BFH III. Senat
EStG §§ 62ff, EStG § 62, EStG 65 Abs 1 S 1, EWGV 1408/71 Art 1 Buchst a, EWGV 1408/71 Art 1 Buchst h, EWGV 1408/71 Art 2 Abs 1, EWGV 1408/71 Art 13 Abs 2 Buchst a, EWGV 1408/71 Art 13 Abs 2 Buchst b, EWGV 1408/71 Art 13 Abs 2 Buchst f, EWGV 1408/71 Art 76, EWGV 1408/71 Anh I Teil I Buchst D, EWGV 574/72 Art 10
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 03. März 2008, Az: 2 K 2158/07
Leitsätze
1. NV: Der Wohnort einer Person bestimmt sich im Rahmen der VO Nr. 1408/71 danach, wo sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen befindet. Insoweit sind die familiären Verhältnisse des Arbeitnehmers bzw. Selbständigen sowie die Gründe, die ihn zu der Abwanderung bewogen haben, und die Art der Tätigkeit zu berücksichtigen.
2. NV: § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG verlangt nicht, dass der Empfänger der dort genannten Leistungen oder Zahlungen derjenige sein muss oder die Ansprüche demjenigen zustehen müssen, der ansonsten nach den §§ 62, 63 EStG kindergeldberechtigt wäre. Das Gesetz stellt allein darauf ab, ob die dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen für das betreffende Kind erbracht worden sind, unabhängig davon, wer der Empfänger der Leistung ist.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige und Mutter von drei im Streitzeitraum noch minderjährigen Kindern. Sie wohnt seit November 2005 in Deutschland und betrieb dort im Streitzeitraum einen Gastronomiedienstleistungsbetrieb. Ausweislich eines Schreibens des Marschallamtes der Wojewodschaft … vom … waren der Klägerin in Polen für die Zeit vom … bis … Familienleistungen bewilligt worden; mit Beschluss vom … wurde die Bewilligung vom … bis … jedoch aufgehoben und mit Beschluss vom … die geleisteten Familienleistungen für die Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. März 2007 zurückgefordert. Darüber hinaus erhielt die Klägerin bis zum … einen Unterhaltsvorschuss in Höhe von monatlich 250 Zloty pro Kind.
Den Antrag der Klägerin, ihr für ihre drei Kinder Kindergeld zu gewähren, lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) im Februar 2007 ab, den hiergegen gerichteten Einspruch wies sie durch Einspruchsentscheidung vom Juni 2007 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen gerichteten Klage der Klägerin, mit der sie die Festsetzung von Kindergeld für ihre drei Kinder ab September 2006 begehrte, mit Urteil vom 4. März 2008 statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der nach den §§ 62, 63 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) gegebene Anspruch der Klägerin sei nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG suspendiert, da das der Klägerin in Polen gewährte Kindergeld zumindest für die Zeit vom 1. September 2006 bis zum 31. März 2007 zurückgefordert worden sei und es sich bei dem in Polen bewilligten Unterhaltsvorschuss nicht um eine dem Kindergeld vergleichbare Leistung handele. Dem Anspruch der Klägerin stünden auch europarechtliche Vorschriften nicht entgegen, da diese hier nicht zur Anwendung kämen. Nach Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und b der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 629/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2006 (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2006 Nr. L 114, S. 1), unterlägen Arbeitnehmer und Selbständige grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Staates der Europäischen Union (EU), in dem sie ihre Tätigkeit ausübten. Selbst wenn man zugunsten der Familienkasse davon ausginge, dass die Klägerin die Voraussetzungen des Art. 1 Buchst. a Ziff. i der VO Nr. 1408/71 durch den Umstand erfülle, dass sie in Polen nach wie vor sozialversichert sei, die Klägerin mithin qua Definition als Arbeitnehmerin bzw. Selbständige anzusehen wäre, führe die Anwendung der VO Nr. 1408/71 nicht dazu, dass der Kindergeldanspruch nach polnischem Recht zu beurteilen sei, denn die Klägerin sei seit … 2005 unstreitig in Polen nicht in einem Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt gewesen und habe dort auch keine selbständige Tätigkeit ausgeübt (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71). Soweit sie seit … 2005 im Inland eine selbständige Tätigkeit ausübe, komme eine Anwendung der VO Nr. 1408/71 nicht in Betracht, da dies keine Tätigkeit als Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a Ziff. i der VO Nr. 1408/71 darstelle.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung der Art. 1, 2 und 13 der VO Nr. 1408/71.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Denn dessen bisherige Feststellungen ermöglichen keine abschließende Entscheidung dazu, ob der Klägerin für den Streitzeitraum ein Kindergeldanspruch für ihre drei Kinder zusteht.
1. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) lagen im Streitzeitraum zwar die Voraussetzungen der §§ 62, 63 EStG vor. Der danach grundsätzlich bestehende Kindergeldanspruch der Klägerin könnte jedoch nach vorrangigen unionsrechtlichen Vorschriften (dazu unten 2. und 3.) oder nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein (dazu unten 4.).
2. Der geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld könnte durch die VO Nr. 1408/71 und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO Nr. 629/2006, ausgeschlossen sein.
a) Auf den Streitfall sind noch diese Verordnungen anzuwenden. Die VO Nr. 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ‑‑VO Nr. 883/2004‑‑ (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1). Letztere gilt jedoch nach ihrem Art. 91 Abs. 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu ihrer Durchführung erlassenen Verordnung. Diese ‑‑die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 ‑‑VO Nr. 987/2009‑‑ (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1)‑‑ trat nach ihrem Art. 97 Satz 2 erst am 1. Mai 2010 in Kraft. Die VO Nr. 574/72 wurde nach Art. 96 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 erst mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die VO Nr. 1408/71 und die hierzu ergangene VO Nr. 574/72.
b) Als Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u Ziff. i der VO Nr. 1408/71 unterfällt das Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71 ihrem sachlichen Geltungsbereich (z.B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ‑‑ZESAR‑‑ 2011, 86 Rdnr. 33).
c) Die bisherigen Feststellungen des FG reichen jedoch nicht aus, um beurteilen zu können, ob die Klägerin auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfällt.
aa) Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 wird im Rahmen der allgemeinen Vorschriften des Titels I in Art. 2 der VO Nr. 1408/71 festgelegt. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung insbesondere für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.
Die in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe "Arbeitnehmer" und "Selbständiger" werden in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 definiert. Sie bezeichnen jede Person, die im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit gegen die in dieser Vorschrift angegebenen Risiken unter den dort genannten Voraussetzungen versichert ist. Eine Person besitzt somit z.B. die Arbeitnehmereigenschaft i.S. der VO Nr. 1408/71, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (z.B. EuGH-Urteile vom 7. Juni 2005 C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, Slg. 2005, I-5049 Rdnrn. 29 ff.; vom 10. März 2011 C-516/09, Borger, Europäische Zeitung für Wirtschaftsrecht 2011, 436 Rdnrn. 28 ff.). Es ist nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit maßgeblich, sondern der Versichertenstatus (Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 72 VO 1408/71 Rz 5). Die VO Nr. 1408/71 soll also grundsätzlich für alle Personen gelten, die im Rahmen der für Arbeitnehmer und Selbständige bereitgestellten Systeme sozialer Sicherheit oder aufgrund der Ausübung einer Arbeitnehmer- oder Selbständigentätigkeit versichert sind (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 3).
bb) Für die Frage, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist, kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer bzw. Selbständige auch die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. D aufgeführt sind. Denn die in dieser Bestimmung enthaltenen Einschränkungen gelten, wie sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt ("Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, ..."), nur für die Vorschriften des Titels III Kapitel 7 der VO Nr. 1408/71, d.h. bei Anwendung ihrer Art. 72 ff. (z.B. EuGH-Urteile vom 12. Mai 1998 C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691 Rdnrn. 35 ff., 43 f., und vom 4. Mai 1999 C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rdnrn. 89 ff.; ferner EuGH-Urteile vom 30. Januar 1997 C-4/95, 5/95, Stöber und Pereira, Slg. 1997, I-511 Rdnrn. 26 ff.; vom 12. Juni 1997 C-266/95, Garcia, Slg. 1997, I-3279 Rdnrn. 21 ff., und vom 5. März 1998 C-194/96, Kulzer, Slg. 1998, I-895 Rdnrn. 35 f., jeweils zu Art. 73 der VO Nr. 1408/71; ferner EuGH-Urteil Schwemmer in ZESAR 2011, 86 Rdnr. 34; Vorlagebeschluss des Senats vom 30. Oktober 2008 III R 92/07, BFHE 223, 358, BStBl II 2009, 923 Rz 16 ff.). Das setzt voraus, dass die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 bereits bejaht wurde.
Sollte sich dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13. August 2002 VIII R 54/00 (BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869) zum Anwendungsbereich des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 etwas anderes entnehmen lassen, könnte der Senat dem aus den oben dargelegten Gründen nicht folgen. Eine Anfrage beim VIII. Senat wäre schon deshalb nicht erforderlich, weil dieser Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan des BFH für Fragen betreffend Kindergeld (§§ 62 bis 78 EStG) nicht mehr zuständig ist.
cc) Erforderlich, aber auch ausreichend für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU versichert ist. Dass eine Person die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in Bezug auf ihre in Deutschland ausgeübte Tätigkeit nicht erfüllt, bedeutet daher noch nicht, dass sie dem persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung nicht unterfällt, denn dieser kann aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats eröffnet sein.
