BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 2, VermBG 5 § 10, VermBG 5 § 11, EStG § 2 Abs 2
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 15. Februar 2009, Az: 6 K 83/06
Leitsätze
1. Die Einkünfte und Bezüge des Kindes sind im Hinblick auf den Grenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) weder um die aus dem Arbeitslohn erbrachten Sparbeiträge des Kindes noch um die als Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit erfassten Arbeitgeberbeiträge zu den vermögenswirksamen Leistungen zu kürzen.
2. Prämien für eine private Haftpflichtversicherung können bei der Grenzbetragsberechnung ebenfalls nicht abgezogen werden.
Tatbestand
I.
Die im Dezember 1983 geborene Tochter des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) befand sich im gesamten Kalenderjahr 2003 in Ausbildung.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag auf Kindergeld für das Kalenderjahr 2003 ab und wies den Einspruch als unbegründet zurück, weil die Einkünfte der Tochter den Grenzbetrag von 7.188 € überschritten hätten. Die von der Tochter abgeführten vermögenswirksamen Leistungen, die Lohnsteuer in Höhe von 17 €, die Kirchensteuer in Höhe von 3,60 € und die Prämien für eine Privathaftpflichtversicherung (82,68 €), eine private Unfallversicherung (162,37 €) sowie eine Lebens- und Rentenversicherung (600 €) hatte sie dabei nicht abgezogen.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für die Monate Januar bis Dezember 2003 zu bewilligen. Das FG ermittelte die Einkünfte und Bezüge mit 7.101,97 €; über die vermögenswirksamen Leistungen des Arbeitgebers in Höhe von 159,48 € habe die Tochter nicht verfügen können, so dass diese für ihren Unterhalt nicht zur Verfügung gestanden hätten.
Die Familienkasse rügt die fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG). Vermögenswirksame Leistungen gehörten nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 11. Dezember 2001 VI R 113/99 (BFHE 198, 418, BStBl II 2002, 684) zu den Einkünften eines Kindes i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Da sie ‑‑anders als z.B. die Sozialversicherungsbeiträge‑‑ nicht unvermeidbar seien, könnten sie auch nicht nach den Grundsätzen des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) unberücksichtigt bleiben.
Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Falls der Senat der Rechtsauffassung des FG hinsichtlich der vermögenswirksamen Leistungen nicht folge, seien die Versicherungsbeiträge sowie die Lohn- und Kirchensteuer abzuziehen. Die Ausgestaltung des Grenzbetrages als Freigrenze ohne Übergangs- oder Härtefallregelung verstoße ebenso wie eine Nichtberücksichtigung von Versicherungsbeiträgen und Steuern gegen Art. 2 Abs. 1, Art. 6 und Art. 20 des Grundgesetzes (GG).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet, sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Nach § 32 Abs. 4 Satz 2, § 63 EStG wird im Streitjahr 2003 ein Kind ‑‑wie vorliegend die Tochter des Klägers‑‑ zwischen der Vollendung des 18. und des 27. Lebensjahres für die Festsetzung von Kindergeld nur dann berücksichtigt, wenn es zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmte oder geeignete Einkünfte und Bezüge von nicht mehr als 7.188 € im Kalenderjahr hat.
a) Der Begriff der Einkünfte entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (Senatsurteil vom 9. Juni 2011 III R 28/09, BFHE 234, 149, BFH/NV 2011, 1597).
b) Nach dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ist § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verfassungskonform dahin auszulegen, dass sich der Relativsatz "die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind" nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes bezieht. Nicht als Einkünfte anzusetzen sind deshalb Beträge, die ‑‑wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge‑‑ dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht zur Verfügung stehen und deshalb die Eltern finanziell nicht entlasten können (Senatsurteile vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530 ‑‑Beiträge eines beihilfeberechtigten Kindes für eine private Kranken- und Pflegeversicherung‑‑; vom 26. September 2007 III R 4/07, BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738 ‑‑Lohnsteuer, Kirchensteuer, Beiträge zu einer privaten Zusatzkrankenversicherung und einer privaten Rentenversicherung‑‑).
