtene Verwaltungsakte entschieden worden ist.
Gleichwohl befasst sich die Beschwerdebegründung nur mit Verfahrensmängeln, die ‑‑wenn sie vorliegen sollten‑‑ ausschließlich das Jahr 2001 beträfen. Denn alle Verfahrensrügen beziehen sich auf die Lieferungen der Fa. C, die aber für das Jahr 2000 nicht zu Erhöhungen der steuerlichen Bemessungsgrundlagen geführt haben.
Die Einreichung einer ‑‑auf den jeweiligen, ggf. teilbaren Streitgegenstand bezogenen‑‑ Begründung gehört gemäß § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO zu den zwingenden gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Rechtsmittels der Nichtzulassungsbeschwerde. Daran fehlt es hier für das Jahr 2000.
2. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie das Streitjahr 2001 betrifft. Es liegt ein von den Klägern geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Die Kläger rügen zu Recht, dass das FG hinsichtlich der Einkäufe der Klägerin bei der Fa. C seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO), verletzt hat.
Die Verpflichtung des FG zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bedeutet nicht, dass jeder fernliegenden Erwägung nachzugehen ist. Wohl aber muss das FG die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Beweise erheben (ständige Rechtsprechung; vgl. Senatsbeschluss vom 10. September 2003 X B 132/02, BFH/NV 2004, 495, unter 4., m.w.N.).
Vorliegend hatte im finanzgerichtlichen Verfahren keiner der Beteiligten vorgebracht, die Klägerin habe ihren gesamten Wareneinkauf bei der Fa. C nicht in ihrer Buchführung erfasst. Das FA hatte in seinem Schriftsatz vom 23. Juli 2008, mit dem es die entsprechenden Tatsachen in das Verfahren eingeführt hatte, lediglich behauptet, im Folgejahr 2002 sei "ein Teil" der Einkäufe nicht gebucht worden. Da die Klägerin im Jahr 2001 ebenfalls Einkäufe bei der Fa. C getätigt habe, sei auch insoweit von Steuerverkürzungen auszugehen. Im Schriftsatz vom 11. Mai 2009 hatte das FA nochmals bekräftigt, es gehe davon aus, dass die Einkäufe bei der Fa. C "nicht vollständig" in der Buchführung der Klägerin erfasst seien.
Bei dieser Sachlage hätte das FG nicht ohne vorherige Ermittlungen den Gesamtbetrag der im Jahr 2001 von der Klägerin bei der Fa. C getätigten Einkäufe als nicht in der Buchführung erfasst ansehen dürfen. Da sowohl in Bezug auf die Einkäufe des Jahres 2002 bei der Fa. C als auch in Bezug auf die Einkäufe des Jahres 2001 bei der Fa. W unstreitig jeweils nur "ein Teil" der entsprechenden Eingangsrechnungen nicht erfasst worden war und dem FG hinsichtlich der Einkäufe des Jahres 2001 bei der Fa. C keinerlei konkrete Erkenntnisse vorlagen, hätte es sich aufgedrängt, den Umfang der Erfassung dieser Einkäufe in der Buchführung des Jahres 2001 zu ermitteln. Hierzu hätte eine Anfrage an die Klägerin samt Anforderung des entsprechenden Buchführungskontos ausgereicht. Tatsächlich hat das FG diese Eingangsrechnungen, auf die es seine Entscheidung maßgeblich gestützt hat, nach Aktenlage aber weder vor noch während der mündlichen Verhandlung angesprochen.
Vorliegend hatte das FG sogar positiv erkannt, dass hinsichtlich der Einkäufe bei der Fa. C weitere Ermittlungen erforderlich waren. Denn im Telefongespräch mit einem Vertreter des FA am 2. September 2010 hatte die Berichterstatterin des finanzgerichtlichen Verfahrens ‑‑nachdem die von ihr vorgeschlagene Abhilfe vom Vertreter des FA abgelehnt worden war‑‑ ausgeführt, es sei nunmehr eine Prüfung der bislang nicht berücksichtigten "Schwarzeinkäufe" des Jahres 2001 der Fa. C erforderlich. Den Klägern ist der von der Berichterstatterin angefertigte Vermerk über das Telefongespräch nach Aktenlage nicht mitgeteilt worden. Daher geht auch der vom FA im Beschwerdeverfahren gegebene Hinweis ins Leere, die Kläger hätten vortragen müssen, welche Anstrengungen sie unternommen hätten, um sich hinsichtlich der Eingangsrechnungen der Fa. C Gehör zu verschaffen.
Da die Klägerin vorträgt, die im FG-Urteil als "Schwarzeinkäufe" angesehenen Lieferungen der Fa. C über 25.678,71 DM vollständig in der Buchführung erfasst zu haben, hätte die gebotene Sachaufklärung auch auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Standpunkts des FG zu einer anderen Entscheidung für das Streitjahr 2001 führen können.
Auch materiell-rechtlich setzt die Vornahme einer Schätzung voraus, dass das FG die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln kann (§ 162 Abs. 1 der Abgabenordnung i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 FGO). Vorliegend hat das FG aber keinen Versuch zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen unternommen.
b) Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass die weitere Verfahrensrüge der Kläger unschlüssig ist.
Die Kläger behaupten insoweit, das Kontrollmaterial in Bezug auf die Einkäufe bei der Fa. C, das sich in den Handakten des Betriebsprüfers befunden habe, sei ihnen nicht zugänglich gemacht worden. Darin liege eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Indes ist dem Prozessbevollmächtigten der Kläger auf dessen Antrag am 18. Juni 2009 Einsicht in sämtliche dem FG vorliegenden Gerichts-, Steuer- und Prüferhandakten gewährt worden. Wenn der Prozessbevollmächtigte der Kläger die Akteneinsicht bereits nach "weniger als zwei Minuten" (so der Vermerk der aufsichtführenden Beamtin) beendet hat und in der Kürze dieser Zeit möglicherweise die streitentscheidenden Eingangsrechnungen nicht wahrgenommen hat, liegt darin keine dem FG zuzurechnende Verletzung des Anspruchs der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs.