BFH III. Senat
GG Art 17, FGO § 71 Abs 2, FGO § 76 Abs 1, FGO § 78 Abs 1, FGO § 82, FGO § 96 Abs 2, ZPO § 295 Abs 1, ZPO § 391
vorgehend FG München, 30. März 2010, Az: 10 K 158/09
Leitsätze
1. NV: Ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter muss wissen, dass ein Obsiegen in einem AdV-Verfahren den Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht präjudiziert. Das FG darf deshalb, ohne weitere Hinweise geben zu müssen, die Glaubwürdigkeit eines in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeugen verneinen, obgleich es u.a. aufgrund dessen eidesstattlicher Versicherung einem AdV-Antrag zu einem früheren Zeitpunkt entsprochen hatte .
2. NV: Die finanzgerichtliche Entscheidung, einen Zeugen nicht zu beeiden, ist vom BFH nur eingeschränkt daraufhin zu überprüfen, ob die Grenzen des Ermessens verkannt wurden .
3. NV: Zur Verwertung einer Petition im Rahmen der Beweiswürdigung .
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet und wird durch Beschluss zurückgewiesen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die von der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) geltend gemachten Zulassungsgründe liegen nicht vor oder wurden nicht in der nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO erforderlichen Weise dargelegt.
1. Sämtliche geltend gemachten Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen nicht vor.
a) Das Finanzgericht (FG) hat weder eine Überraschungsentscheidung getroffen noch auf sonstige Weise den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt.
aa) Der Anspruch auf rechtliches Gehör wird durch eine Überraschungsentscheidung verletzt, wenn das Gericht aufgrund von Gesichtspunkten entscheidet, mit denen ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, ohne zuvor darauf hinzuweisen und Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 27. Oktober 2008 XI B 202/07, BFH/NV 2009, 118; vom 19. Juli 2011 III S 41/10, BFH/NV 2011, 1902).
Die fachkundig vertretene Klägerin musste damit rechnen, dass das FG trotz ihres Obsiegens in zwei vorangegangenen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme zum Ergebnis der Klageabweisung kommen würde. Ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter kennt die erheblichen Unterschiede zwischen einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes als einem bloß summarischen Verfahren und dem Hauptsacheverfahren und er weiß deswegen, dass das Obsiegen in einem Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung (AdV) den Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht präjudiziert. Dies folgt bereits aus der rechtlichen Qualifikation des AdV-Antrages als eines Instruments des vorläufigen Rechtsschutzes. So durfte das FG im Streitfall, ohne weitere Hinweise geben zu müssen, die Glaubwürdigkeit des in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeugen verneinen, obgleich es u.a. aufgrund dessen eidesstattlicher Versicherung dem AdV-Antrag der Klägerin wegen ernstlicher Zweifel in tatsächlicher Hinsicht entsprochen hatte. Das FG hatte damit entgegen der Auffassung der Klägerin auch nicht ‑‑ohne vorherigen Hinweis‑‑ seine Rechtsauffassung geändert, sondern seine Auffassung lediglich den unterschiedlichen rechtlichen und tatsächlichen Maßstäben angepasst, die für Entscheidungen im Hauptsacheverfahren einerseits und im vorläufigen Rechtsschutzverfahren andererseits gelten. Da die Würdigung der Aussage des Zeugen von zentraler Bedeutung für den Ausgang des Verfahrens war, musste ein kundiger Prozessbeteiligter auch von sich aus in Betracht ziehen, die Beeidigung des Zeugen oder die Erhebung anderer Beweise zu beantragen, um den Beweiswert der Aussage zu steigern und auch im Übrigen die Richtigkeit der eigenen Tatsachenbehauptungen zu belegen. Dazu bestand im Streitfall schon deshalb Anlass, weil ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung die Vertreterin der Familienkasse die Glaubwürdigkeit der Aussage durchaus angezweifelt hatte.
bb) Der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör ist auch nicht dadurch verletzt worden, dass das FG das Urteil auf Tatsachen gestützt hätte, zu denen sich die Klägerin nicht äußern konnte (§ 96 Abs. 2 FGO). Das gilt insbesondere für die Unterlagen über die von der Klägerin eingelegte Petition an den Deutschen Bundestag. Diese befanden sich in der Kindergeldakte. Diese Akte betrifft den Streitfall und ist demnach gemäß § 71 Abs. 2 FGO dem Gericht vorzulegen. Nach ständiger BFH-Rechtsprechung ist das FG nicht gehalten, den Beteiligten mitzuteilen, welche Tatsachen die nach § 71 Abs. 2 FGO vorgelegten Akten enthalten und wie es sie zu verwerten gedenkt; die Klägerin hatte die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör dadurch zu verschaffen, dass sie gemäß § 78 Abs. 1 FGO Akteneinsicht nimmt und ggf. anschließend zum Akteninhalt Stellung bezieht (vgl. BFH-Urteil vom 12. August 1986 VII R 138/83, BFH/NV 1987, 219; BFH-Beschlüsse vom 30. April 1998 III B 3/98, BFH/NV 1999, 180; vom 9. Februar 2009 VIII B 53/08, BFH/PR 2009, 317).
