BFH III. Senat
EStG § 74 Abs 1 S 1, EStG § 74 Abs 1 S 3
vorgehend FG Köln, 20. Januar 2009, Az: 14 K 2708/05
Leitsätze
NV: Wurde Kindergeld bereits an einen Elternteil, der seiner Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind nicht nachgekommen ist oder mangels Leistungsfähigkeit nicht in vollem Umfang nachkommen konnte, ausgezahlt, kann es wegen der durch Auszahlung eingetretenen Erfüllung des Kindergeldanspruches nicht mehr nach § 74 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 3 EStG an das Kind abgezweigt werden.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist das am … September 1982 geborene Kind der Beigeladenen. Sie absolvierte seit dem Wintersemester 2003/2004 ein Hochschulstudium und wohnte in dieser Zeit in einer von der Beigeladenen angemieteten Wohnung. Seit Oktober 2004 bezog sie Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Am 10. Januar 2005 stellte die Klägerin einen Antrag auf Auszahlung des anteiligen Kindergeldes an sich selbst. Diesem stimmte die Beigeladene unter Hinweis darauf zu, dass sie für die Klägerin keinen Unterhalt leiste. Zur Erläuterung legte sie einen Bescheid des zuständigen Sozialleistungsträgers vor, wonach bei der für die Festsetzung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab Januar 2005 durchgeführten Bedarfsberechnung einerseits ihre Kosten für Unterkunft und Heizung um einen Miet- und Heizkostenanteil der Klägerin gekürzt wurden und sich andererseits ihr Einkommen um das für die Klägerin festgesetzte Kindergeld erhöhte.
Mit Bescheid vom 18. Januar 2005 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag auf Abzweigung mit der Begründung ab, dass der Klägerin durch die Haushaltsaufnahme bei der Beigeladenen Unterhalt in ausreichender Höhe gewährt werde. Das Kindergeld zahlte die Familienkasse weiter an die Beigeladene aus. Den gegen die Ablehnung der Abzweigung gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 7. Juni 2005 als unbegründet zurück.
Im anschließenden Klageverfahren beteiligte das Finanzgericht (FG) die Beigeladene am Verfahren. Es gab der Klage mit Urteil vom 21. Januar 2009 14 K 2708/05 (Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2010, 242) statt und verpflichtete die Familienkasse, das Kindergeld für den Zeitraum von Januar 2005 bis Oktober 2007 im Wege der Abzweigung an die Klägerin auszuzahlen.
Zur Begründung führte es im Wesentlichen Folgendes aus:
Es könne dahingestellt bleiben, ob die Beigeladene gegenüber der Klägerin mangels eigener Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig gewesen oder ihrer gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung nicht nachgekommen sei. Denn entweder seien die Tatbestandsvoraussetzungen des § 74 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) oder die des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG erfüllt. Die Klägerin habe sich selbst unterhalten, da sie ihren Mietanteil an die Beigeladene gezahlt und sich auch an den übrigen Kosten der Haushaltsführung beteiligt habe. Eine vorherige Zurverfügungstellung der hierfür notwendigen Mittel durch die Beigeladene sei nicht ersichtlich. Unter diesen Umständen könne aus der Haushaltsaufnahme der Klägerin bei der Beigeladenen nicht auf eine tatsächliche Unterhaltsgewährung geschlossen werden.
Die Entscheidung der Familienkasse über die Abzweigung sei ermessensfehlerhaft, weil die Familienkasse angenommen habe, dass schon die bindenden Voraussetzungen für die Abzweigung nicht erfüllt seien. Der Ermessensspielraum der Familienkasse sei auf Null reduziert, so dass das FG auch die Verpflichtung der Familienkasse zum Erlass der begehrten Abzweigungsentscheidung auszusprechen habe.
Zu Unrecht habe die Familienkasse eingewandt, dass der Anspruch der Klägerin durch Erfüllung erloschen sei. Zwar begründe der Anspruch auf Abzweigung keinen eigenständigen Anspruch des Kindes auf Kindergeld neben dem Kindergeldanspruch des Kindergeldberechtigten. Vielmehr handele es sich um einen einheitlichen Anspruch, der nur einmal zu erfüllen sei, und zwar entweder durch Zahlung an den Kindergeldberechtigten oder durch Zahlung an den Abzweigungsempfänger. In Fällen, in denen die Voraussetzungen der Abzweigung zum Zeitpunkt der Zahlung objektiv erfüllt seien und der maßgebliche Sachverhalt der Familienkasse bekannt gewesen sei, könne der Zahlung nur eingeschränkte Erfüllungswirkung zukommen. Erfüllungswirkung träte nur insoweit ein, als an denjenigen Kindergeldberechtigten oder Abzweigungsempfänger gezahlt worden sei, der letztlich bestands- bzw. rechtskräftig als der richtige Zahlungsempfänger festgestellt worden sei.
