BFH III. Senat
SozSichAbk TUR Art 2 Abs 1 Nr 1 Buchst e, SozSichAbk TUR Art 4 Buchst a, SozSichAbk TUR Art 33 Abs 1 S 1, SozSichAbk TUR Art 33 Abs 2, EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1 S 3, EStG VZ 2007
vorgehend FG Düsseldorf, 20. Juli 2010, Az: 15 K 4251/09 Kg,AO
Leitsätze
Ein deutscher Arbeitnehmer türkischer Abstammung, der im Inland beschäftigt ist und auch dort seinen Wohnsitz hat, kann für seine in der Türkei lebenden Kinder kein Kindergeld aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit beanspruchen .
Tatbestand
I.
Der türkischstämmige Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Vater dreier ‑‑im Streitzeitraum‑‑ minderjähriger Söhne. Er ist in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt und wohnt auch im Inland. Er ist deutscher Staatsangehöriger. Die Kinder leben seit den Sommerferien 2007 mit ihrer Mutter in der Türkei. Dort haben sie seitdem ihren Wohnsitz. In Deutschland halten sie sich nur noch gelegentlich im Rahmen von Besuchen auf.
Als die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) vom Wegzug der Kinder und der Mutter erfuhr, hob sie die Kindergeldfestsetzung ab August 2007 auf und forderte zugleich das bereits gezahlte Kindergeld zurück.
Während der Einspruch erfolglos blieb, gab das Finanzgericht (FG) dem Kläger zu einem geringen Teil Recht. Es ging davon aus, dass diesem nach Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit ‑‑SozSichAbk Türkei‑‑ (BGBl II 1965, 1169, BGBl II 1972, 1, BGBl II 1975, 373, BGBl II 1986, 1038) Kindergeld in Höhe der in Absatz 2 dieser Vorschrift aufgeführten Sätze zustehe. Für einen weiter gehenden Anspruch fehle die Rechtsgrundlage.
Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, dass ihm Kindergeld in Höhe der Beträge des § 66 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) zu gewähren sei.
Das FG-Urteil beruhe auf einer unzutreffenden Auslegung des Art. 33 SozSichAbk Türkei. Dem FG sei zunächst darin zu folgen, dass das Abkommen auch auf deutsche Arbeitnehmer türkischer Herkunft Anwendung finde, da dem Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 SozSichAbk Türkei keine Einschränkung hinsichtlich der Nationalität zu entnehmen sei. Art. 33 Abs. 1 SozSichAbk Türkei regele die Anspruchsgrundlagen für die Gewährung des Kindergeldes. Sein Anspruch auf Zahlung des vollen Kindergeldes ergebe sich allein aus diesem Absatz. Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei ergänze den Absatz 1 des Art. 33 SozSichAbk Türkei nur im Hinblick auf die Höhe der Kindergeldsätze für "türkische Arbeitnehmer", beeinflusse aber nicht den sich aus Absatz 1 des Art. 33 SozSichAbk Türkei ergebenden grundsätzlichen Anspruch. Für dieses Ergebnis spreche auch, dass im ursprünglichen Abkommen vom 30. April 1964 der Absatz 2 des Art. 33 SozSichAbk Türkei nicht existiert habe, Kindergeld also unabhängig von der Staatsangehörigkeit mit den gewöhnlichen Sätzen zu zahlen gewesen sei. Der Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei sei zudem dynamisch auszulegen. Die Türkei sei EU-Beitrittskandidat. Zwischenzeitlich seien die sozialrechtlichen Regelungen insbesondere durch koordinationsrechtliche Regeln des EG-Rechts überformt bzw. überlagert worden. Nach Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit seien im Streitfall die vollen Kindergeldleistungen zu zahlen. Dafür spreche auch, dass die im streitgegenständlichen Abkommen getroffenen Bestimmungen nur insoweit rechtsgültig seien, als sie mit den Anforderungen des europäischen Rechts im Einklang stünden. So sei das Gebot der Gleichbehandlung türkischer Staatsangehöriger mit EU-Bürgern zu beachten. Dies gelte erst recht für einen deutschen Staatsbürger mit türkischer Herkunft. Schließlich werde Art. 3 des Grundgesetzes (GG) verletzt, wenn auf der einen Seite dem deutschen Arbeitnehmer nach den Regelungen des EStG Kindergeld gewährt werde, eine ebensolche Gewährung dem Arbeitnehmer ausländischer Herkunft für seine sich im Ausland aufhaltenden Kinder nach dem SozSichAbk Türkei nur in geringerem Maße zugesprochen werde.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), das Urteil der Vorinstanz dahingehend abzuändern, dass ihm Kindergeld nach dem SozSichAbk Türkei statt lediglich in Höhe von 5,11 € für H, 12,78 € für M sowie 30,68 € für B ab August 2007 in voller Höhe gewährt wird.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass dem Kläger weder nach dem EStG noch nach dem SozSichAbk Türkei Kindergeld zustehe. Wegen des Fehlens einer allgemeinen Kindergeldgewährung in der Türkei regele dieses Abkommen allein den Anspruch türkischer Arbeitnehmer im Hinblick auf die deutschen Leistungen. Art. 33 SozSichAbk Türkei sei im Wesentlichen deshalb eingeführt worden, um den angeworbenen türkischen Arbeitnehmern einen Anspruch auf das deutsche Kindergeld für ihre in der Türkei lebenden Kinder zu verschaffen. Die Frage, wie der einzelne Staat die Ansprüche seiner eigenen Staatsangehörigen, die im eigenen Staatsgebiet beschäftigt seien, organisiere, sei nicht Gegenstand dieses Abkommens. Da der Kläger Deutscher sei und einen Anspruch auf deutsche Familienleistungen geltend mache, sei dieses Abkommen nicht anwendbar.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet. Dem Kläger steht weder nach §§ 62 ff. EStG noch nach dem SozSichAbk Türkei ein Kindergeldanspruch zu.
