BFH X. Senat
AO § 173 Abs 1 Nr 2
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 25. August 2009, Az: 12 K 460/08
Leitsätze
NV: Das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt spricht dem ersten Eindruck nach gegen das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit. Dies gilt erst recht, wenn der Erklärungsvordruck den Eindruck erweckt, diese Angaben seien steuerlich nicht relevant.
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2005 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt wurden. In diesem Jahr war der Kläger als Diplomkaufmann im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nichtselbständig tätig. Die Klägerin ist Diplomingenieurin und erzielte 2005 mit dem Handel von … und als … gewerbliche Einkünfte.
In ihrer Einkommensteuer-Erklärung 2005, bei deren Anfertigung ein Steuerberater mitgewirkt hatte, machten die Kläger Angaben zu den Altersvorsorgeaufwendungen. In dem amtlichen Formular wurde nach Beiträgen zu den gesetzlichen Rentenversicherungen (Arbeitnehmeranteil) gefragt. Ferner waren Beiträge zu freiwilligen Versicherungen oder Höherversicherungen in den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Arbeitgeberanteil zu gesetzlichen Rentenversicherungen einzutragen.
Die Kläger gaben den vom Kläger geleisteten Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung mit 6.085 € und den hierzu geleisteten Arbeitgeberanteil mit 6.084 € an. Für die Klägerin wurden keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erklärt.
Der Einkommensteuer-Bescheid für 2005 vom 4. Dezember 2006 erging erklärungsgemäß. In dem Bescheid wurden Altersvorsorgeaufwendungen in Höhe von 1.218 € berücksichtigt. Der Bescheid wurde von den Klägern nicht angefochten.
Mit Schreiben vom 10. September 2008 beantragten die durch ihren Steuerberater vertretenen Kläger u.a., den Einkommensteuer-Bescheid 2005 nach § 173 der Abgabenordnung (AO) zu ändern und die von der Klägerin als Selbständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens betreffend den Einkommensteuer-Bescheid 2007 sei festgestellt worden, dass die Klägerin in 2005 solche Beiträge entrichtet habe. Die Kläger treffe kein grobes Verschulden, da ihnen nicht bekannt gewesen sei, dass infolge der Neuregelung der steuerlichen Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) im Streitjahr Altersvorsorgeaufwendungen im größeren Umfang abziehbar seien als im Vorjahr. Dem Antrag beigefügt war eine Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 3. Februar 2006. Danach hat die Klägerin im Jahr 2005 als selbständig Tätige Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung von insgesamt 759,20 € geleistet. Die Bescheinigung enthält keine Ausführungen zur steuerlichen Abziehbarkeit der Zahlungen als Altersvorsorgeaufwendungen.
Diesen Änderungsantrag lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies es mit der Begründung zurück, die Kläger träfe an dem nachträglichen Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Altersvorsorgeaufwendungen ein grobes Verschulden. Sie müssten sich das Verschulden ihres Beraters zurechnen lassen. Dieser sei gehalten gewesen, seine Mandanten auf die gesetzlichen Neuregelungen im AltEinkG hinzuweisen. Auch hätten die Kläger ggf. ihren Steuerberater nach den Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelung in ihrem speziellen Fall befragen können.
Das Finanzgericht (FG) wies die u.a. für das Streitjahr 2005 erhobene Klage ab. Den Klägern hätte sich aufdrängen müssen, dass auch Pflichtbeiträge der Selbständigen zur gesetzlichen Rentenversicherung als Vorsorgeaufwendungen steuerlich relevant seien. Zwar könne infolge der Fassung des Erklärungsformulars, das im Einzelnen Altersvorsorgebeiträge, nicht aber Pflichtbeiträge Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung abfrage, der Eindruck entstehen, solche Beiträge seien steuerlich nicht relevant und daher nicht anzugeben. Aufgrund der insgesamt in der Steuererklärung geforderten Daten sei aber ohne Weiteres zu schließen, dass solche Pflichtbeiträge steuerbegünstigt seien oder zumindest sein könnten. Den Klägern sei die steuerliche Bedeutung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und allgemein zur Altersvorsorge bekannt gewesen.