b) Soweit die Klägerin rügt, das FG habe den Zeugen unbeeidigt gelassen, liegt darin kein Verstoß gegen § 82 FGO i.V.m. § 391 der Zivilprozessordnung (ZPO). Danach ist ein Zeuge zu beeidigen, wenn das Gericht die Beeidigung mit Rücksicht auf die Bedeutung der Aussage oder zur Herbeiführung einer wahrheitsgemäßen Aussage für geboten erachtet und die Parteien auf die Beeidigung nicht verzichten. Der BFH darf die gerichtliche Entscheidung, nicht zu beeiden, nur eingeschränkt daraufhin überprüfen, ob sie die Grenzen ihres Ermessens verkannt oder missbräuchlich außer Acht gelassen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 13. März 1995 XI B 73/94, BFH/NV 1995, 906; vom 10. März 2009 IX B 197/08, BFH/NV 2009, 1129). Im Streitfall sind die Voraussetzungen des § 391 ZPO schon nicht erfüllt, weil beide Beteiligten ausweislich des Terminsprotokolls keine Anträge zur Beeidigung gestellt, auf die Beeidigung also übereinstimmend verzichtet haben. Zudem handelt es sich bei dem Verfahrensfehler der ermessensfehlerhaft unterbliebenen Zeugenbeeidigung um einen verzichtbaren Mangel i.S. des § 295 Abs. 1 ZPO. Die Beteiligten müssen deshalb ‑‑um ihr dahin gehendes Rügerecht nicht zu verlieren‑‑ das Unterlassen einer ihrer Ansicht nach gebotenen Vereidigung grundsätzlich spätestens in der auf die Beweisaufnahme folgenden mündlichen Verhandlung rügen. § 295 Abs. 1 ZPO gilt auch im FG-Prozess mit der Folge, dass der ungerügt gebliebene Verfahrensmangel nach § 155 FGO grundsätzlich weder mit der Revision noch ‑‑wie hier‑‑ mit der Nichtzulassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann (vgl. BFH-Beschluss vom 30. Juli 2002 X B 40/02, BFH/NV 2003, 56). Die Klägerin hat eine Rüge in der mündlichen Verhandlung nicht erhoben.
c) Eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung und damit ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 FGO ist dem FG nicht vorzuhalten.
Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es muss zur Herbeiführung der Spruchreife alles aufklären, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist. Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grundsätzlich weder ablehnen noch übergehen. Es muss zudem von sich aus allen Tatsachen und verfügbaren Beweismitteln nachgehen, die sich ihm in Anbetracht der Umstände des Einzelfalles hätten aufdrängen müssen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 20. Juni 2011 X B 152/09, BFH/NV 2011, 1890; vom 5. August 2011 III B 144/10, BFH/NV 2011, 1915, jeweils m.w.N.).
aa) Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das FG den Umstand, dass die Klägerin aus der Zusendung zweier Schreiben den subjektiven Eindruck gewonnen haben will, dass nur der Kindergeldanspruch für die Zukunft betroffen sei, aufgeklärt. Die Feststellung ist auf S. 12 des Urteils ausdrücklich getroffen worden, so dass weitere Ermittlungen nicht mehr durchzuführen waren. Das FG hat der Klägerin ihr Vorbringen zum "subjektiven Eindruck" allerdings nicht geglaubt. Dies zeigt, dass mit der Beschwerde nicht eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung, sondern eine fehlerhafte Würdigung der festgestellten Tatsachen geltend gemacht wird. Auch die weiteren Ausführungen in der Beschwerdeschrift, die sich mit den der Klägerin im Dezember 2007 und im ersten Halbjahr 2008 zugegangenen oder nicht zugegangenen Schreiben befassen, stellen Angriffe gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung dar. Da aber die Sachverhalts- und Beweiswürdigung revisionsrechtlich dem materiellen Recht zuzuordnen ist, stellen etwaige Fehler keine Verfahrensmängel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar und können die Revisionszulassung grundsätzlich nicht rechtfertigen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 1. Juni 2010 V B 13/09, BFH/NV 2010, 2084; vom 5. August 2010 VII B 259/09, BFH/NV 2010, 2103).
bb) Es musste kein Beweis erhoben werden, ob der Absendevermerk auf dem streitigen Kindergeldaufhebungsbescheid "tatsächlich ordnungsgemäß zustande gekommen ist - oder ob er nur zur Vorlage für den Prozess von den Verantwortlichen der Beklagten nachgefertigt wurde". Die fachkundig vertretene Klägerin hat, obgleich in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich über den Vermerk gesprochen wurde, keinen Beweisantrag gestellt. Dem FG musste sich eine Beweiserhebung auch nicht aufdrängen. Denn für eine manipulatorische Vorgehensweise der Familienkasse gab es keine Anhaltspunkte.