2. Vermögenswirksame Leistungen sind Geldleistungen, die der Arbeitgeber ‑‑hier der Ausbildungsbetrieb‑‑ für den Arbeitnehmer anlegt; sie sind insgesamt, d.h. auch soweit sie auf einem vom Arbeitgeber zusätzlich zum an sich geschuldeten Lohn gezahlten Zuschuss beruhen (§ 10 des Fünften Vermögensbildungsgesetzes ‑‑5. VermBG‑‑), arbeitsrechtlich Bestandteil des Lohns oder Gehalts, gehören gemäß § 2 Abs. 6 Satz 1 5. VermBG im Sinne der Sozialversicherung und des Dritten Buches Sozialgesetzbuch zum Arbeitsentgelt und steuerrechtlich zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (§ 19 EStG).
a) Zwischen den Beteiligten ist zu Recht unstreitig, dass die Einkünfte und Bezüge nicht um die aus dem Arbeitslohn erbrachten Sparbeiträge der Tochter (§ 11 5. VermBG) zu kürzen sind. Denn es besteht weder eine gesetzliche Verpflichtung zum vermögenswirksamen Sparen noch ist dieses für eine der gesetzlichen Sozialversicherung entsprechende existentielle Absicherung erforderlich (z.B. Senatsurteil in BFHE in 216, 225, BStBl II 2007, 530). Für die Entscheidung, ob Einkünfte dem Kind von Gesetzes wegen nicht zur Verfügung stehen, ist maßgeblich, ob sich das Kind der Zahlung aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung nicht entziehen kann und nicht, ob die Beträge vom Arbeitgeber einzubehalten sind (Senatsurteil vom 17. Juni 2010 III R 63/09, BFH/NV 2010, 2047 ‑‑Beiträge zur VBL-Pflichtversicherung‑‑).
b) Entgegen der Auffassung des FG sind die bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu erfassenden Arbeitgeberbeiträge auch in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) einzubeziehen.
aa) Ungeachtet der sich aus dem 5. VermBG oder dem Anlagevertrag ergebenden Sperrfrist ist es nicht im Sinne des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 ausgeschlossen, dass die Arbeitgeberbeiträge für Unterhalt und Ausbildung des Kindes verwendet werden können und deshalb die Eltern finanziell entlasten. Denn die Arbeitgeberbeiträge fließen dem Kind aufgrund seiner ‑‑freiwilligen‑‑ Entscheidung zum vermögenswirksamen Sparen zu und werden nicht aufgrund gesetzlicher Verpflichtung abgezogen.
Würden die Arbeitgeberbeiträge wegen der Sperrfrist nicht in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag einbezogen, so entstünde zudem eine mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarende Ungleichbehandlung mit den Fällen, in denen Kinder keinen Arbeitgeberbeitrag, aber dafür eine entsprechend höhere Ausbildungsvergütung erhalten und aufgrund eines Anlagevertrages mit einer vereinbarten Sperrfrist monatlich denselben Betrag sparen, wie er für die Tochter des Klägers aus ihrem Arbeitslohn zuzüglich dem Arbeitgeberbeitrag abgeführt wird. Denn bei diesen Kindern könnte der gesamte Sparbeitrag im Rahmen der Prüfung, ob die Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag überschreiten, nicht abgezogen werden (vgl. Senatsurteile in BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738 ‑‑private Rentenversicherung‑‑; vom 17. Juni 2010 III R 59/09, BFHE 230, 142, BStBl II 2011, 121 ‑‑VBL-Beiträge‑‑). Die Tochter des Klägers hat sich demgegenüber für ein durch zusätzliche Arbeitgeberbeiträge gefördertes vermögenswirksames Sparen entschieden, das sie als insgesamt vorteilhaft beurteilt hat.