Mit ihrer Revision machen die Kläger weiterhin geltend, der Einkommensteuer-Bescheid 2005 sei nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Die gegenteilige Auffassung des FG stehe im Widerspruch zu den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Juni 1984 VI R 181/80 (BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693) und vom 22. Mai 1992 VI R 17/91 (BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80). Den Klägern könne nicht vorgeworfen werden, eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet zu haben. Da nach den Pflichtbeiträgen selbständiger Personen zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht gefragt worden sei, sei für die Kläger nicht erkennbar gewesen, dass solche hätten angegeben werden können. Nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) seien solche Pflichtbeiträge nur in Ausnahmefällen zu leisten.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
das angefochtenen Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 3. November 2008 aufzuheben, soweit diese den Antrag auf Änderung des Einkommensteuer-Bescheids 2005 vom 4. Dezember 2006 betreffen, und das FA zu verpflichten, diesen Bescheid in der Weise zu ändern, dass zusätzliche Altersvorsorgebeiträge von 759,20 € berücksichtigt werden.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kläger seien im Streitfall steuerlich beraten gewesen. Es könne erwartet werden, dass der steuerliche Berater seine Mandanten auf infolge einer Gesetzesänderung gegebene Abweichungen hinsichtlich der steuerlichen Abziehbarkeit von Aufwendungen hinweise. Es sei nicht unüblich, dass auch Selbständige Beiträge zur Rentenversicherung leisten müssten. Dies hätte der Steuerberater ansprechen müssen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird ‑‑soweit es das Streitjahr 2005 betrifft‑‑ aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht zur Beurteilung der Frage aus, ob das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO verpflichtet ist, den angestrebten Änderungsbescheid zu erlassen.
Steuerbescheide sind nach der vorstehend genannten Vorschrift zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden.
a) Nicht im Streit steht, dass die von der Klägerin im Streitjahr getragenen Aufwendungen für ihre Pflichtbeiträge als Selbstständige zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) dem FA bei Durchführung der ursprünglichen Einkommensteuer-Veranlagung für das Streitjahr nicht bekannt waren und daher Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gegeben sind. Unstreitig ist auch, dass die Berücksichtigung dieser Aufwendungen eine Verminderung der Einkommensteuer-Schuld zur Folge hätte.
b) Allein streitig ist das Vorliegen von grobem Verschulden. Dies setzt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Letztere ist dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264; vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379, und vom 16. September 2004 IV R 62/02, BFHE 207, 369, BStBl II 2005, 75, jeweils m.w.N. aus der BFH-Rechtsprechung).
c) Ob ein Beteiligter in dem genannten Sinn grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und Senatsurteil vom 6. Oktober 2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156; ebenfalls ständige Rechtsprechung).
d) Das FG hat angenommen, die Kläger hätten grob fahrlässig die von der Klägerin im Streitjahr als Selbstständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht angegeben. Zwar werde im Erklärungsformular für 2005 nicht nach solchen Beiträgen, sondern nur nach Pflichtbeiträgen von Arbeitnehmern und nach freiwillig geleisteten Beiträgen gefragt. In der Gesamtschau der anzugebenden Daten hätte sich den Klägern aber die steuerliche Relevanz der von der Klägerin geleisteten Pflichtbeiträge aufdrängen müssen.
aa) Diese Ausführungen des FG reichen zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus.
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dann nicht gegeben ist, wenn die Abgabe einer unvollständigen Steuererklärung allein auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht (Urteile vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80; in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Allerdings muss auch ein Steuerpflichtiger, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Fragen und Hinweise ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind (BFH-Urteile in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Auch muss der Steuerpflichtige sich ihm aufdrängenden Zweifelsfragen nachgehen (BFH-Urteil in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80).