2. Soweit die Klägerin in ihrer umfangreichen Beschwerdeschrift die grundsätzliche Bedeutung verschiedener Rechtsfragen und die mehrfache vermeintliche Abweichung des FG-Urteils von Entscheidungen anderer Gerichte geltend macht, genügen die diesbezüglichen Ausführungen durchweg nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Darlegung von Revisionszulassungsgründen.
a) Macht der Beschwerdeführer geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), so muss er zunächst eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalls erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen. Dafür ist erforderlich, dass er die entscheidungserhebliche Rechtsfrage hinreichend konkretisiert. Des Weiteren muss in der Beschwerdebegründung schlüssig und substantiiert unter Auseinandersetzung mit den zur aufgeworfenen Rechtsfrage in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen dargetan werden, weshalb die für bedeutsam gehaltene Rechtsfrage im Allgemeininteresse klärungsbedürftig und im Streitfall klärbar ist. Dazu muss dargelegt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig ist (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 22. März 2011 X B 151/10, BFH/NV 2011, 1165; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 32, m.w.N.).
aa) Die Klägerin hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, ob das FG ein Petitionsschreiben zu ihrem Nachteil verwerten darf, ohne ihr vorher Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; hierdurch werde das Petitionsrecht des Art. 17 des Grundgesetzes (GG) beeinträchtigt. Es gelte der Grundsatz, dass eine Petition niemals dem Petenten zum Nachteil gereichen dürfe. Die Beschwerdeschrift enthält keine Ausführungen zum Schutzbereich des Art. 17 GG, zu Eingriffen in das Grundrecht und deren etwaiger verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Ferner fehlt jegliche Auseinandersetzung mit der diesbezüglich ergangenen Rechtsprechung und Literatur. Es wäre darzulegen gewesen, ob das Grundrecht im Wesentlichen nur einen Leistungsanspruch (auf Annahme und Bescheidung der Petition) gewährt oder auch eine abwehrrechtliche Komponente aufweist (hierzu Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 11. Aufl., Art. 17 Rz 1 und 10). Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), wonach das Grundrecht zwar nicht unter einem ausdrücklichen Schrankenvorbehalt steht, seiner Ausübung allerdings Schranken durch die Verfassung selbst gezogen werden (vgl. BVerfG-Beschluss vom 12. Dezember 1990 1 BvR 839/90, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 1475), wurde in der Beschwerdeschrift nicht ausgewertet. In diesem Zusammenhang hätte auch die naheliegende Frage angesprochen werden müssen, ob nicht die Verpflichtung des Gerichts zur Justizgewährung, die eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstands erfordert (vgl. Jarass/Pieroth, a.a.O., Art. 20 Rz 91, m.w.N.), und zur Amtsermittlung, die nicht zuletzt der Durchsetzung der Besteuerungsgleichheit dient (vgl. Seer in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 76 FGO Rz 4), verfassungsrechtliche Belange darstellen, die etwaige Beschränkungen des Petitionsgrundrechts rechtfertigen können.
Sollte das Vorbringen der Klägerin dahin zu verstehen sein, dass ihres Erachtens die Verwertung der Petition zwar grundsätzlich zulässig, jedoch nur nach Gewährung rechtlichen Gehörs möglich ist, fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit, weil sich die Antwort auf diese Frage unmittelbar aus dem Gesetz ergibt (§ 96 Abs. 2 FGO).
bb) Soweit die Klägerin der Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beimisst, ob in einem Falle, in dem zwar der Zugang des Bescheides, aber nicht der Zugangszeitpunkt feststeht, die Nachweispflicht der Behörde gegeben ist, wenn das entsprechende Vorbringen des Steuerpflichtigen zwar unglaubhaft, aber nicht widerlegbar ist, fehlt es an der substantiierten Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Denn die Klägerin hat lediglich ausgeführt, dass höchstrichterliche Rechtsprechung zu diesem Thema nicht existiert. Damit wird nach ständiger Rechtsprechung die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage aber nicht ausreichend dargetan (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 34, m.w.N.).
cc) Aus demselben Grund kommt die Revisionszulassung auch im Hinblick auf weitere Rechtsfragen, die insbesondere auf S. 43 f. der Beschwerdeschrift aufgeworfen werden, nicht in Betracht.
b) Wird die Zulassung der Revision wegen Divergenz begehrt, so sind, um den Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO zu genügen, aus der Vorentscheidung einerseits und dem Urteil, von dem das FG abgewichen sein soll, andererseits, abstrakte Rechtssätze herauszuarbeiten und einander in der Weise gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom 7. September 2005 IV B 67/04, BFH/NV 2006, 234; vom 20. Juli 2011 IV B 19/10, BFH/NV 2011, 2077). Eine schlüssige Rüge setzt weiter die Darlegung voraus, dass die Entscheidungen zu gleichen, vergleichbaren oder gleichgelagerten Sachverhalten ergangen sind (z.B. BFH-Beschluss vom 22. Juli 2008 II B 47/07, BFH/NV 2008, 1846).
Diesen Anforderungen genügen die Darlegungen, insbesondere auf S. 43 f. der Beschwerdeschrift, nicht.