1. Nach zutreffender Entscheidung des FG hat der Kläger für die Zeit ab August 2007 keinen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG, da die Kinder im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.
a) Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1 Satz 3 EStG steht demjenigen, der ‑‑wie der Kläger‑‑ einen inländischen Wohnsitz hat, Kindergeld nur für die Kinder zu, die im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Die Türkei zählt nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten.
b) Gegen die im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegende Beurteilung der Frage des Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthalts durch das FG hat der Kläger keine Revisionsrügen erhoben. Rechtsfehler sind auch im Übrigen nicht ersichtlich (zur insoweit eingeschränkten Prüfungskompetenz des Revisionsgerichts vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 15. Juli 2010 III R 6/08, BFHE 230, 545, BFH/NV 2011, 116).
2. Dem Kläger steht auch unter Berücksichtigung der Regelungen in dem SozSichAbk Türkei kein Anspruch auf Kindergeld zu.
a) Nach Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e SozSichAbk Türkei bezieht sich das Abkommen, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf die deutschen Rechtsvorschriften über das Kindergeld für Arbeitnehmer. Soweit dieses Abkommen nichts anderes bestimmt, gilt es gemäß Art. 3 Buchst. a SozSichAbk Türkei für Staatsangehörige der Vertragsparteien. Folgende Personen, die sich im Gebiet einer Vertragspartei gewöhnlich aufhalten, stehen gemäß Art. 4 Buchst. a SozSichAbk Türkei bei Anwendung der Rechtsvorschriften einer Vertragspartei deren Staatsangehörigen gleich: Staatsangehörige der anderen Vertragspartei.
Gemäß Art. 33 Abs. 1 Satz 1 SozSichAbk Türkei hat eine Person, die im Gebiet der einen Vertragspartei beschäftigt ist, für Kinder, die sich im Gebiet der anderen Vertragspartei gewöhnlich aufhalten, Anspruch auf Kindergeld, als hielten sich die Kinder gewöhnlich im Gebiet der ersten Vertragspartei auf. Bei Anwendung des Absatzes 1 des Art. 33 SozSichAbk Türkei wird bis zu einer späteren Regelung zwischen den Vertragsparteien der deutsche Träger den in Deutschland beschäftigten türkischen Arbeitnehmern für ihre im Heimatland lebenden Kinder Kindergeld zu den höchsten Sätzen gewähren, die Deutschland für Kinder in einem anderen Anwerbeland vereinbarungsgemäß ab 1. Januar 1975 zahlt (Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei).
b) Das Abkommen ist hiernach im Streitfall nicht einschlägig.
aa) Das SozSichAbk Türkei bezieht sich nach seinem Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e sachlich auf die deutschen Rechtsvorschriften über das Kindergeld für Arbeitnehmer. Dieses Abkommen gilt nach seinem Art. 3 Buchst. a unter anderem für die Staatsangehörigen der Vertragsparteien. Nach Art. 4 Buchst. a SozSichAbk Türkei stehen in persönlicher Hinsicht bei der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften die türkischen Staatsangehörigen den deutschen Staatsangehörigen gleich, wenn sie sich im Gebiet einer Vertragspartei gewöhnlich aufhalten.
bb) Der Kläger ist kein türkischer, sondern deutscher Staatsangehöriger. Er hält sich in Deutschland gewöhnlich auf und ist dort auch als Arbeitnehmer beschäftigt. Die deutschen Rechtsvorschriften (hier: §§ 62 ff. EStG) gelten für deutsche Staatsangehörige, die sich gewöhnlich in Deutschland aufhalten, kraft des Territorialitätsprinzips ohnehin. In Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer deutscher Staatsangehörigkeit sind demnach Inländer und müssen, was von Art. 4 Buchst. a SozSichAbk Türkei allein bezweckt wird, nicht einem Inländer bei der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften gleichgestellt werden (vgl. zum Gleichbehandlungsgrundsatz Denkschrift zum Entwurf eines Gesetzes zum SozSichAbk Türkei, BRDrucks 144/65).