Im Streitfall wurde im Steuererklärungsformular 2005 getrennt für einzelne Fallgruppen nach den im Jahr 2005 geleisteten Altersvorsorgebeiträgen gefragt. Nicht gefragt wurde jedoch nach von Selbstständigen geleisteten Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Demgemäß blieb im Streitfall nicht eine ausdrücklich gestellte Frage unbeantwortet. Das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt spricht jedenfalls im Ausgangspunkt gegen das Vorliegen von grobem Verschulden (BFH-Urteil in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264 und Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 173 Rz 116). Erst recht gilt dies, wenn wie im Streitfall alle anderen Arten von Altersvorsorgebeiträgen im Einzelnen abgefragt werden, da hierdurch der Eindruck erweckt werden könnte, die im Formular nicht erwähnten anderen Altersvorsorgebeiträge seien steuerlich irrelevant. Es wurde zudem weder vom FG festgestellt noch vom FA behauptet, dass das Merkblatt zur Steuererklärung 2005 Hinweise auf die hier in Frage stehenden Pflichtbeiträge Selbständiger enthalten habe, die die Kläger nicht berücksichtigt hätten.
bb) Unerheblich ist, dass in dem Steuererklärungsformular für das Folgejahr 2006 ausdrücklich Angaben zu den Pflichtbeiträgen Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung zu machen waren. Denn die Kläger hatten ihre Einkommensteuer-Erklärung bereits im Oktober 2006 abgegeben und den Einkommensteuer-Bescheid 2005 erhalten, so dass etwaige Erkenntnisse aufgrund des Erklärungsformulars für 2006 nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
cc) Angesichts dieser Umstände hätte das FG im Einzelnen darlegen müssen, aufgrund welcher individuellen beruflichen oder sonstigen Kenntnisse oder Erfahrungen die Kläger ohne Weiteres in der Lage sein mussten, die steuerliche Relevanz der in Frage stehenden Pflichtbeiträge zu erkennen. Das FG durfte sich nicht mit dem Hinweis begnügen, den Klägern sei die Beitragszahlung bekannt gewesen. Auch lässt sich das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit nicht damit begründen, die Kläger hätten die steuerliche Regelung über die Altersvorsorge im Grundsätzlichen gekannt.
Sofern das FG im 2. Rechtsgang Tatsachen feststellen sollte, aus denen zu schließen ist, dass für die Kläger die steuerliche Relevanz der zu beurteilenden Beiträge erkennbar war, wäre ein etwaiger Irrtum, diese Beiträge seien im konkreten Fall steuerlich ohne Auswirkung, unbeachtlich. Beauftragt ein Steuerpflichtiger zur Erstellung einer Steuererklärung einen Steuerberater, dann handelt er regelmäßig grob fahrlässig, wenn er diesem Unterlagen vorenthält, die steuerlich relevant sein können (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 4. Dezember 1990 II 117/89, Entscheidungen der Finanzgerichte 1991, 444).
Klarstellend weist der erkennende Senat darauf hin, dass es nicht von entscheidender Bedeutung ist, dass die Klägerin ihren Ehemann nicht über die geleisteten Zahlungen informiert hat. Sofern sich für sie aufgedrängt haben sollte, dass die in Frage stehenden Beiträge abziehbar sein könnten, wäre das bei ihr vorliegende grobe Verschulden im Rahmen der Zusammenveranlagung auch ihrem Ehemann zuzurechnen (BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 I R 62/95, BFHE 181, 252, BStBl II 1997, 115).
dd) Das FG wird auch zu prüfen haben, ob den steuerlichen Berater der Kläger ein grobes Verschulden trifft. Der vom Steuerpflichtigen beauftragte steuerliche Berater muss sich ebenso wie der Steuerpflichtige um eine sachgerechte und gewissenhafte Erfüllung der steuerlichen Erklärungspflicht bemühen. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht wäre den Klägern wie eigenes Verschulden zuzurechnen (BFH-Urteil in BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109).
Das FG wird insbesondere zu prüfen haben, ob das nachträgliche Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Rentenversicherungsbeiträge auf einer Verletzung der Pflicht des Steuerberaters beruht, die Kläger über die gesetzlichen Neuregelungen des AltEinkG zu informieren. Auch wird das FG untersuchen müssen, ob sich aufgrund der konkreten Einzelfallumstände dem steuerlichen Berater aufdrängen musste, die Klägerin könnte als Selbstständige gesetzlich rentenversicherungspflichtig gewesen sein und im Jahr 2005 entsprechende Aufwendungen getragen haben (zu den an einen Steuerberater zu stellenden Anforderungen vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 126 ff. i.V.m. Rz 112 f.).