BFH III. Senat
EStG § 31 S 3, EStG § 62 Abs 2, AO § 155 Abs 4, AO § 169 Abs 2 S 1 Nr 2, AO § 171 Abs 3, AuslG § 15, BGB § 133, BGB § 157
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 28. April 2010, Az: 14 K 104/09
Leitsätze
Auch wenn ein Kindergeldantrag keine Angaben zu den Zeiträumen enthält, für die Kindergeld begehrt wird, kann er dennoch aufgrund seines objektiven Erklärungsinhalts dahin auszulegen sein, dass die Festsetzung ab dem Monat beantragt wird, in dem erstmals die für nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer erforderlichen ausländerrechtlichen Voraussetzungen vorliegen .
Tatbestand
I.
Der aus Vietnam stammende Kläger und Revisionskläger (Kläger) war seit 17. November 1997 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis. Unter Verwendung des amtlichen Vordrucks, in dem keine Eintragungen für eine zeitliche Einschränkung vorgesehen sind, beantragte er unter dem Datum des 20. November 1997 die Festsetzung von Kindergeld für seine beiden Kinder. Dem Antrag war eine Kopie der kurz zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt (§ 15 des Ausländergesetzes 1990). Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) zahlte das Kindergeld aufgrund einer Kassenanordnung vom 7. Januar 1998 ab November 1997 aus. Einen ausdrücklichen Festsetzungsbescheid erließ sie nicht.
Mit Schreiben vom 20. Juli 2008 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6. Juli 2004 1 BvL 4/97 (BVerfGE 111, 160) die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum September 1993 bis November 1997. Das BVerfG hatte entschieden, dass die Regelung der Kindergeldberechtigung nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer in § 1 Abs. 3 des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2353), der mit der früheren einkommensteuerrechtlichen Regelung der Kindergeldberechtigung von Ausländern nahezu wortgleich war, verfassungswidrig sei. Der Kläger war der Ansicht, nach der gemäß § 52 Abs. 61a des Einkommensteuergesetzes (EStG) rückwirkend anzuwendenden Neuregelung des § 62 Abs. 2 EStG habe er auch für Zeiträume vor November 1997 einen Anspruch auf Kindergeld.
Die Familienkasse lehnte eine nachträgliche Festsetzung durch Bescheid vom 30. September 2008 ab, da nach ihrer Ansicht Festsetzungsverjährung eingetreten war. Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg, ebenso wenig die anschließend erhobene Klage, mit welcher der Kläger Kindergeld für den Zeitraum Mai bis Oktober 1997 begehrte. Das Finanzgericht (FG) war der Ansicht, der Kläger habe die Entscheidung der Familienkasse, Kindergeld ab November 1997 zu gewähren, nur dahin verstehen können, dass für den davor liegenden Zeitraum ein Anspruch zu verneinen sei.
Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, für den Zeitraum vor November 1997 liege keine bestandskräftige Ablehnung vor. Die Kindergeldzahlung sei durch eine bloße Kassenanordnung verfügt worden. Die Festsetzung sei in der Auszahlung zu sehen. Für den Zeitraum vor der Festsetzung gebe es keine Willensäußerung der Familienkasse. Insoweit sei auch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, da der im November 1997 gestellte Kindergeldantrag die Ablaufhemmung ausgelöst habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 30. September 2008 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 26. Februar 2009 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine beiden Kinder für den Zeitraum Mai 1997 bis Oktober 1997 zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, der Antrag sei aus der Sicht des Jahres 1997 zu beurteilen. Ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer sei damals nur dann kindergeldberechtigt gewesen, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen sei. Erst im November 1997 habe der Kläger eine solche Erlaubnis erhalten. Der Kläger sei gegen die Festsetzung ab November 1997 auch nicht mit dem Einspruch vorgegangen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 FGO). Der Anspruch auf Kindergeld war bereits verjährt, als der Kläger im Juli 2008 die Auszahlung für den Zeitraum Mai bis Oktober 1997 begehrte.
1. Das Kindergeld wird nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt. Auf Steuervergütungen sind nach § 155 Abs. 4 der Abgabenordnung (AO) die Vorschriften über die Steuerfestsetzung (§§ 155 bis 177 AO) sinngemäß anzuwenden, somit auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung nach §§ 169 bis 171 AO (vgl. Senatsurteil vom 18. Mai 2006 III R 80/04, BFHE 214, 1, BStBl II 2008, 371). Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) und war im Juli 2008, als der Kläger das Kindergeld für die Monate vor November 1997 begehrte, bereits abgelaufen.
2. Der Ablauf der Verjährungsfrist wurde nicht nach § 171 Abs. 3 AO durch den im November 1997 gestellten Kindergeldantrag gehemmt. Dieser Antrag war entgegen der Rechtsansicht des Klägers und des FG nicht dahin zu verstehen, dass der Kläger auch für vergangene Zeiträume Kindergeld begehrte.
a) Die Familienkassen haben grundsätzlich die Pflicht, einen Antrag auf Kindergeld, der keine zeitliche Einschränkung enthält, umfassend und damit auch für die Vergangenheit zu prüfen. In den von den Familienkassen verwendeten Vordrucken sind keine Eintragungen für eine zeitliche Konkretisierung vorgesehen, obwohl dies aus Gründen der Rechtsklarheit wünschenswert wäre. Ein zeitlich nicht beschränkter Antrag ist nach seinem objektiven Inhalt in der Regel dahin zu verstehen, dass die Festsetzung von Kindergeld für den längstmöglichen Zeitraum und somit auch für die Zeit vor der Antragstellung begehrt wird. Ein Bescheid, durch den ein zeitlich nicht eingeschränkter Antrag auf Kindergeld bestandskräftig abgelehnt wird, erfasst demnach nicht nur den Monat der Antragstellung und die darauffolgende Zeit bis zum Monat der Bekanntgabe der Ablehnungsentscheidung oder ggf. der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung (s. Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 71/10, BFH/NV 2012, 298, zur Veröffentlichung bestimmt), sondern auch den Zeitraum vor der Antragstellung (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 28. Januar 2004 VIII R 12/03, BFH/NV 2004, 786).
b) Gleichwohl kann im Einzelfall die Auslegung eines Kindergeldantrags hinsichtlich des Zeitraums, für den Kindergeld begehrt wird, erforderlich sein. Ein Kindergeldantrag ist als außerprozessuale empfangsbedürftige Verfahrenserklärung entsprechend §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches auszulegen, sofern er auslegungsbedürftig ist. Hiernach ist entscheidend, wie die Familienkasse als Erklärungsempfängerin einen Antrag nach seinem objektiven Erklärungswert verstehen musste. Dabei kann ggf. auch auf Umstände zurückgegriffen werden, die außerhalb der auszulegenden Erklärung liegen und einen Rückschluss auf den vom Antragsteller erklärten Willen erlauben (s. Senatsurteil vom 14. Juli 1989 III R 54/84, BFHE 158, 273, BStBl II 1989, 1024, zum Antrag auf Investitionszulage).
c) Das FG hat im Streitfall eine Auslegungsbedürftigkeit des im November 1997 gestellten Kindergeldantrags stillschweigend verneint, weil dieser nicht ausdrücklich zeitlich beschränkt war (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2004, 786). Eine Auslegung des Antrags durfte jedoch nicht unterbleiben. Da die tatsächlichen Feststellungen des FG hierfür ausreichen, kann der Senat als Revisionsgericht die Auslegung selbst vornehmen (s. BFH-Urteil vom 4. November 1997 VIII R 18/94, BFHE 184, 374, BStBl II 1999, 344, a.E.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 24, m.w.N.).
d) Der Kindergeldantrag konnte nach seinem eindeutigen Erklärungsinhalt nur dahin verstanden werden, dass der Kläger die Festsetzung ab dem Monat begehrte, in dem er erstmals die ausländerrechtlichen Voraussetzungen erfüllte, die nach der im Jahr 1997 geltenden Fassung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG vorliegen mussten. Hiernach hatte ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer nur dann einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis war. Der Kläger hatte seinem Kindergeldantrag eine Kopie der erst kurz zuvor erteilten Aufenthaltserlaubnis beigefügt. Damit wollte er offensichtlich gegenüber der Familienkasse zum Ausdruck bringen, dass nunmehr die ausländerrechtlichen Voraussetzungen für eine Kindergeldberechtigung erfüllt waren. Die Familienkasse hatte keinen Anhaltspunkt dafür, den Kindergeldantrag, auch wenn er keine ausdrückliche zeitliche Einschränkung enthielt, dahin auszulegen, dass auch für die Zeit vor November 1997 Kindergeld begehrt werden sollte.