Abstammung, Heimat, Herkunft oder Rasse sind keine Kriterien, die für die Anwendung der Abkommensregelungen relevant wären. Es kommt im Streitfall somit nur auf die Eigenschaft des Klägers als Arbeitnehmer deutscher Staatsangehörigkeit an.
cc) Aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck dieses Abkommens ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Anwendung deutscher Rechtsvorschriften auf in Deutschland lebende Arbeitnehmer deutscher Staatsangehörigkeit Regelungsgegenstand des Vertrags ist.
dd) Aus Art. 33 SozSichAbk Türkei folgt nichts anderes. Entgegen der Auffassung der Revision und der Vorinstanz wird durch diese Vorschrift nicht erst ein Kindergeldanspruch dem Grunde nach zugunsten einer "Person, die im Gebiet einer Vertragspartei beschäftigt ist", zur Entstehung gebracht und die Höhe des Anspruchs durch Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei für "türkische Arbeitnehmer" begrenzt. Der Anspruch auf Kindergeld wird vielmehr bereits von Art. 4 Buchst. a SozSichAbk Türkei begründet, wonach der türkische ‑‑nicht aber der deutsche‑‑ Staatsangehörige, der sich in Deutschland als Arbeitnehmer gewöhnlich aufhält, den diskriminierungsfreien Zugang zum deutschen Kindergeld erhält (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ vom 13. Dezember 2000 B 14 KG 1/00 R, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ‑‑NVwZ‑‑ 2001, Beilage Nr. I 6, 63). Da sich folglich die kindergeldrechtliche Gleichstellung des in Deutschland lebenden türkischen Arbeitnehmers mit einem inländischen Arbeitnehmer bereits aus Art. 4 Buchst. a SozSichAbk Türkei ergibt, stellt sich Art. 33 Abs. 1 SozSichAbk Türkei als Ausnahme vom Territorialitätsprinzip des § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG bzw. als Fiktion des Inlandsaufenthalts des Kindes dar (vgl. BSG-Urteile vom 7. September 1988 10 RKg 5/87, juris; vom 28. Februar 1985 10 RKg 7/84, SozR 6930, Art. 1 Nr. 1). Denn der deutsche Arbeitnehmer, der sich gewöhnlich in Deutschland aufhält (Inländer) und dem der türkische Arbeitnehmer grundsätzlich gleichgestellt werden soll, kann nach den deutschen Rechtsvorschriften kein Kindergeld für seine Kinder beanspruchen, die in der Türkei oder in einem anderen von § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht erfassten Land leben. Somit wird von Art. 33 Abs. 1 SozSichAbk Türkei allein das Wohnlandprinzip durchgesetzt. Die niedrigeren Sätze des Abkommenskindergeldes berücksichtigen, wie die insoweit vergleichbare Regelung in § 32 Abs. 6 Satz 4 EStG, die unterschiedlichen Unterhaltskosten in Deutschland einerseits und der Türkei andererseits. Die Höhe des Abkommenskindergeldes richtet sich nach den Verhältnissen des Landes, in dem das Kind sich gewöhnlich aufhält (BSG-Urteil in NVwZ 2001, Beilage Nr. I 6, 63). Auf der Grundlage des SozSichAbk Türkei kann für in der Türkei lebende Kinder somit generell kein Kindergeld in Höhe der Beträge des § 66 Abs. 1 EStG gezahlt werden.
3. Die europarechtlichen Einwendungen des Klägers sind unbegründet. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil in BFHE 230, 545, BFH/NV 2011, 116.
4. Soweit der Kläger eine Ungleichbehandlung i.S. des Art. 3 Abs. 1 GG rügt, weil dem Arbeitnehmer ausländischer Herkunft Kindergeld für seine in der Türkei lebenden Kinder verwehrt wird, verkennt er, dass der zum Vergleich herangezogenen Personengruppe der deutschen Arbeitnehmer für Auslandskinder ebenfalls grundsätzlich kein Kindergeld gewährt wird (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
5. Dass das FG dem Kläger das Abkommenskindergeld rechtsfehlerhaft zugesprochen hat, führt nicht zur Aufhebung des Urteils. Denn der BFH darf die Rechtsposition des Klägers im Vergleich zum angegriffenen Urteil nicht verschlechtern, wenn, wie vorliegend, kein anderer Beteiligter Revision eingelegt hat (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 121 Rz 1, m.w.N.).