bb) Die vom Arbeitgeber zusätzlich zu dem ansonsten geschuldeten Lohn erbrachten vermögenswirksamen Leistungen sind im Übrigen zwar ‑‑wie auch die Sparbeiträge des Arbeitnehmers‑‑ insofern "eingefroren", als der Arbeitnehmer verpflichtet ist, bis zum Ablauf der Sperrfrist nicht über die Anlage zu verfügen (z.B. § 4 Abs. 2, § 8 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 5. VermBG). Diese Verpflichtung entfällt aber unter besonderen Voraussetzungen wie z.B. einer Eheschließung, einer mehr als ein Jahr andauernden Arbeitslosigkeit oder einer Verwendung des Erlöses für die eigene Weiterbildung (z.B. § 4 Abs. 4, § 8 Abs. 3 5. VermBG). Durch die Sperrfrist wird zudem die Kündigung des Vertrages und die Verfügung über das Guthaben nicht ausgeschlossen; die vorzeitige Kündigung lässt lediglich den Anspruch auf Gewährung der Arbeitnehmer-Sparzulage entfallen (§ 13 Abs. 4, § 14 Abs. 5 5. VermBG). Daher ist es möglich, den Sparvertrag zu kündigen und die vermögenswirksamen Leistungen einschließlich der Arbeitgeberbeiträge für den Unterhalt und die Berufsausbildung des Einkünfte erzielenden Kindes zu verwenden.
cc) Dem steht das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 13. April 2005 XII ZR 273/02 (BGHZ 162, 384) nicht entgegen, wonach Zusatzleistungen des Arbeitgebers wegen ihrer Zweckgebundenheit für die Vermögensanlage bei der Unterhaltsbemessung anrechnungsfrei bleiben. Denn dies beruht auf besonderen Wertungen des Unterhaltsrechts, aufgrund derer z.B. auch aus überobligatorischer Tätigkeit erzielte oder die Lebensverhältnisse nicht prägende Einkünfte unberücksichtigt bleiben können, und die sich auf § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht übertragen lassen.
3. Die Aufwendungen der sozialversicherungspflichtigen Tochter für ihre Unfall-, Lebens- und Rentenversicherungsverträge können bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ebenfalls nicht abgezogen werden (Senatsurteile vom 29. Mai 2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664; vom 21. Oktober 2010 III R 18/10, BFH/NV 2011, 251).
4. Die Aufwendungen für die private Haftpflichtversicherung der Tochter sind ‑‑wie die Kosten für eine Kfz-Haftpflichtversicherung (Senatsurteil in BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738)‑‑ ebenfalls nicht abziehbar. Haftpflichtversicherungen gehören zwar zur Daseinsvorsorge, der Schutz gegen eine Belastung mit existenzgefährdenden Schadensersatzverpflichtungen wird jedoch auch durch §§ 850 ff. der Zivilprozessordnung gewährleistet. Da keine gesetzliche Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung besteht, liegt im fehlenden Abzug der Prämien kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
5. Die vom Arbeitslohn der Tochter einbehaltene Lohnsteuer und Kirchensteuer sind bei der Prüfung, ob ihre Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag überschreiten, nicht abzuziehen (Senatsurteil in BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738); im Übrigen würde die Tochter im Streitfall auch nach einem Abzug dieser Beträge den Grenzbetrag noch überschreiten.
6. Die gesetzliche Ausgestaltung des Grenzbetrages als Freigrenze ohne Übergangs- oder Härtefallregelung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (Senatsurteil vom 7. April 2011 III R 72/07, BFHE 233, 449).
7. Da die Arbeitgeberbeiträge zum vermögenswirksamen Sparen und die privaten Versicherungsaufwendungen nicht abzuziehen sind, überschreiten die Einkünfte und Bezüge der Tochter den im Streitjahr geltenden Jahresgrenzbetrag.