Die VO Nr. 1408/71 gilt personen- und nicht tätigkeitsbezogen. Ihr Ziel ist die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der EU zu- und abwandern, soll jeweils das System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten, so dass eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 8). Um dieses Ziel zu erreichen, ist daher in einem ersten Schritt zu ermitteln, ob eine Person die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften (irgend)eines, ggf. auch mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (vgl. auch EuGH-Urteil Sürül in Slg. 1999, I-2685 Rdnr. 85). Ist danach der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für eine Person eröffnet, ist in einem zweiten Schritt das auf sie anzuwendende Recht nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu bestimmen.
dd) Danach geht das FG zwar zu Recht davon aus, dass die Klägerin, die in Deutschland nicht versicherungspflichtig und auch nicht versichert ist, insoweit nicht als Arbeitnehmerin oder Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt.
Nicht gefolgt werden kann dem FG jedoch insoweit, als es die Frage, ob die Klägerin ggf. wegen einer in Polen bestehenden Versicherung vom persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst wird, mit der Begründung hat dahinstehen lassen, dass auch in diesem Fall ihr Kindergeldanspruch nicht nach polnischem Recht zu beurteilen wäre. Nach den Feststellungen des FG war die Klägerin seit … 2005 in Polen zwar weder abhängig beschäftigt noch hat sie dort eine selbständige Tätigkeit ausgeübt. Selbst wenn man deshalb ‑‑wie das FG‑‑ davon ausginge, dass auf sie polnisches Recht nicht nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a oder b der VO Nr. 1408/71 anzuwenden wäre, könnte sich die Anwendung polnischen Rechts jedoch aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der VO Nr. 1408/71 ergeben. Nach dieser Bestimmung unterliegt eine Person, die den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht weiterhin unterliegt, ohne dass die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats nach einer der anderen Bestimmungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 auf sie anwendbar würden, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt. Den Begriff "Wohnort" definiert Art. 1 Buchst. h der VO Nr. 1408/71 als den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts. Der Wohnort einer Person bestimmt sich im Rahmen der VO Nr. 1408/71 danach, wo sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen befindet. Insoweit sind die familiären Verhältnisse des Arbeitnehmers bzw. Selbständigen sowie die Gründe, die ihn zu der Abwanderung bewogen haben, und die Art der Tätigkeit zu berücksichtigen (z.B. EuGH-Urteil vom 11. November 2004 C-372/02, Adanez-Vega, Slg. 2004, I-10761 Rdnr. 37, zum Begriff des "Wohnens" in Art. 71 der VO Nr. 1408/71, m.w.N.; vgl. ferner Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 4. Aufl., Art. 1 Rz 29 ff.). Es ist danach jedenfalls nicht ausgeschlossen und vom FG auch nicht anderweitig festgestellt, dass die Klägerin, deren im Streitzeitraum noch minderjährige Kinder seinerzeit in Polen lebten, i.S. des Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der VO Nr. 1408/71 nicht in Deutschland, sondern in Polen "wohnte".
Entgegen der Auffassung des FG kommt es also darauf an, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für die Klägerin aufgrund einer Versicherung in Polen eröffnet ist. Die hierfür erforderlichen Feststellungen fehlen jedoch. Anders als die Familienkasse meint, hat das FG allenfalls festgestellt, dass die Klägerin im Streitzeitraum in Polen weiterhin sozialversichert gewesen sei. Eine solche Feststellung allein ermöglicht jedoch noch keine Beurteilung, ob die Klägerin deshalb als Arbeitnehmerin bzw. Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt. Hierzu bedarf es vielmehr konkreter Feststellungen zum polnischen System der sozialen Sicherheit und dem konkreten Versichertenstatus der Klägerin im Rahmen dieses Systems.
3. Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen des FG ergeben, dass die Klägerin vom persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst wird, ist das auf sie anzuwendende Recht nach den Vorschriften des Titels II dieser Verordnung (Art. 13 ff.) zu bestimmen.
a) Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird (so z.B. in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71), bestimmt sich dies entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern ‑‑entsprechend dem insoweit eindeutigen Wortlaut der jeweiligen Bestimmung‑‑ danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt.