Mit der Revision rügt die Familienkasse, das FG habe § 74 Abs. 1 EStG insoweit unzutreffend ausgelegt, als es eine Abzweigung auch für solche Zeiträume für möglich gehalten habe, für die das Kindergeld bereits an den Kindergeldberechtigten ausgezahlt worden sei.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung schließt sie sich den Ausführungen des FG an, wonach die Familienkasse bei Annahme einer Erfüllungswirkung dem Abzweigungsanspruch allein durch Auszahlung des Kindergeldes die Grundlage entziehen könne. Wie das FG zu Recht ausgeführt habe, wäre damit die Möglichkeit willkürlicher Versagung des Anspruchs eröffnet und jeglicher Rechtsschutz abgeschnitten.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, dass eine Abzweigung von Kindergeld an das Kind nach § 74 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 EStG auch für solche Anspruchszeiträume erfolgen kann, für die die Familienkasse das Kindergeld bereits an den Kindergeldberechtigten ausgezahlt hat.
1. Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind selbst ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihm gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. a) Der Senat hat nach Ergehen der Vorentscheidung mit Urteil vom 26. August 2010 III R 21/08 (BFHE 231, 520) entschieden, dass die Auszahlung des Kindergeldes an einen Dritten nicht zum Festsetzungs-, sondern zum Auszahlungsverfahren gehört, das dem Erhebungsverfahren entspricht (s. Blümich/ Treiber, § 74 EStG Rz 41). Sie betrifft nicht die Anspruchs-, sondern die Empfangsberechtigung (Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 30. Januar 2001 VI B 272/99, BFH/NV 2001, 898; Greite in Korn § 74 EStG Rz 5). Dementsprechend kann Kindergeld, das bereits an einen Elternteil ausgezahlt worden ist, nicht mehr an einen Sozialleistungsträger oder ‑‑wie im vorliegenden Fall‑‑ an das Kind abgezweigt werden (s. Pust in Littmann/ Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 74 EStG Rz 72; Felix in Kirchhof, EStG, 10. Aufl., § 74 Rz 3; Bergkemper in Herrmann/Heuer/Raupach, § 74 EStG Rz 14; FG München, Urteil vom 24. Mai 2006 9 K 4733/02, EFG 2006, 1335; FG Köln, Urteil vom 13. März 2008 10 K 3232/06, EFG 2008, 1298; Abschn. 74.1.1 Abs. 2 Satz 4 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes ‑‑DA-FamEStG‑‑, Stand Januar 2009, BStBl I 2009, 1030, 1120). Die Abzweigung von bereits ausgezahltem Kindergeld scheidet aus, da der Kindergeldanspruch durch die Auszahlung erfüllt ist. Die Erfüllung eines erloschenen Anspruchs ist nicht möglich (s. Lemaire, Anmerkung zum Urteil des FG München vom 31. Juli 2008 12 K 1664/06, EFG 2008, 1047, 1048).
b) Der vorliegende Sachverhalt ist dem der Senatsentscheidung in BFHE 231, 520 zugrundeliegenden Sachverhalt vergleichbar. Denn auch in jenem Urteilsfall waren die für die Abzweigung maßgeblichen Umstände der Familienkasse in dem Zeitpunkt der Auszahlung des Kindergeldes an die Kindergeldberechtigte bereits bekannt.
c) Der Senat sieht sich durch die vom FG zur Begründung seiner Entscheidung angeführten Gründe nicht veranlasst, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Im Gegensatz zu den vom FG zum Vergleich herangezogenen Fällen der Zahlung an den bisherigen Erstattungsberechtigten trotz Kenntnis der Abtretung oder Pfändung lässt das bloße Bestehen einer Abzweigungslage ohne Vorliegen eines Abzweigungsbescheides die Empfangsberechtigung des Kindergeldberechtigten im Auszahlungsverfahren unberührt.
Auch ist die Versagung der Erfüllungswirkung bei Zahlung an den letztlich nicht Zahlungsempfangsberechtigten nicht durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑), das Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) oder das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) geboten. Zum einen ist die Verwaltung angewiesen, das an den Dritten auszuzahlende Kindergeld in Zweifelsfällen vorläufig einzubehalten (vgl. Abschn. 74.1.4 Satz 5 DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1030, 1121; ebenso bereits Abschn. 74.1.3 Sätze 5 und 7 DA-FamEStG 2004, BStBl I 2004, 742, 826). Zum anderen kann der Abzweigungsberechtigte durch Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes der Gefahr begegnen, dass die Familienkasse gleichwohl durch Auszahlung an den Kindergeldberechtigten vollendete Tatsachen schafft.