Anzuknüpfen ist dabei allerdings nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt. Die Vorschriften des Titels II der VO Nr. 1408/71 beziehen sich zwar ihrem Wortlaut nach auf Personen, die abhängig beschäftigt sind bzw. eine selbständige Tätigkeit ausüben, und nicht auf Arbeitnehmer oder Selbständige. Eine kohärente Auslegung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 und des durch sie geschaffenen Systems von Kollisionsregeln gebietet es aber, die fraglichen Begriffe des Titels II dieser Verordnung im Lichte der Definitionen ihres Art. 1 Buchst. a auszulegen (vgl. EuGH-Urteil vom 30. Januar 1997 C-221/95, Hervein, Slg. 1997, I-609 Rdnrn. 19 f.). Für die Klägerin kann sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften daher nicht aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 ergeben, denn hinsichtlich ihrer in Deutschland ausgeübten Tätigkeit gilt sie nicht als Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71.
b) Sollte die Prüfung der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 gleichwohl ergeben, dass auf die Klägerin deutsche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, müsste noch ermittelt werden, ob und ggf. für welche Monate des Streitzeitraums für ihre drei Kinder ein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestand (vgl. dazu auch unten 4.). Soweit ein solcher Anspruch bestand, wäre die dann gegebene Anspruchskumulierung nach den Antikumulierungsvorschriften der VO Nr. 1408/71 bzw. der VO Nr. 574/72 zu klären. Dabei wären bei Anwendung des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 bzw. des Art. 10 der VO Nr. 574/72 die Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 zu berücksichtigen.
c) Sollten nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 die deutschen Rechtsvorschriften nicht anzuwenden sein, stellte sich die Frage, ob Deutschland als der nach der VO Nr. 1408/71 dann nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl befugt wäre, Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu zahlen, und ob in einem solchen Fall der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unionsrechtliche Vorschriften entgegenstünden. Insoweit handelte es sich um die gleichen Fragestellungen, die bereits Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 21. Oktober 2010 III R 5/09 (BFHE 231, 183) und III R 35/10 (BFHE 231, 194) sind, so dass eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in den bei diesem anhängigen Verfahren C-611/10 und C-612/10 in Betracht kommen könnte.
4. Sollte der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für die Klägerin nicht eröffnet sein, richtete sich ihr Kindergeldanspruch allein nach den §§ 62 ff. EStG, so dass auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu prüfen wäre. Nach dieser Bestimmung wird kein Kindergeld für ein Kind gezahlt, für das dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.
Entgegen der Auffassung des FG kann dabei allein aus dem Umstand, dass ausweislich des Schreibens des Marschallamtes der Wojewodschaft vom … die in Polen der Klägerin u.a. für den Zeitraum September 2006 bis März 2007 gewährten Familienleistungen zurückgefordert wurden, nicht bereits geschlossen werden, dass die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG für den Streitzeitraum ab September 2006 nicht vorliegen.
§ 65 Abs. 1 Satz 1 EStG verlangt nicht, dass der Empfänger der dort genannten Leistungen oder Zahlungen derjenige sein muss oder die Ansprüche demjenigen zustehen müssen, der ansonsten ‑‑d.h. ohne die Ausschlusstatbestände des § 65 Abs. 1 Satz 1 EStG‑‑ nach den §§ 62, 63 EStG kindergeldberechtigt wäre. Auch § 65 Abs. 1 Satz 2 EStG enthält eine derartige Einschränkung nicht. Das Gesetz stellt vielmehr allein darauf ab, ob die dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen für das betreffende Kind erbracht worden sind, unabhängig davon, wer der Empfänger der Leistung ist (z.B. BFH-Urteil vom 25. März 2003 VIII R 95/02, BFH/NV 2003, 1306; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommen-steuerrecht, Kommentar, § 65 Rz 26, 29). Allein aus dem Umstand, dass polnische Familienleistungen von der Klägerin zurückgefordert wurden, ergibt sich daher noch nicht, dass für die Kinder der Klägerin in Polen kein Anspruch auf Familienleistungen besteht. Vielmehr kann die Rückforderung auch gerade deshalb erfolgt sein, weil die entsprechende Familienleistung einer anderen Person, z.B. dem Vater der Kinder, zusteht. Dass die Leistungen von der Klägerin zurückgefordert wurden, weil in Polen für ihre Kinder überhaupt kein Anspruch auf Familienleistungen besteht, hat weder das FG festgestellt, noch lässt sich dies dem vom FG in Bezug genommenen Schreiben des Marschallamtes der Wojewodschaft vom … entnehmen. Sollte es für die Entscheidung des FG auf das (Nicht-)Bestehen eines Anspruchs auf polnische Familienleistungen ankommen, wären also auch insoweit noch Feststellungen erforderlich.